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Full text of "Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur"

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ZEITSCHRIFT 


KUH 


DEUTSCHES  ALTERTUM 


UND 


DEUTSCHE  UTTERATUR 


hekausgegew-.n 


VON 


EDWARD  SCHROEDER  UND  GUSTAV  ROETHE 


NEUNUNDVIERZIGSTER  BAND 

DER  NEUEN  FOLGE  SIEBENUNDDRE1SS1GSTER  BAND 


BERLIN 

W  KIDÄ1ANNSCHE    BUCHHANDLUNG 
1908. 


->'    La>- 


3003 

2 


INHALT. 

Seite 

Ulrich  von  Lichtenstein  als  lyriker,  von   Brecht 1 

Tübinger  Parzivalbraehstöck  von  Bohnenberger  und  Benz     ....  123 

Kin  Winsheke-frnijmeiit  der  Universitätsbibliothek  Münster,  von  Bömer  135 

Ein  Ulfilas-stempel,  von  Henning 146 

\Valtheriaii3,  von  Fischer 154 

Arolser  bruchstück  vom  i  buche  des  Passionais,  von  Schröder  .     .     .  I.V.) 

Eine  Vagantenliedersammlung  des  14  jh.s  in  Herdringen,  von  Bömer  .  161 

Ragnarök  in  der  Völuspa,  von  Niedner 239 

Ein  Göttinger  Wigaloisfragment,   von  Schaall's 298 

Winileodes,  von  Jostes       306 

Aisl.  edda  'urgrofsmulter',  von  Neckel 314 

Handgenial  und  Schwurbruderschaft,  von  Schönhoff 321 

Zu  s.  353 IF  (hantgemal  in  der  Kaiserchronik)  von  Schröder      .  3G2 

Mittelhochdeutsche  frauengebete  in  Upsala,  von  Psilander      ....  363 

Mitteldeutsche  wechselstrophen  und  Scherzlieder,  von  dems.       .     .     .  :'>"ti 

Posener  bruchstück  der  Ghristherre-chronik,  von  Wundrack   .     .     .     .  381 

Walthers  zweites  tagelied,    von   RMMeyer 386 

Zwei  ungedruckte  mystiker-reden,  von  Pahncke 395 

Über  Wolframs  ethik,  von  Ehrismann 405 

Arolser  bruchstück  des  Willehalm,  von  Schröder 466 

Parzival  399,  1,  von   Wilmanns 467 

Zum  Alexanderlied,  von  dems 468 

Nnnnenstöl  und   Brunhildenstuhl,  von  Henning 46!) 

Lückenbüfser  :  balkon,  von  Schröder 484 

Über  die  herkunft   und   bedeutung  der  german.  bildungssilben  ag,  ig 

und  Hk,  von  PSchmid 485 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  ALS  LYRIKER. 

Das  material  der  vorliegenden  Untersuchung  bilden  die 
5S  lieder  Ulrichs  von  Licntenslein ,  die  in  seinen  Frauendienst 
eingelegt  sind,  überliefert  sind  sie  in  der  einzigen  FD-hand- 
BCbrift  L  (in  München,  daher  auch  als  M  bezeichnet)  und  in  der 
grofsen  liederhandschrift  C.  C  gibt  die  Strophen  in  derselben 
reihenfolge  wie  L,  hat  also  höchst  wahrscheinlich  aus  einer 
FD-hs.  geschöpft l.  für  wenige  liederstrophen  (lied  xu)  kommen 
controllierend  die  Heidelberger  hs.  A  (357)  und  die  Naglerschen 
fragmenle  C"  in  belracht.  aufser  den  liedern  bah  ich  ge- 
legentlich Ulrichs  lyrisch- didaktische  3  hilchlein  herangezogen, 
die  ebenfalls  in  den  KD  eingefügt,  aber  nur  in  L  überliefert  sind. 

Ich  habe  den  teil  zu  gruncle  gelegt,  den  Lachmann  in 
seiner  gesamtausgabe  Ulrichs  (Berlin  1841)  gegeben  hat.  die  von 
Bechstein  in  seiner  commentierten  ausgäbe  des  FD  (Leipzig  188S) 
vorgeschlagenen  änderungen  sind  so  gut  wie  durchweg  zu  ver- 
werfen. 

Die  aufgäbe  der  Untersuchung  ist  die  erkenntnis  der  lyrik 
Ulrichs  in  ihrem  individuellen  kunstcharakter.  was  hat  er  für 
eine  Vorstellung  von  einem  gedichte  gehabt?  das  ist  die  general- 
frage, welcher  Stoff  erscheint  ihm  poetisch?  wie  sieht  er,  durch 
seine  natur  und  begabung  determiniert,  diesen  —  meist  unbe- 
wußt ausgewählten  —  sloff  an?  welche  formen  der  anordnung 
des  Stoffes,  welche  gedankenketten  und  empfindungsreihen  liegen 
ihm  am  nächsten  und  werden  allmählich  für  die  disponierung 
seiner  gedichte  mafsgebend?  welche  stilmitlcl  stelin  ihm  zu  ge- 
böte, um  durch  nilancierung  der  rede  und  durch  enlfallung  einer 
von  innen  heherschten ,  streng  stilisierten  dichtersprache  seine 
lieder  im  einzelnen  zu  dem  zu  machen,  was  sie  geworden  sind? 
nach    allem  :  wie    ist   die   menschlich-dichterische  persönlichkeit 

1  C  enthält  einige  lieder,  die  in  L  fehlen  :  xxxvn,  von  dem  in  L  nur 
Überschrift  und  erste  zeile  erhalten  sind,  stand  mit  auf  zwei  verloren 
gegangenen  blättern  der  hs. ,  die  aufserdem  den  anfang  der  Artusfahrt  von 
1 24t)  enthielten,  vgl.  Lachmanns  anm.  zu  FD  449,  12;  Bechstein  n  172  aom. 
lvii  und  lviii  dagegen  sind  in  L  ohne  äufsere  erkennbare  lücke  ausgefallen, 
während  die  vorläge  von  C  an  dieser  stelle  sie  bewahrt  haben  muss.  vgl. 
Lachmann  zu  582,  3  und  Bechstein  n  311  anm.  —  über  zwei  in  C  fehlende 
Strophen,  die  unrechtmäfsig  in  das  xxiv-lied  geraten  sind  (FD  421,17  f),  siehe 
unten  in  cap.  n  s.  38. 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  1 


2  BRECHT 

beschaffen,  die  sich  in  diesen  58  gedienten  aus  den  jähren  1222 
bis   1255  vor  uns  entwickelt? 

Die  Untersuchung  richtet  sich  demgemäfs  auf  die  motive,  die 
compositiou,  den  stil  des  poetischen  ausdrucks,  die  literarhisto- 
rische Stellung  Ulrichs  und  seinen  Charakter. 

Wenn  man  vom  ersten  und  letzten  teil  absieht,  die  vom  in- 
halt  ausgehn  und  zum  gehalt  zurückkehren,  ist  es  wesentlich  die 
innere  form  der  lyrik  Ulrichs,  mit  der  sich  die  gegenwärtige 
arbeit  beschäftigt,  daher  fehlen  hier  die  behandlung  der  metrik  l 
und  die  Untersuchung  der  spräche  als  solcher,  auch  die  schwie- 
rige frage  nach  den  gattungen  seiner  lyrik,  die  nur  im  zusammen- 
hange mit  metrischen  und  musikalischen  erwägungen  zu  lösen 
ist,  ist  nicht  beantwortet  worden,  nur  um  den  lyriker  Ulrich 
handelt  es  sich,  nicht  um  den  autobiographischen  erzähler;  daher 
sind  die  vielen  probleme,  die  sein  äufseres  leben  und  dessen  einr 
seitige  darstellung  im  FD  bietet2,  nur  insoweit  angerührt  worden, 
als  sie  für  die  entwicklung  seiner  lyrik  in  betracht  kommen. 

Fragen  der  einzelinterpretation  werden  bei  gelegenheit  im 
zusammenhange  der  Untersuchung  behandelt,  auch  hier  hat  Bech- 
steins  ausgäbe  nicht  geleistet  was  man  von  einer  commentierenden 
edition  erwarten  darf3,  eine  gesonderte  ausgäbe  der  lieder  würde 
dem  nicht  immer  gleichmäfsig  verständlichen  lyriker  erst  sein  volles 
recht  gewähren. 

ERSTES    CAPITEL. 

MOTIVE. 

i  Lieder  der  ersten  m  i  n  n  e. 

1222/23 — 1231/32. 

Die  ersten  lieder  zeigen  Ulrich  in  pagenhafter  Verehrung 
seiner  dame,  wie  es  bei  seiner  Jugend,  22  jähren,  nicht  anders 
zu   erwarten    ist  :  er   gelobt   sich  für  immer  ihrem  dienste.     am 

1  beträchtliche  vorarbeiten  sind  namentlich  von  Knorr  (Zu  Ulrich 
vLichtenstein  QF  ix,  Abschn.  n  2)  und  Weifsenfeis  (Der  daktylische  rhythmus 
bei  den  minnesängern  §§   103.  120.  415  uö.)  geliefert  worden. 

2  vgl.  v Falke  Geschichte  des  fürstl.  hauses  Liechtenstein  i,  abschn.  n. 
RBecker  Wahrheit  u.  dichtung  in  UvL.s  Frauendienst.  Schönbach  in  der  ADB, 
der  Zs.  26,  307  (T  und  in  den  Biographischen  blättern  n  15  ff. 

3  allerlei  vorschlage,  die  gröstenteils  widerherstellung  Lachmannscher 
laa.  gegenüber  Bechstein  bezwecken,  macht  (neben  vielen  sacheiklärungen) 
Schönbach  Zs.  f.  d.  ph.  28,  198 ff. 


ULIUCII  VON  LICHTENSTEIN  3 

schluss  des  ersten   lietles  fällt   schon  das  Blichwort,  das  bis  zum 
letzten   für  seine  lyrik   bezeichnend   bleibt: 

Höhen  muot  ich  von  ilir  hän  —  (18,  26). 
hochgefühl,  beschwingte  Beelenstimmung  ist  »bis  erste  und  das 
letzte,  das  er  von  der  miune  verlangt,  dessen  wert  zu  preisen  er 
niemals  müde  wird  (schon  im  in  liede  58,  30  widerum).  gleich- 
falls einen  bis  zuletzt  bedeutsamen  zug  bringt  das  n  lied  hinzu: 
lebhafte  Sinnlichkeit,  die  anmutig  verhüllend  den  letzten  wünsch 
ausspricht,  er  muss  den  tag  loben,  an  dem  er  einzig  die  ge- 
lieble sieht  :  wie  gern  priese  er  die  nacht!  '  sucht  er  hier  wie 
ein  erfahrener  zu  sprechen,  so  offenbart  das  m  lied  die  ganze 
kindlichkeit  seiner  höfischen  Verehrung: 

Dö  ich  erste  sin  gewan, 

dö  riet  mir  daz  herze  »tin, 

Ob  ich  immer  umrd  ein  man, 

so  solle  ich  ir  ze  dienste  sin  —  (58,  12), 
gerade  wie  das  in  seiner  jünglinghallen  Unsicherheit  liebenswür- 
dige i  büchlein  (47, 1  mine  tumben  jungen  tage;  47,6;  55,22).  jetzt 
ist  er  endlich  so  weit,  seinen  vorsalz  ausführen  zu  können,  und 
von  vornherein  zeigt  sich  seine  streng  aristokratische  auffassung: 
mit  aufserster  Verachtung  spricht  er  sich  gegen  die  niedere  minne 
aus,  und  in  deutlicher  anlehnuug  an  den  classiker  der  hohen 
minne,  Reinmar  den  alten,  preist  er  die  freudenreiche  sorge,  die 
sie  gebe  (59,  5). 

Diese  vier  productionen  sinil  die  ausbeute  seines  ersten 
dichterjahres  (1222/23).  drei  wichtige  elemente  seiner  lyrik  sind 
darin  schon  deutlich  ausgeprägt  vorhanden,  es  fehlt  noch  ein 
sehr  bedeutsames,  das  Verhältnis  zur  natur. 

Dies  bringt  das  nächste  jähr  1224,  in  dem  Ulrich  ein  früh- 
lingslied  und  ein  winterlied  gedichtet  hat.  beide  gehören  inhalt- 
lich und  formal  als  pendants  zusammen,  das  vierte  lied  —  es 
ist  das  berühmte  In  dem  wähle  süeze  dorne  —  geht  nach  alter 
weise  sogleich  von  der  ganz  kurzen  nalurschilderung  zu  dem  ihr 
parallelen  seelenzusland  des  dichters  über,  der  sich  glück  dazu 
wünscht,  wenigstens  die  hoffnung  auf  erhörung  sein  eigen  nennen 
zu  dürfen,    und  sich  davor   fürchtet,    vielleicht  aus   der   illusion 

1  vgl.  in  ßotenlaubens  iv  tageliede  slr.  2  vers  7: 
JSahl  git  senfte,  we  tuot  tac. 
(Bartsch  Liederdichter  s.  125  v.  61.     .MSH  i  32). 


4  BRECHT 

gerissen  zu  werden;  der  mai  gilt  ihm  nichts  ohne  die  liebe  guole. 
in  der  tat  verbittet  sich  schon  zu  anfaug  des  winters  seine  dame 
die  hotensendungen,  durch  die  er  ihr  bisher  seine  lieder  hat  zu- 
kommen lasseu  (FD  102,  22  f).  traurig  reitet  er  weg  und  dichtet 
das  fünfte  lied,  in  dem  er  den  nahenden  winter  verflucht,  aber 
die  hoffnung  noch  nicht  aufgibt,  bekümmert  fragt  er: 
Vrowe,  liebiu  vrowe  min, 
warwnbe  bistu  mir  gehaz? 
und  erinnert  sie  an  seine  stete  Verehrung  von  kindesbeinen  an. 
Im  sommer  des  nächsten  Jahres  (1225)  reitet  er  von  einem 
Brixener  turnier  mit  zerstofsenem  finger  zu  einem  arzte  nach 
Bozen,  im  saltel  tröstet  er  sich  durch  ein  lied  (vi),  in  dem  er 
sein  misgeschick  beklagt  und  um  Gottes  willen  —  ein  ihm  stets 
naheliegender  zug  —  um  erhörung  fleht,  sein  leid  hindert  ihn 
jedoch  nicht,  auf  dem  krankenlager  in  Bozen  einer  unbekannten 
dame  zuliebe,  die  ihm  leclüre  (vier  büechelhi)  zusendet,  einen 
deutschen  text  zu  einer  von  ihr  ebenfalls  überschickten  auslän- 
dischen (wol  italienischen)  melodie  zu  dichten,  der  im  lebhaftesten 
allegro,  fast  ausgelassen,  sein  liebliugsthema,  lebensfreude  durch 
frauenliebe,  behandelt  (vn).  endlich  treibt  er  auch  wider  einen 
boten  auf,  den  er  an  seine  herrin  sendet,  mit  der  mitteilung,  er 
habe  ihretwegen  einen  finger  verloren,  und  mit  einem  ihrer 
standhaften  Weigerung  gegenüber  recht  unverschämten,  aber  in 
seiner  leidenschaftlichkeit  starken  liede  (vin).  er  habe  sie  ja  schon 
längst  gefangen  und  in  den  kerker  seines  herzens  gelegt,  dort 
behandle  er  sie,  wie  ein  ritler  seinen  vornehmen  gefangenen  be- 
handelt, zwei  andere  gefangene  liegen  da  mit  ihr  zusammen,  sein 
smerze  und  sein  klagende  leit.  nur  wenn  sie  lösegeld  bezahlt,  hat  sie 
aussieht,  mit  diesen  beiden  zusammen  freizukommen;  aber  nicht 
silber  unde  golt  kann  sie  erlösen:  ich  wil  nihl  wan  ir  minnen 
soll  (vm).  diese  deutliche  spräche  hat  die  entgegengesetzte  wür 
kung  :  mit  zorn  weist  die  dame  den  boten  von  sich. 

Er  ist  weit  entfernt,  sich  dadurch  beirren  zu  lassen,  auf 
dem  rückwege  von  Born,  wo  er  (im  winter  1225/26)  mit  dem 
knappen  der  ihm  als  böte  dient  zwei  monate  geweilt  hat,  singt 
er  ihr  widerum  ein  lied,  dem  man  anmerkt,  wie  recht  ihm  ihre 
sprödigkeit  kommt,  um  mit  seiner  unerschütterlichen  treue  zu 
glänzen,  an  den  bei  den  minnesingern  obligaten  gedankeu,  der 
mai  tröste  alle,  nur  nicht  den  liebeskranken  dichter,   knüpft  er 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  5 

die  nochmalige  dringende  bitle,  die  litrrin  möge  sieh  besser  be- 
denken, der  fromme  schluss  verrät,  auf  welcher  fahrt  er  sich 
befindet  :  auf  'Gottes  wege'  solle  man  frauenlob  nicht  siegen, 
heifst  es;  so  wendet  er  sich  denn  zum  gebet  und  empfiehlt  sie 
der  mutter  Gottes  (ix,  gedichtet  nach  19.  4.  26).  aber  auch  dies 
lied  hat  ebenso  wenig  erfolg  wie  ein  im  herbst  desselben  Jahres 
gedichtetes,  ein  dialog  zwischen  Ulrich  und  der  frau  Minne,  die 
den  klagenden  beschwichtigt,  ermahnt  und  vertrustet  (x;  frau 
Minne  schon   114,  15f,  in  vn,  erwähnt). 

Diese  poetische  Vorstellung  muss  in  Ulrich  volle  dreiviertel 
jähre  lang  sehr  lebendig  gewesen  sein,  noch  im  herbst  1226 
sendet  er  seiner  dame  ein  biichlein  (das  zweite,  FD  s.  142),  das 
wider  um  einen  dialog  zwischen  ihm  und  frau  Minne  darstellt  und 
im  wesentlichen  gedankengang  und  gesprächsverlauf  des  vorher- 
gehnden  liedes  widerholt  (vgl.  bes.  146,  31  — 148,  2  mit  lied  x, 
str.  4  u.  6).  am  1  juni  dichtet  er  eine  singweise  (xi),  deren  an- 
fang  sich  unmittelbar  auf  das  x  lied  zurückbezieht.: 
Vil  salic  Minne,  hab  ich  nu  getdn 
Den  dienest  den  din  gewalt  mir  gebot  — . 
zwischen  dem  zweiten  biichlein  und  dem  xi  liede  ligt  Ulrichs 
ritterfabrt  von  Mestre  bis  ins  Mährische  (25  märz  bis  26  mai  1227), 
bei  der  er  als  frau  Venus  verkleidet  speerebrechend  zur  ehre 
seiner  herrin  durchs  land  zog.  der  einfall  muss  wol  mit  den 
gediebten  die  seine  ausfiihrung  umgeben,  zusammengebracht 
werden,  jedoch  ist  kaum  anzunehmen,  dass  der  gedanke  der 
Venusfahrt  schon  lange  in  ihm  vorgespukt  habe;  wol  aber  ist 
einem  so  phantastischen  köpfe  zuzutrauen,  dass  er  eine  solche 
idee  fasste,  wenn  er  einmal  sein  innenleben  einige  zeit  intensiv 
auf  die  personification  der  frau  Minne  (vgl.  lied  x  u.  biichlein  n) 
gerichtet  hatte1,  hatte  ihm  im  x  liede  frau  Minne  das  klagen 
verwiesen,  da  sein  bisheriges  ausharren  noch  nicht  der  rede  wert 
sei,  und  ihn  zu  weiterer  geduldiger  Pflichterfüllung  ermahnt,  die 
ihm  noch  den  erhofften  lohn  einbringen  werde,  so  fordert  Ulricb 
jetzt,  nach  der  Venusfahrf,  im  xi  liede  nachdrücklich  diesen  lohn 
von  ihr,  da  er  alles  getan  habe,  was  sie  verlangte,  gleichzeitig 
wendet  er  sich  an  alle  frauen,  deren  sache  er  soeben  —  nämlich 
auf  der  Venusfahrt  —  vertreten  habe,  sie  möchten  ihm  das  gemüt 


(Reinm 


1  lvro  Minne  und   vro  Venus   wurden   als  identisch   gefühlt'   Roethe   I 
nar  vZweter  s.  215,  mit  beispielen). 


6  BRECHT 

seiner  herrin  geneigt  machen,  von  der  er  niemals  zu  lassen  sich 
fest  vorgenommen  habe,  er  fasst  hier  zum  ersten  male  echt  höfisch 
seine  liebesangelegenheit  als  sache  des  ganzen  weihlichen  ge- 
schlechtes auf,  dessen  corpsgeist  schon  seine  erhörung  erheische: 
auch  dies  offenbar  eine  nachwürkung  der  Venusfahrt,  die  allen 
miunegewährenden  frauen  zur  ehre  ergangen  war  (vgl.  FD  163 
zeile  4 — 10);  der  hegriff  aller  guoten  wibe  (FD  164  zeile  13)  war 
ihm  von  daher  geläufig. 

Dies  lied  macht  nach  Ulrichs  Schilderung  (FD  323,  8(T)  nun 
doch  eiudruck  auf  die  herrin,  sodass  sie  ihn  zu  sehen  hegehrt, 
und  ihn,  als  armen  aussätzigen  verkleidet,  auf  ihre  hurg  lädt, 
was  ihm  dort  alles  zuslöfst  (14.  6.  27.) ,  wird  hier  als  hekannt 
vorausgesetzt,  wie  weit  auch  die  romanhafte  einkleidung  gehn 
möge,  der  kern  der  erzählung,  eine  raffinierte  ahvveisung,  bleibt 
beslehn.  als  bald  darauf  trotzdem  wider  eine  anknüpfung  ge- 
lungen ist,  und  die  dame  als  weiteren  treuebeweis  —  in  Wahrheit 
vvol,  um  ihn  loszuwerden  —  eine  kreuzfahrt  von  ihm  verlangt, 
setzt  er  sich  hin  (381,  5 ff)  und  verfasst  wider  ein  (drittes)  büch- 
lein,  und  ein  lied,  die  er  zusammen  an  sie  gelangen  lässt.  beide 
gehören  in  der  tat  eng  zusammen,  mit  den  drei  letzten  fröhlichen 
versen  des  liedes  schliefst  auch  das  büchlein,  gedanken  des  liedes 
sind  mehrfach  im  büchlein  näher  ausgeführt,  spielende  Wendungen 
werden  widerholt 1.  freudigen  herzens  wünscht  er  sich  selbst 
glück  zu  seinem  ausharren  trotz  aller  abweisungen,  versichert 
von  neuem  seine  treue  und  lässt  die  hoffnung  nicht  fahren. 

Trotz  allen  tiraden  bemerkt  mau  aber  von  jetzt  an  sehr 
deutlich,  ohne  dass  Ulrich  es  im  märe  irgendwie  ausspräche,  dass 

1  394,  26  Min  hende  ich  valde ,  vgl.  im  Büchlein  389,  5  Min  hende 
valde  iu,  vrowe  min,  ich  — ;  395,  1  Und  also  griieze  vgl.  393,  2 — 23  :  ez 
ist  ein  tugentlicher  gruoz  —  den  er  mit  dem  küsse  als  ihren  segen  für 
die  kreuzfahrt  ersehnt,  die  ehrenden  attribute,  mit  denen  er  höchst  reizvoll 
die  fünf  Strophenschlüsse  seines  liedes  ziert,  kehren  viermal,  doch  in  per- 
mutationen,  im  büchlein  als  abschlüsse  von  Sinnesabschnitten  wider,  die 
attribute  der  fünften  Strophe  bringt  er,  indem  er  am  schluss  des  büchleins 
die  drei  schlussverse  des  liedes  ganz  widerholt.  also  :  384,  18  si  liebe,  si 
reine,  si  here  :  394,  20  si  reine,  si  scelic,  si  here.  —  386,  21  si  liebe,  si 
reine,  si  guote  :  394,  25  si  liebe,  si  aotc.  —  389,  4  si  liebe,  si  reine,  si 
siieze  :  395,  3  si  liebe,  si  siieze.  —  391,  19  st  liebe,  si  guote,  si  reine 
:  395,  8  si  guote,  si  liebe,  si  reine.  —  394,  7  si  schäme,  si  cläre  :  395,  13 
si  schcene,  si  cläre.     (394,  5 — 7  =  395,  11 — 13). 


ULIWCIl  VON  L1CHTEINSTE1N  7 

sein    heroischer  eifer   der  herrio  zu  dienen    und   Beine   böflft  hi 
Deigung  allmählich  nachlassen. 

Im  winler  1227  auf  1228  findet  ihn  sein  böte,  der  von  der 
geliebten  zurückkommt,  unerwarteterweise  in  Wim,  wo  er  sich 
in  vornehmer  damengesellschafl  bewegt  dl»  3!)t>,  7(T);  und  die  ihm 
sehr  erfreuliche  botschafl,  die  dame  wolle  ihn  Behen,  hält  ihn 
nicht  ab,  von  Wien  ;his  frowcu  sehen  in  diu  laut  zu  reiten,  nur 
aus  diesen  erlebnissen  erklärt  sich  die  eigentümliche  vierte  Strophe 
des  bald  darauf  im  früliling  122s  lilr  die  herrin  gedichteten 
mailiedes: 

Ob  ich   nilit  geniezen   kan 

dflner  gilete  und  der  langen  statte  min, 

So  lä  mich  vil  sehenden  man 

der  geniezen  den  ich  durch  den  willen  dtn 

Sol  und  muoz  yedienen  vil. 

daz   sint    eil  in    guotiu   tcip,    der   Hp    ich    immer 

e'ren  wil, 
und  die  folgende  schlussslrophe,  in  der  der  dame  die  güle  aller 
guolen  wibe  als  vorbild  liiu gestellt  wird;  ihnen  zuliebe  möge  sie 
ihn  erhören,  hiermit  wird  das  motiv  des  xr  liedes,  dessen  ent- 
Btehung  ich  vorhin  erklärt  zu  haben  glaube,  mit  stärkerer  be- 
lonung  wider  aufgenommen;  es  entwickelt  sich  von  nun  an  in 
fast  allen  folgenden  liedern  seines  ersten  minneverhältnisses,  wie 
denn  die  lieder  bis  zum  herbste  1231  untereinander  und  mit 
seinem  leben  in  enger  beziehung  slebn. 

Auf  sein  gleichzeitiges  höfisches  leben,  dessen  alleiniger  in- 
balt  in  fröhlichen  lurnieren  und  in  der  höfischen  Unterhaltung 
mit  frauen  bestellt,  spielt  unverkennbar  sogleich  der  anfang  des 
nächsten  liedes,  einer  lanzweise  (xiv),  wieder  an: 

Oae  daz  ich  bi  den  wolgemuoten  (nämlich  d.  gesellscbafl) 

also  lange  muoz  beliben  ungemuot, 
sowie  der  scbluss  sieb  widerum  an  seine  jetzige  Umgebung,  guotiu 
wip,  wendet,  vor  der  Ungnade  seiner  herrin  llüchlet  er  sieb 
trotzig-resigniert  in  das  ihr  unzugängliche  reich  des  Wunsches. 
was  er  sieb  im  gründe  von  ihr  wünscht,  verschweigt  er  :  nur 
ihren  kuss  und  ihren  grufs  wünscht  er  sieb  (die  balle  er  schon 
im  in  büchlein  s.  392,  221'  ersehnt),  und  dass  sie  ihm  endlich  ins 
beiz  seben  möge,  zwar  gibt  er  sieb  (letzte  Strophe)  den  anschein, 
als  ob  er  immer  noch    an  ihre  gute   glaube,   aber  schon  kommt 


8  BRECHT 

ihm  der  wünsch,  anderswo  Iröst  für  truren  zu  suchen;  hastig 
unterdrückt  er  ihn  (401,  9  f).  doch  schon  im  nächsten  liede  (xv, 
frühling  1229)  ist  er  wider  da  (403,  l)1.  es  hat  seine  cavaliers- 
eitelkeit  verletzt,  dass  man  ihn  nicht  mehr  so  munter  (fruot  402,28) 
findet  wie  vordem,  sein  ewiges  klagen  beginnt  zu  langweilen,  da 
ihm  bezeichnenderweise  alles  daran  ligt,  froh  zu  erscheinen,  so 
kann  er  den  gedanken,  sich  ein  ander  Uz  zu  suchen,  nicht  mehr 
so  ganz  verwerfen,  natürlich  sind  es  wider  die  damen  der  ge- 
sellschaft  (ir  guolen  reiniu  wip),  denen  er  diesen  entschluss  zu 
billiger  begutachtung  vorlegt,  ihnen  ist  auch  das  feurig-kräftige 
marschlied  (uzreise,  xvi)  gewidmet,  das  in  denselben  sommer  fällt 
(str.  5).  erst  in  den  beiden  letzten  Strophen  gedenkt  er  resigniert 
seiner  unbarmherzigen  herrin,  gegen  die  er  sich  mit  der  gedul- 
digen treue  eines  guten  gewissens  wappnet,  noch  einmal  flammt 
seine  empfindung  für  sie  auf  (xvn,  frühling  1230),  der  treu- 
geblieben zu  sein  er  sich  selbst  beglückwünscht  (s.  o.  xn).  aber 
schon  die  beiden  nächsten,  eng  zusammengehörigen  lieder  (xvm 
u.  xix,  herbst  1230,  frühjahr  1231)  zeigen  ihn  wider  in  der 
atmosphäre  ganz  allgemein  gesellschaftlicher  frauenverehrung. 
beide  preisen  in  paradoxer  weise  die  sonst  verhasste  huote  und 
die  merkcere,  indem  sie  diese  so  geläufigen  höfischen  begriffe,  die 
Ulrich  bei  seiner  starken  geselligen  betätigung  gerade  in  jenen  jähren 
besonders  nahe  liegen  mochten  2,  spielend  verändern  :  das  merken 
wird  zum  interessiertsein,  wie  es  den  frauenkenner,  die  männer- 
kennerin  auszeichnet,  huote  zur  vorsichtigen  gesellschaftlichen 
haltung  der  frau  (huote  vereinzelt  schon  126,  28 — 30,  vin).  seiner 
dame  gelten  im  xvm  liede  nur  die  beiden  letzten,  die  nutzanwen- 

1  hier  ligt  eine  art  disharmonie  zwischen  Med  und  später  gedichtetem 
märe  vor.  402,  12 — 15  gibt  Ulrich  an,  in  jenem  sommer  immer  hohes 
mutes  gewesen  zu  sein  :  aber  gleich  die  erste  Strophe  des  folgenden  liedes 
(xv)  zeigt  ihn  klagend,  der  weitere  verlauf  und  das  xvi  lied  nicht  über- 
mäfsig  fröhlich,  der  grund  ist  klar  :  er  will  damit  renommieren,  wie  er 
durch  den  blofsen  vorsalz,  wider  uro  zu  werden  (xv,  str.  2),  es  in  der  tat 
geworden  sei.  dem  entspricht  die  gewollte  fröhlichkeit  der  lieder  xvu, 
xviii,  xix  (1230  u.  31).  es  gibt  eben  nichts  weniger  cavaliermäfsiges  als 
duckmäuserei.  dies  wollte  er,  als  er  später  den  FD  dictierte,  noch  schärfer 
hervortreten  lassen,  als  es  lied  xv  str.  2  tut.  grund  zu  ernsthaftem  ver- 
dacht gegen  die  sachliche  und  chronologische  richtigkeit  seiner  erzählung 
seh  ich  nicht.  —  anstofs  hat  auch  Bechstein  n  119  anm.  genommen. 

3  möglicherweise  hat  ihn  auch  die  ausgesprochene  furcht  der  dame 
vor  dem  merken  396,  1  angeregt. 


ULIUCII  VON  LICHTENSTEIN  9 

dllDg  auf  sie  bringenden  Strophen,  das  xix.  das  die  gesellschaft- 
lichen Spitzfindigkeiten  des  vorhergehnden  ziemlich  trivial  wider- 
holt, ist  directer  an  sie  gerichtet,  er  wirbt  noch  einmal  —  aber 
in  der  letzten  Strophe  verspricht  er  aller  weit  kundzutun,  wie 
alle  freude  für  ihn  zu  ende  sei,  wenn  sie  ihn  zwänge,  sich  ihrer 
ininne  zu  entschlagen. 

Bald  danach  tritt  die  lange  drohende  Wendung  ein,  im 
herbst  1231  verlä'sst  der  bis  zur  Unvernunft  treue  rilter  nach 
dreizehnjähriger  vergeblicher  Werbung  den  dienst  der  herrin.  was 
ihn  dazu  bewogen  hat,  deutet  er  nur  dunkel  an  (411,  Uff);  er 
hatte  wol  seine  gründe  dazu,  es  kann  nicht  ein  einzelnes  ver- 
gehen, sondern  muss  ein  widerholtes  oder  fortgesetztes  unrecht 
gewesen  sein,  was  sie  ihm  antat  (aao.  und  413,  lOff.  25) ',  eine 
wider  besseres  wissen  böslich  aufrecht  erhaltene  Verleumdung 
oder  dergleichen. 

Der  dichterische  ertrag  dieses  Umschwunges  sind  sieben 
scheltlieder,  die  Ulrich  aus  dem  lebhaften  gefühl  der  erlittenen 
krankung  heraus  vom  herbst  1231  bis  zum  frühjahr  1232  ge- 
dichtet hat-,    sehr  natürlicherweise  sind  die  ersten  die  schärferen, 

1  hiernach  sind  die  ansichten  von  Becker  und  von  Bechstein  zu 
berichtigen,  die  verse,  die  Bechstein  (s.  xxix)  auf  einen  zornigen  wortstreit 
zwischen  beiden  deutet,  413,  17 — 27,  beziehen  sich  vielmehr  auf  die  schelt- 
lieder, die  U.  soeben  mitzuteilen  sich  anschickt  und  die  er  jetzt  bereut: 
413,  21  an  disem  buoch.  zum  beweise  diene  ferner  der  reuige  ausruf 
415,30—41(3,  11.  Beckers  auffassung  (Wahrheit  u.  dichtung  in  UvL.s  FD 
s.  89  IT)  wird  der  Wahrheit  näher  kommen,  wenn  auch  127,  18  —  voraus- 
gesetzt, dass  man  diese  stelle  überhaupt  noch  hier  heranziehen  darf — und 
411,  17  nicht  gerade  so  handgreiflich  interpretiert  zu  werden  brauchen,  das 
swache  leit  kann  auch  ein  erniedrigender  klatsch  gewesen  sein.  Schön- 
bachs ansieht  (Biogr.  bll.  n  s.  31)  :  'U.  kam  dahinter,  dass  die  herrin  einen 
andern  bevorzugte'  passt  gar  nicht  zu  den  textstelleu.  seinen  folgenden 
satz  versteh  ich  nicht;  wo  handelt  es  sich  denn  beim  ersten  minneverhältnis 
um  einen  'glücklichen  ausgang?'  —  viell.  ist  statt  swachez  /.  411,  17  sivwrez 
leit  zu  lesen,  die  Verbindung  swachez  leit  mit  der  hier  geforderten 
proleptischen  bedeutung  des  adj.  (noch  dazu  stark  betont  :  ein  so  siv.  /.) 
scheint  sonst  nicht  belegt.  W'igalois  795  :  swenne  dehein  swachez  leit 
truoble  ir  feindete  hat  eine  andere  bedeutung.  der  folgende  vers  411,  18 
passt  besser  zu  swwrez;  in  der  Schrift  sind  beide  Wörter  leicht  zu  ver- 
wechseln. 

a  Ulrich  selbst  rechnet  xx  — xxvi  als  scheltlieder,  vgl.  427,  17  f;  xxiv 
—xxvi  sind  aber  eigentlich  keine  scheltlieder  mehr,  da  in  ihnen  das  positive 
des  frauendienstes  weit  überwiegt. 


10  BRECHT 

in  den  späteren  überwigt  die  Stilisierung  in  die  verallgemeinernde 
reflexion',  wodurch  die  persönliche  gehässigkeit  gemildert  wird. 
Im  ersten  'klageliede'  (xx)  mäfsigt  er  sich  zwar  noch,  mit 
merklicher  anstrengung.  es  ist  gewissermafsen  erst  die  ofücielle 
aukündigung  der  drohenden  feindschaft,  in  form  einer  rechts- 
klage vor  dem  gerichtshofe  aller  trauen  —  das  alte  motiv,  sich 
an  die  gesamtheit  zu  wenden  K  in  nachdrücklicher  widerholung 
klagt  er  seine  hisherige  herrin  schäches  tinde  roubes  an.  was  sie 
ihm  geraubt  hat,  ist  seine  lebensfreude  in  der  ganzen  schier  end- 
losen zeit,  die  er  ihrem  diensle  gewidmet  hat2,  mehr  von  seinem 
leide  zu  sagen  geniert  er  sich;  auch  will  er  sich  als  cavalier 
nicht  vom  zorn  übernehmen  lassen,  so  hält  er  denn  noch  den 
vermiltlungsweg  offen,  falls  sich  jemand  findet,  der  ihn  beschreiten 
will ;  sonst  droht  er  mit  dem  schlimmsten 3.  da  die  dame  ihr 
verhalten  nicht  ändert  (413,  10),  sieht  er  sich  genötigt,  seine 
drohungen  wahr  zu  machen,  viel  energischer  beklagt  ein  zweites 
klagelied  (xxi)  den  Verlust  seines  lebensglückes  und  weist  der 
vrowe  alle  schuld  daran  zu.  hätte  er  doch  noch  die  illusion  der 
hoffnungl  aber  auch  die  ist  hin.  wie  gut  war  die  herrin,  als 
er  sie  kennen  lernte  1  inzwischen  hat  sie  sich  ganz  verändert4, 
in  der  äufseren  haltung  ungleich  ruhiger,  im  inhalt  das  schärfste 
von  allen    ist   das   folgende   (xxn).     mit  einer  sachlichen  minne- 

1  Vgl.    XI.    XIII.    XIV.    XV. 

2  vgl.  schon  xiv  399,  13  :  St  nimt  mir  wende,  diu  mich  sorgen  solle 
machen  vri.  nu  läls  also  rouben  — .  ähnlich  wie  Ulrich  klagt  Walther 
53,  1  ff  wesentlich  über  die  verlorene  zeit,  in  der  form  wol  beeinflusst  durch 
Morungen  MFr.  128,  15  ff  (citat  von  Wilmanns). 

3  vgl.  das  vierte  lied  des  von  Buwenburg,  str.  3  : 

iuonl  ir  niht  den  willen  min, 
ich  sprich  iu  ein  wörtelin, 
dar  an  hanget  siuften  unde  weinen. 
(Bartsch  Die  Schweizer  minnesänger  s.  260). 

4  gerade  so  macht  es  Buwenburg  aao.  st.  2  : 

Ich  wände  ein  wip  von  Iper  haben  funden, 
dö  ich  erst  ersach  die  minneclichen  : 
nü  swachet  si  an  eren  zallen  stunden  usw. 
auch  Neidhart  findet,    dass   sich   die  geliebte   in    der  Zwischenzeit  verkeret 
habe  (82,  25 ff),     er  schimpft  unflätig  auf  sie,   viel  stärker  als  Ulrich  —  es 
ist  nämlich  nur  eine  allegorische  figur,  die  frau  Werltsüeze  (82,  15  ff,  erster 
Werllsuezenton;  vgl.  RMMeyer  Die  reihenfolge  der  lieder  Neidbarts  s.  147). 
—  gedankengang  und  diction  dieses  liedes  erinnern  lebhaft  an  Walther. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  n 

theoretischen  auseinandersetzt! Dg,  dem  lobe  widerum  aller  guoten 
wibe,  beginnt  es,  scheidet  aber  unerwartet  die  falschen  von  den 
guten  und  macht  sofort  die  rückhaltloseste  nutzanwenduog  aul 
die  verlassene  dame.  kein  ausdruck  ist  ihm  der  schamlosen  gegen 
über,  deren  wille  daber  fuhr  wie  aprilwetler,  stark  genug,  aber 
der  schluss  halt  sich  wider  objecliv,  indem  er  zu  dem  im  anlang 
gemachten  unterschiede  zurückkehrt;  unrecht  tut,  wer  zwischen 
trauen  nicht  unterscheidet '.  die  beruhigung  schreitet  im  vierten 
schellliede  (xxiii)  fort,  hier  sind  von  fünf  Strophen  nur  die  zwei 
letzten  seinem  Unglück  gewidmet,  auch  in  ihnen  trauert  er  mehr 
als  er  schilt,  die  drei  ersten  tun  in  der  sentenziösen  weise  von 
minnereden  dar,  dass  triuwe  und  stiele  unbedingt  zur  minne  ge- 
hören :  woraus  sich  das  folgende  widerum  als  ausgesprochen 
(419,  22)  persönliche  nutzanwendung  ergibt. 

Nach  kurzer  zeit  kann  der  von  natur  mit  unvertilgbarem 
luslbedürfnis  ausgestaltete  Sanguiniker  die  catonische  miene  und 
das  leben  ohne  minne  nicht  mehr  aushalten,  aus  wintersnot  und 
altmachender  sorge  sieht  er  keinen  andern  ausweg  als  durch 
wibes  güete  (xxiv,  str.  4)  :  irgendwo  muss  es  doch  noch  guotiu 
xcip  geben  !  der  wünsch  eines  zweiten  minneverhällnisses  spricht 
sich  offen  aus.  das  ganze  lied  ist  nur  ein  vorklaug  jener  wdn- 
wisen,  denen  —  wo  ein  wille  ist  auch  ein  weg  —  die  reale 
zweite  minne  bald  folgen  sollte,  womöglich  noch  deutlicher  er- 
scheint das  bedürfnis  Ulrichs  in  seinem  leiche  (xxv),  den  er  in 
derselben  zeit  gesungen  hat  (winter  1231/32),  und  der  mit  dem 
letzten  liede  in  engster  beziehung  steht,  hat  er  nämlich  in  xxiv 
seinen  festen  vorsatz  ausgesprochen,  sich  wider  der  freude  (zb. 
str.  2)  zuzuwenden,  so  rät  er  dies  im  leiche,  gleich  zu  aufang, 
nun  allen  mäunern  (werende  freude  423,  3).  und  er  hat  sich  schon 
so  weit  über  sein  misgeschick  und  seine  rachegefühle  erhoben, 
dass  er  als  einzige  quelle  jener  freude  nur  wider  anraten  kann  — 
guotiu  wip  zu  miunen.    der  gesamte  erste  teil  des  leichs  enthalt 

1  Knorr  (s.  44 ß)  conslatiert  entlehnung  dieses  niotivs  von  Walther 
58,  35.  48,  35.  —  vielleicht  hat  es  daher  auch  Buwenburg,  der  das  schon 
zweimal  angeführte  heftige  scheltlied  so  beginnt: 

Sang  ich.  hiure  ?iihl  von  guolen  wioen, 
so  sing  aber  ich  nu  von  den  swache?i  usw. 
diese  Scheidung  ligt  aber  bei  solchem  anlass  wol  so  nahe,  dass  jeder  selb- 
ständig darauf  kommen  konnte. 


12  BRECHT 

demgemäfs  nur  rein  sachliche  minnelehre,  die  sich  in  inhalt  und 
tendenz    sowol   im    ganzen  wie   an  einzelnen  stellen  eng  an  das 
vorige  lied  anschliefst  (423,  21  stcer  e'ren  scelic  welle  sin,  vgl.  xxiv: 
420,  24  dd  fand  ich  ouch  ere  bi,  27  und  erwirbe  ich  freude  und 
ere;  422,  10  vinde  ich  die,  so  vinde  ich  ere;  ferner  424,  6,  vgl. 
422,  9).     auf  sein    persönliches   misgeschick  kommt  er  erst  im 
zweiten  teile  zu  sprechen,     er  trüstet  sich  (424,  7  ff): 
Min  muot  von  wiben  hohe  sldt. 
waz  danne  ob  mir  ir  einiu  hdt 
Erzeiget  hohe  missetdt? 
hat    es    also    innerlich    überwunden,     wante   er   sich    im  ersten 
teile  an  die  männer,  so  gilt  der  zweite  ausschliefslich  den  frauen. 
auch  wenn  er  von  ihnen  in  der  dritten  person  redet,    ist  doch 
alles  an  ihre  adresse  gerichtet,    der  inhalt  dieses  teiles  ist  nicht 
neu.     er   ist   ein    verschmelzender  cento   von    motiven    früherer 
lieder,  deren  entstehung  und  entwicklung  wir  beobachtet  haben. 
424,  1 1 : 

Swaz  si  gegen  mir  hdt  getdn     fconstr.  anö  v.olvov) 

daz  wil  ich  gerne  wizzen  Idn 


uf  gendde  guotiu  w/p  — 
worauf  die  erzählung  ihrer  schuld  folgt,  was  ist  dies  im  grund- 
motiv  und  in  der  form  anders  als  die  grofse  anklagerede  des 
xx  liedes,  vor  demselben  tribunal,  an  das  zu  allererst  zu  denken 
er  seit  der  Venusfahrt  und  seit  dem  geselligen  winler  1227/28 
gewöhnt  war  (lied  xm  str.  4,  insbes.  397,  24)?  —  424,  7 — 31  des 
leichs  widerholt  geradezu  lied  xx  str.  1 — 4 ,  man  vgl.  speciell 
die  anfangsapostrophe,  und  ist  nur  eine  neue  Variation  des  haupt- 
inhaltes  aller  bisherigen  scheltlieder.  —  im  einzelnen  entspricht 
424,  15 — 21  der  zweiten  Strophe  von  xx.  die  beiden  bilder  mit 
denen  er  die  launenhaftigkeit  der  herrin  verklagt,  424,  25 — 31, 
verfolgen  in  anderer  sphä're  denselben  zweck  wie  das  bild  vom 
aprilwetter  xxn  str.  5: 

Nu  vert  enwer  ir  habedanc,       Als  aberillen  weter  vert  ir  wille, 
Reht  als  ein  rat  daz  umbe  gdt     daz  nie  wind  es  prüt  als  swinde 
etc.  enwart  etc. 

Die  gegenüberstellung  der  guoten  und  falschen  wibe  425,  1 — 2 
schlägt  noch  einmal  das  thema  von  xxu  für  einen  augenblick  an, 
die  beiden   folgenden    verse    bringen    mit  dem   widerholten  State 


ULRICH  VON  LICUTENSTE1N  13 

das  hauptstichwort  von  xxm  wider  in  crinncrung.  die  zweite 
hallte  des  zweilen  teiles,  in  die  diese  motive  bereits  gehören, 
drückt  dasselbe  aus  wie  die  letzten  Strophen  des  vorhergehndeu 
liedes  xxiv,  den  wünsch  eines  neuen  Verhältnisses,  aber  un- 
wandelbar muss  die  neue  herrin  sein,  das  betont  der  durch 
erfahrung  gewitzigte  zum  Schlüsse  nochmals  nachdrücklich 
(425,  26—426,  3). 

Gleichzeitig  mit  dem  leich  hat  Ulrich  nach  seiner  eigenen 
angäbe  (426,  8f)  das  xxvi  lied  gedichtet,  es  erweist  sich  als  eiu 
kurzer  auszug  des  leichs  in  inhalt  und  einkleidung  (rat  an  die 
männer,  guoliu  wip  zu  minnen);  der  erste  teil,  str.  1 — 3,  ent- 
spricht genau  dem  ersten,  der  zweite,  str.  4 — 7,  dem  zweiten 
teile  des  leichs.  auch  der  Übergang  zwischen  beiden  teilen 
(426,24 — 25)  ist  ganz  der  gleiche  wie  dort  (424,  711).  die  letzten 
Strophen  (5  u.  6)  von  xxiv,  die  den  zweiten  teil  des  leichs  mit 
bilden  halfen  ,  haben  mithin  auch  die  drei  letzten  von  xxvi  be- 
fruchtet, die  Ähnlichkeit  erstreckt  sich  bis  auf  die  worte  (zb. 
vinden  427,  1.10  vgl.  425,  24.  422,  6.  10).  —  der  wünsch  eines 
zweiten  aussichtsreicheren  Verhältnisses  ist  zu  voller  klarheit  ge- 
diehen, nur  der  würdige  gegenständ  fehlt  noch,  die  schlussstrophe: 
Ich  wil  gerne  sin  ein  vrowen  vrier  man, 
al  die  wile  ich  niht  ein  guote  vinden  kan  usw. 
bildet  bereits  den  directen  Übergang  zu  den  wdnwisen. 

ii   Die  wänwisen.     1232/33. 

Ulrich  begründet  seine  hinwendung  zu  wdnwisenx  mit  der 
ausdrücklichen  bitte  einer  hervorragenden  dame  an  ihn,  er  möge 
um  aller  frauen  und  um  seiner  selbst  willen  die  rachedichtuug 
der  scheltlieder  aufgeben  (427,  13 — 28;  lyrischer  niederschlag  im 
nächsten  liede  428,  26.  27).  auch  ohne  solche  auffordern ug  würde 
Ulrich  das  getan  haben ,  da  die  bisherige  entwicklung  an  sich 
schon  dazu  führen  muste. 

Zusammenhang  der  wdnwisen  mit  geist  und  inhalt  der  letzten 
lieder  ist  unverkennbar,  die  erste  wdnwise  (xxvn)  bleibt  im  ge- 
dankengange  des  vorhergehenden  liedes  xxvi,  dessen  inhalt  sie 
gewissermafsen  umdreht,  hatte  Ulrich  dort  behauptet,  wenn  man 
höhen  muot  erwerben  wolle,    brauche   man    nur  guotiu   wip   zu 

1  wdnwisen  ist  nach  wie  vor  als  'freie  phantasieproduete  ohne  realen 
gegenständ'  aufzufassen  und  ßechsteins  seltsame  Übersetzung  'freudenklänge' 
(anm.  zu  str.  1376,  8.  L.  427,  28)  zu  verwerfen. 


14  BRECHT 

minnen,  und  dies  allen  mänueru  geraten,  so  sagt  er  jetzt:  wer 
erfolg  in  der  minne  werter  flauen  haben  wolle,  müsse  hochgemut 
sein  (428,  7.  8),  und  erteilt  sich  selbst  diesen  rat  (428,  25  ff)  —  es 
ist  ein  zirkel.  nach  der  verirrung  der  ihm  garnicht  anstehnden 
scheltlieder  hat  er  sich  damit  zu  seiner  wahren  natur  und  zu 
seinem  lyrischen  grundgedanken  zurückgefunden  :  freude,  nichts 
als  freude  soll  die  ritterliche  minne  geben. 

Dieser  gedanke  wird  in  der  zweiten,  sangbar-anmutigen 
wdnwise  (xxvui)  nur  weiter  ausgeführt,  zum  teil  spielend,  vor 
der  staien  liebe,  die  minne  heifst  (430,  1),  schwindet  alles  trauern; 
sein  geheimes  verlangen  nach  ihr  kann  er  in  einem  seufzer  zum 
Schlüsse  nicht  verbergen. 

Bei  stiller  Sehnsucht  bleibt  es  nicht;  schon  das  nächste  lied 
(xxix),  ein  sommerreie,  der  das  glück  erhörter  liebe  fast  neidisch 
preist,  wird  sehr  kühu  :  die  höchste  seligkeil  ist  die  Umarmung, 
das  bigeligen,  das  als  schlusspointe  bis  an  die  grenzen  der  mittel- 
alterlichen discretion  ausgemalt  wird,  natürlich:  gerade  der  'frauen- 
freie' mann  (427,  24)  muss  in  der  phantasie  geniefsen,  was  ihm 
das  leben  zur  zeit  versagt. 

Eine  Illustration  zu  den  bisher  gegebenen  minnelehren,  die 
dabei  noch  einmal  in  lebendiger  Unterweisung  kurz  zum  Vortrag 
kommen,  zugleich  eine  praktische  anwendung  bildet  die  sechste 
wdnwise,  ein  dialog  Ulrichs  mit  einer  vrouwe  über  das  berühmte 
thema  :  waz  ist  minnel  in  dessen  verlauf  der  belehrende  ritter 
keck  wird  und  ganz  unerwartet  einen  allerliebsten  korb  bekommt 
(winter  1232). 

Es  fällt  auf,   dass  Ulrich    in   den   zwei    Strophen   des  märe, 
die    den    Übergang   vom    vorhergehnden   liede  zu   diesem  dialog 
bilden,  gerade  von  einem  besuche  spricht,    den  er  damals  jener 
befreundeten  dame,  die  ihm  von  den  schellliedern  abgeraten,  ge- 
macht habe,  und  von  der  Unterredung  mit  ihr.     die  Schilderung 
sieht  ganz  nach  minueconversation  aus.     434,  14: 
ich  reit  mit  ir  sus  unde  so: 
des  antwurt  mir  diu  lugend  rieh 
mit  süezen  Worten  minneclich. 
mit  speeher  rede  ich  von  ir  schiet. 
davon  so  sang  ich  disiu  liet  (=  xxx). 

Er  versichert  also  ausdrücklich,  aus  einer  derartigen  Unter- 
haltung sei  sein  dialog    über  die  minne  hervorgegangen,     sollen 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 


15 


wir  ihm  hier  mistrauen,  etwa  weil  die  lieder  das  ursprüngliche 
sind,  aus  denen  das  märe  nachher  in  freier  phantasie  geschöpft 
sein  konnte?  da  sich  die  beziehungen  zwischen  er  Zählung  und 
liedein1  bisher  als  ganz  unverdächtig  erwiesen  halten,  da  der 
dichter  ganz  naiv,  unironisch,  unhumoristisch,  sachlich-trocken 
berichtet,  sogar  beschämendes  nicht  verschweigt2,  so  halt  ich  uns 
für  durchaus  berechtigt,  hier  den  Zusammenhang  /wischen  leben 
und  lyrik  festzustellen,  dann  wären  wir  auch  berechtigt,  anzu- 
nehmen, dass  Ulrich,  der  Mine  freiwillige  Verlassenheit  so  schwer 
ertrug,  jener  d.uiie  uiirklich  seine  minne  angetragen  und  einen 
korh  bekommen  hat.  sie  verschwinde!  Dämlich  jetzt  stillschwei- 
gend .ms  dem  FD.  die  an,  mit  der  Ulrich  sehr  bald  danach 
(439,14)  seine  neue  herrin,  die  des  zweiten  Verhältnisses,  frisch 
in  die  erzählung  einführt,  verbietet  anzunehmen,  dass  jene  dame 
mit  dieser  identisch  sei. 

Die  tendenzen  der  wdnwisen  finden  sich  in  der  tünlten 
(xxxi),  welche  die  letzte  hleihen  sollte,  unabsichtlich  noch  einmal 
zusammengestellt  :  preis  des  frühlings  und  der  frauen,  deren  liebe 
den  mann  glücklich  macht. 

Diese  wenigen  gedanken  in  den  wenigen  liedern  sind  im 
gründe  Ulrichs  ganze  liebeslehre.  die  wänwlsen  liehen  sich  nicht 
so  sehr  von  den  bisherigen  minneliedern  ab,  als  man  bei  dem 
Wegfall  einer  bestimmten  Persönlichkeit,  an  die  sie  sich  richteten, 
erwarten  sollte,  gerade  hier  wird  recht  klar,  dass  Ulrichs  lieder 
bisher  eigentlich  alle  schon  wänwtsen  waren,  db.  dass  im  »runde 
auf  die  vereinte  herrin  wenig  dabei  ankam,  sie  ist  nur  eine 
stell  Vertreterin  des  ganzen  geschlechtes,  dem  Ulrichs  Verehrung 
gilt,  mag  auch  —  woran  ich  nicht  zweifle  —  sein  herz  hei  der 
ersten  minne  nicht  unbeteiligt  gewesen  sein,  ihre  wahre  Ursache 
war  das  artistische  phantasiebedürfnis,  das  für  die  dem  menschen 
Ulrich  einmal  innewohnende  hinneigung  zur  frau  einen  bestimmten 
äufseren  anhält  suchte,     in   den  wänwlsen   liel   auch  dieser  vor- 


1  der  aasdrack  'eingestreute  lieder',  an  den  man  sieli  gewöhnt  hat, 
nimmt  in  dem  falle  Dlrichs  zum  mindesten  unsicheres  als  sicher  an.  denn 
mag  auch  Ulrich  für  das  märe  gleichzeitige  aufzeichnungen  benutzt  haben 
(s.  Schönbath  Biot;iaph.  Matter  u  32,  33),  so  bleibt  doch  bestelm,  dass  die 
lieder  das  in  der  vorliegenden  festen  form  ältestesind,  um  das 
die  erzählung  heru  mgegosse  n  ist.  sie  sind  das  prius,  nicht  die  erzählung. 

a  vgl.  Schönbach  aao.  s.  23  ff. 


16  BRECHT 

wand  fort  :  insofern  kommt  in  ihnen  seine  natur  am  reinsten  zum 
ausdruck. 

in  Lieder  der  zweiten  minne.  1233  <C  >  1255. 
Da  Ulrich  im  sommer  1233  nachgerade  seihst  darilher  klar 
geworden  ist,  dass  er  für  ein  neues  minneverhältnis  reif  sei, 
zögert  er  nicht,  sich  nach  einer  würdigen,  dem  einzigen,  das  ihm 
dazu  noch  fehlt,  umzusehen  (439,  llf).  seine  erste  minne  ist  für 
ihn  innerlich  schon  so  lange  her,  dass  die  erinnerung  sie  ihm 
hereits  golden  zu  färben  beginnt  (438,  14 — 24).  bald  hat  er  eine 
herrin  gefunden;  und  dass  er  kein  blöder  page  mehr  ist,  sieht 
man  an  der  sachlichen  art,  in  der  er  das  Verhältnis  in  die  wege 
leitet  :  er  reitet  einfach  zu  der  dame  (deren  namen  er  natürlich 
nicht  nennen  darf)  hin  und  'tut  ihr  seinen  willen  kund'  (440,  9). 
ihre  antwort  fällt  so  aus,  dass  er  davon  in  freudenüberschwang 
gerät  und  seiner  ältesten,  im  gründe  einzigen  liebe,  dem  hohen 
muoty  das  erste  lied  seiner  neuen  minne  (xxxn)  widmet,  für 
deren  abstractere  art  ist  die  adresse  an  einen  personifizierten 
begriff  von  vornherein  charakteristisch,  der  minnephilosophische 
ton  der  wänwisen  bleibt,  nur  mit  schwindender  frische,  in  geltung. 
xxxii  ist  ein  rechtes  beispiel  für  ein  absichtlich  gemachtes  ge- 
legeuheitsgedicht.  mit  vollem  bewustsein,  ganz  unnaiv,  wird  die 
neue  Verbindung  begrüfst  und  unter  etwas  künstlichem  jubel  ein- 
geläutet, das  gefühl  der  erleichterung  freilich ,  nun  nicht  mehr 
einsam  trüren  zu  müssen,  mag  wol  wahr  daran  sein,  hier  wie  in 
den  folgenden  liedern.  das  einzige  thema  ist  zunächst  natürlich 
der  preis  der  neuen  herrin.  die  einzelmolive  sind  grofsenteils 
nicht  neu.  so  greift  Ulrich  auf  das  hauplmotiv  des  vm  liedes, 
beschreibung  der  Insassen  seines  herzens  (s.  o.),  zurück,  wenn  er 
in  der  vorletzten  Strophe  den  höhen  muot  als  vogt  im  hause  seines 
herzens  auffasst,  dem  die  f'rau  und  die  minne  dort  gesellschaft 
leisten;  angedeutet  ist  die  metapher  schon  in  den  ersten  beiden 
versen  des  liedes.  durch  seine  freude  klingen  reminiscenzen  an 
die  von  der  früheren  herrin  ihm  angetane  untdt  (s.  o.),  denn 
es  ist  als  reaction  darauf  zu  erklären,  wenn  er  jetzt  so  viel  von 
der  ere  seiner  herrin  spricht,  halle  er  in  den  scheltliedern  die 
erste  dame  eines  vergebens  bezichtigt,  dessen  nennung  sie  scham- 
rot machen  müste  (412,  25  ff),  von  ihr  gesagt: 

diu  ist  wibes  eren  gram  (417,  17) 
und  von  einer  zukünftigen  herzensherrin  verlangt,  sie  müsse 


LI.IUCII  VON  LICHTENSTEIN  17 

—  wiplich  sin  gemuot, 

eren  rieh,  vor  allem  wandel  <jar  behuut     127,  711), 

so  frohlockt  er  jetzt : 

Höher  muot,  dich  hat  gesendet 
nur  ein  wip  diu  ere  hat  (4-11,5); 

das  ist  das  allererste,  was  er  überhaupt  im  liede  von  ihr  s;i. 
(dritte  stroplie).  begreiflicherweise  kommt  er  noch  ol't  darauf 
zurück,  der  uumittelbare  Zusammenhang  seiner  neuen  poesie  mil 
den  eben  verklungenen  wdnwlsen  wird  in  dein  folgenden,  eben- 
falls noch  einleitenden  liede  (xxxm)  bemerklich,  einem  dialoge 
Ulrichs  mit  der  neuen  geliebten  über  bedingungea  und  lohn  seines 
dienstes.  die  elegante  minneconversalion  endet  unerwartet  damit, 
dass  sie  seine  immer  schmeichelhafteren  complimente  scheinbar 
entrüstet  als  ironie  zurückweist,  unverkennbar  ist  die  grofse 
ahnlichkeit  mit  dem  kurz  vorhergehndeo  dialoge  xxx  :  auch  dort 
gesprach  Ulrichs  mit  einer  dame;  er  beginnt,  wird  von  Strophe 
zu  Strophe  kecker  und  erlebt  zum  schluss  eine  —  dort  offenbar 
ernsthaftere  —  kokette  abweisuug,  die  ebenfalls  ganz  kurz  (dort 
zwei,  hier  drei  verse)  in  die  letzte,  eigentlich  ihm  gehörende 
dialogstrophe  als  letzte  pointe  einbricht  (ebenso  schon  im  ersten 
dialog  mit  frau  Minne,  x  136,  51.).  dazu  kommt,  dass  die  enl- 
stehung   beidemale    die    gleiche    ist.     wie  xxx    nach  des  dichters 

1  die  widerholung  in  der  zwtitfolgenden  Strophe  (441,21)  besagt 
vielleicht  nicht  viel,  da  reimschlendrian  vorliegen  kann  (lere  :  ere  :  here ; 
vgl.  437,  9 — 11  im  vorhergehnden  liede).  aber  weiterhin  sprechen  noch 
mehrere  stellen  von  der  ere  der  dame,  in  den  nächsten  fünf  liedern  vier  : 
145,  24  (xxxiv),  449,  9  (xxxvi),  449,  22  :  wol  mich  —  des  daz  si  htil  tugent 
und  ere,  und  besonders  450,  1 1  fT :  ich  bin  vrö  des  daz  ir  ere  hat  behuot 
sich  als  si  sol  (xxxvii;  vgl.  508,  14).  vor  dem  Umschwung  nach  lied  xix 
i»t  von  ere  der  herrin  in  allen  liedern  nur  an  folgenden  stellen  die  rede  : 
111,  3  (vi).  131,  25  (ix).  394,  18  (xn).  406,  14  (xvn).  408,  20  (xvm),  und 
höchstens  an  der  ersten  mit  einiger  betonung.  jetzt  hat  U.  diese  eigen- 
schaft  ganz  anders  einzuschätzen  gelernt.  —  auch  von  ere  der  männer  wird 
jetzt  häufiger  gesprochen,  und  es  ist  vielleicht  kein  ganz  äufserlicher  zufall, 
dass  nicht  allzulange  danach,  bei  der  Artusfahrt  1240,  herr  Kadolt  Weis 
dem  Lichtensteiner  eine  Jungfrau  als  botin  der  fruuw  Ere  entgegenreiten 
lässt,  um  ihn  zum  turnier  einzuladen  (477,  5  (T),  ein  scherz,  den  Roethe  mil 
dem  jenen  rittern  im  Südosten  sicherlich  wolbekannten  Reinmar  von  Zweter 
zusammenbringt  (Die  gedichte  Reinmars  von  Zweter  s.  168.  217);  nach  ili#i 
stammt  auch  das  adj.  eregernde  bei  Lichtenstein  (zb.  423,  1.  424,  1.  45ii,  25) 
von  demselben  Reinmar. 

Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  2 


18  BRECHT 

eigener  aussage  (s.  o.),  ist  auch  xxxru  als  unmittelbare  wilrkung 
einer  minuiglichen  Unterredung  entstanden.    Ulrich  versichert  es 
widerholt  vor  und  nach  mitteilung  des  dialoges: 
swaz  ich  des  tages  gegen  ir  sprach, 
zehant  dö  ich  da  von  ir  schiel, 
ich  sanc  von  ir  sd  disiu  liet    (442,  29  IT) 


ich  redet  drinn  mit  der  frowen  min  (444,  15), 
und  ich  sehe  keinen  grund,  ihm  nicht  zu  glauben. 

xxxiv  ist  eine  gesteigerte  widerholung  von  xxxn;  das  gleiche 
gilt  von  xxxvn.  leider  ist  über  die  entstehungszeit  all  dieser 
lieder  genaueres  nicht  zu  sagen,  als  dass  Ulrich  sie  (von  xxxiu 
an)  zwischen  1233  und  40  verfasst  hat.  xxxiv — xxxvn  können 
in  ihrer  abfassungszeit  nicht  allzuweit  auseinanderliegen,  sonst 
würde  er  sie  schwerlich  zusammen  angekündigt L  und  ohne  jeden 
verbindenden  text  widergegeben  haben. 

xxxiv  ist  ein  frühlings-,  xxxv  ein  winterlied,  doch  wol  aus 
demselben  jähre  (wie  oben  iv  und  v),  beider  inhalt  durchaus  der 
übliche  :  das  kommen  des  frühlings  wird  mit  dem  der  neuen  liebe 
identificiert,  als  bestes  mittel  gegen  das  leid  des  winters  aber 
empfohlen,  mit  frauen  in  den  warmen  Stuben  sich  zu  erfreuen, 
auf  derselben  conlrastieruug  von  draufsen  und  drinnen  beruht 
das  nächste  winterlied  (xxxix,  1240);  nur  dass  hier  der  grund 
seiner  bei  der  harten  Jahreszeit  verwunderlichen  freudenstimmung, 
die  Schönheit  seiner  herrin,  nicht  nur  erwähnt,  sondern  in  län- 
gerer unanschaulicher  Schilderung,  bei  der  leibliche  und  charakter- 
vorzüge  durcheinandergehn,  vorgeführt  wird.  Schönheiten  der 
form  erwähnt  Ulrich  nicht;  nur  ihre  färben,  braun,  rot  (mund), 
weifs,  sind  es,  die  ihm  eindruck  gemacht  haben. 

In  dasselbe  jähr  fällt  ein  zweites  marschlied  (üzreise,  xxxvm). 
es  ist  auf  der  Artusfahrt  gedichtet  worden;  Ulrich  glaubte  wol, 
seiner  zweiten  herrin  auch  eine  üzreise  schuldig  zu  sein,  es  hat 
ihn  nun  offenbar  gereizt,  über  den  gleichen  gegenständ  ein  ganz 
gleiches  gedieht,  das  doch  keine  copie  sein  sollte,  mit  gleichsam 
benachbarten  vvorten  zu  machen,  beide  lieder  umfassen  je  sieben 
Strophen,   von  diesen  sind  nur  je  die  zwei  letzten,    die  sich  an 

•         '  444,  16  Da  nach  ze  rehler  zit  ich  sanc 

vier  wise,  als  mich  min  wille  twanc, 
Ab.  wol:  jedes  einzelne  bei  passender  gelegenheit,  wie  mich  mein  herz  trieb. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  19 

die  jeweilige  dame  richten,  aus  aufseien  gründen  insofern  ver- 
schieden, als  sie  das  erste  mal  die  misgunst  der  berrin  beklagen, 
das  zweite  mal  den  ruf  nach  Bchild  und  speer  zum  rühm  der 
herrin  voll  wirksamen  Ungestüms  erklingen  lassen,  alle  andern 
Strophen  der  ersten  Azreise  linden  in  denen  der  zweiten  ihre 
entsprechung,  nur  in  verschiedener  reilieul'olge l.  der  einzige 
sachliche  unterschied  ist  der,  dass  im  zweiten  marsehliede  die 
ritterliche  hetatigung  ausdrücklicher  auf  den  lohn  xoerder  toibe 
bezogen  wird,  wahrend  im  ersten  der  schilt  auch  in  sich  seihst 
schon  ehre  hat.     die  widerholung  ist  entschieden  matter. 

Wichtiger  ist  eiue  andere  specielle  gatlung,  die  tagelieder. 
von  ihnen  hat  Ulrich  ebenfalls  nur  zwei  gedichtet,  das  erste  zwi- 
schen 1233  und  1240  (xxxvi),  das  zweite  im  winler  1240/41  (xu; 
mau  darf  ihre  entstehungszeil  wol  nicht  allzuweit  auseinander- 
rücken, sie  haben  noch  einige  lieder  nach  sich  gezogen  :  es  sind 
die  unmittelbar  auf  das  zweite  tagelied  folgenden  :  xli,  XLii  und 
xi. in,  die  in  derselben  phantasierichtung  weitergeh n  uud  unter  sich 
und  mit  xl  durch  anklänge  und  auknüpfungen  verbunden  sind,  alle 
fünf  bilden  zusammeu  eine  gruppe,  liebeslieder  sinnlicher  Färbung. 

An  vorklängen  fehlt  es  nicht,  der  reie  (xxix,  1232)  malt 
bereits  die  Situation  der  liebenden  in  ganz  ähnlicher  weise  aus 
wie  xxxvi,  die  reiheufolge  der  liebesbezeugungen  ist  dieselbe,  bis 
in  den  einzelausdruek  geht  die  äiinlichkeit.  die  erste  liebkosung 
ist  der  kuss  (433,6  :  448,2),  dem,  schön  beobachtet,  das  liebevolle 
sichanblicken   folgt: 

1  str.  1  in  xvi  entspricht  str.  1  in  xxxvni  :  frauendienst  ehrt  ritter. 
-     2    -    xvi  -  -    4    -    xxxvni : 

S wer    volget   dem    schilde,   der       Swer  mit  sckilt  zieh  decken  wil 

sol  ez  enblanden  vor  schänden, 

Dem  libe  —  Der   sol    ez   dem   libe  wol  en- 

/>  landen. 
reimwörter  ere  :  lere  :  sere.  reimwörter  ere  :  si'-re. 

str.  3  in  xvi  entspricht  str.  2  in  xxxvni  :  diese  zählt  die  tugenden  auf,  die 

jene  404,  17  verlangt, 
str.  4  in  xvi  entspricht  str.  5  in  xxxvni  :  mut  und  feigheit  constrastiert. 
gleiche  reimwörter  :  wilde  :  schilde,  decken  :  blecken  =  schilde 
:  wilde,  blecket  :  decket. 
str.  5  in  xvi  entspricht  str.  3  in  xxxvni  :  Ir  siilt  gedenken —  =  Denket  — : 
trauen  sollen  an  helohnung  der  männer,  männer  an  frauenlohn 
denken.  —  die  n  üzreise  drückt  vieles  nur  anders  herum  aus. 

2* 


20  BRECHT 

433,  12  f     ob  dd  iht       448, 6  f  dö  si  in  den  ougen  reht  ersähen 
ougen  liht  ir  lieplkh  minnevarwen  schln, 

liepltch  sehen  einander  an?1 

das  weitere  wird  in  beiden  liedern  mit  denselben  worten  bezeichnet: 
minne  freudenspil,  minnespil,  spü  (432, 16.  433,  8  :  448,  4.  9.  28); 
die  arme  der  frau  erhalten  das  gleiche  attribut  :  von  linden  armen 
blanc  (433,  2),  mit  linden  wizen  armen  (449,  1),  uam.  nur  dass 
Ulrich  im  reien  in  der  ausmalung  der  Situation  noch  nicht  so 
weit  geht  wie  im  tageliede,  sondern  das  letzte  nur  mit  schalk- 
hafter frage  andeutet,  im  stil  des  tageliedes,  wie  er  sich  seit 
Wolfram  in  Deutschland  gebildet  hatte,  war  dergleichen  ange- 
brachter, ja  fast  uuerlässüch. 

Das  zweite  tagelied  (wiuter  1240/41)  steht  mit  dem  ersten 
in  eigentümlicher  beziehung.  es  stellt  eine  spätere  stufe  der 
Situation  dar  :  denn  es  beginnt  erst  mit  dem  eintreten  der  zofe, 
während  das  erste,  schon  auffallend  genug,  mit  der  begrüfsung 
des  rilters  durch  die  frau  anfängt;  und  der  ritter  .nimmt  nicht 
abschied  nach  der  Warnung,  sondern  wird,  weil  es  zu  spät  ge- 
worden, noch  einen  tag  und  eine  nacht  heimlich  dabehalten,  die 
Verhandlungen  hierüber  und  die  erzählung  dieses  herganges  sind 
die  hauptsache  in  diesem  gedieht,  das  der  aparten  neuerung  wegen 
gemacht  ist  (vgl.  510,  23 — 511,  6).  für  das  minnespil  (513,  14) 
bleibt  nur  eine  ganz  summarische  angäbe  (513,  15 — 18)  übrig  :  im 
ersten  liede  war  seine  ausmalung  geradezu  thema  gewesen,  in- 
sofern sind  Ulrichs  zwei  tagelieder,  die  gewöhnlich  als  einheit 
behandelt  werden,  unter  sich  durchaus  charakteristisch  ver- 
schieden. 

Beiden  gemeiusam  ist  die  eiuführung  der  maget  au  stelle 
des  Wächters,    über    die    mehrfach   gehandelt    worden   ist2,     im 

1  mit  rücksicht  auf  diese  stelle  stimme  ich  Beckstein  bei,  wenn  er 
s.  155  anm.  zu  v.  63  ohne  begründung  gegen  Lachmanns  interpunetion  vor- 
schlägt, 433,  30.  31  zu  lesen  :  ob  da  niht      mer  geschiht? 

2  de  Gruyter  Das  deutsche  Tagelied  s.  18.  20.  25.  112.  122.  Schlaeger 
Studien  über  das  Tagelied  s.  88.  —  ich  glaube  nicht,  dass,  wie  de  Gruyter 
s.  20  möchte,  die  von  ihm  verglichene  stelle  des  Grafen  Rudolf  (s.  112) 
Ulrich  beeinflusst  hat.  Beatris  spielt  eine  ganz  andere  rolle  als  Ulrichs 
dienerin.  die  einzige  Übereinstimmung  ist,  dass  der  graf  den  nächsten  tag 
noch  da  bleibt,  und  dieses  motiv  ligt  bei  der  gefährlichkeit  der  Situation 
(vgl.  Alwin  Schultz  Höfisches  leben  i1  1472 ff)  nicht  so  fern,  dass  Ulrich 
nicht  allein  darauf  gekommen    sein   könnte,     weitere   ähnlichkeiten   vermag 


ULMCH  VON  LICHTENSTEIN  21 

augenblicklichen  zusammenhange  interessiert  uns  Dicht  <lie  — 
zweifelhafte  —  geschichte  des  molivs,  Bondera  nur  das  moliv 
selbst  in  seiner  persönlich  charakterisierenden  bedeulung.  dass 
der  Lichlensteioer  Beine  epigonenhaft-rationalistische  neueruog 
zu  gunsten  eines  der  archaischen  stilstrenge  (U^  alten  lageliedes 
gar  oicht  anstehndea  realismus  selbständig  und  ohne  Bich  eines 
eioflusses  bewusl  zu  sein,  unternahm,  geht  aus  seiner  tiftelndeo 
irgumentatioa  509,9 — 511,0  klar  hervor,  aullallend  ist  nur,  dass 
er  sie  erst  vor  dein  zweiten  lageliede  bringt,  da  er  doch  schon 
vor  eioiger  zeit  im  ersten  die  magd  eiogeführt  hat.  dass  das 
zweite  Med  vor  dem  ersten  gedichtet  wäre,  wird,  abgesehen  von 
der  bisher  immer  stimmenden  Chronologie  der  anordnung,  da- 
durch ausgeschlossen,  dass  es  mit  dem  secundären  einlall,  den 
rilter  den  tag  auch  noch  dableiben  zu  lassen ,  klar  die  an  der 
ursprünglichen  gestall  der  lageweise  (wie  sie  das  ersle  lied  dar- 
stellt) weilerdichtende  phantasie  verrät,  man  kann  nur  annehmen: 
er  hat  das  erste  lied  mit  einl'ührung  der  magd  naiv  gedichtet, 
einem  einfall  folgend,  über  dessen  herkunft  und  berechligung 
er  sich  keine  sorgen  machte,  später  ist,  wie  es  bei  Sanguinikern 
mit  pedantischer  ader  zu  gehn  pflegt,  die  reflexion  hinlerher- 
gekommen,  die  ihn  veranlasste  sich  nachträglich  gründe  klar  zu 
machen,  hiermit  würde  sich  auch  erklären,  dass  er  gerade  im 
zweiten  lageliede,  wider  erwarten,  den  ignorierten  Wächter  wider 
erwähnt,  mit  seinem  verschwinden  von  der  ziooe  das  auftreten 
der  zofe  geschickt  motiviert  :  nachdem  sich  die  reflexion  ein- 
gestellt bat,  ist  mau  eben  gewissenhafter. 

Oder  aber  es  ist  ihm  erst  später  bei  der  redaction  des  FD, 
als  er  bereits  bis  zum  zweiten  tageliede  dictiert  hatte,  klar  geworden, 

ich  nicht  zu  entdecken,  ist  es  übrigens  irgendwie  wahrscheinlich,  dass 
Ulrich  den  schwerlich  sehr  verbreiteten  Grafen  Rudolf  gekannt  hat?  —  — 
Schlaeger  (aao.)  meint,  Ulrich  hätte  sich  unwissentlich  'mit  der  einführung 
der  zofe  der  ursprünglichen  form  [des  Tageliedes]  wider  genähert';  er  geht 
dabei  von  seiner  von  s.  83  an  entwickelten  ansieht  aus,  dass  pseudo- 
ovidische  stellen,  an  deren  einer  (!)  die  amme  der  herrin  auftritt,  den  aus- 
gangspunet  für  das  Tagelied  gebildet  hätten,  ja  unmittelbar  die  eben  hervor- 
gehobene, die  liier  zugrunde  liegende  anschauung  über  das  entstehen  von 
dichtungsgattungen  kann  ich  mir  nicht  zu  eigen  machen.  —  die  gründe, 
die  Schlaeger  s.  6011'  gegen  Roethes  erklärung  von  der  entstehung  des  Tage- 
liedes aus  dem  'geistlichen  wächterliede'  (Anz.  xvi)  anführt,  scheinen  freilich 
beweisend. 


22  BRECHT 

dass  seine  neuerung  erklärungsbedürftig  sei,  und  er  holt  nuu  die 
erklärung  an  dieser  sehr  geeigneten  stelle  nach,  wo  er  so  wie 
so  etwas  an  einem  tageliede  zu  erklären  hatte,  hierher  ge- 
hören nämlich  von  rechtswegen  nur  die  heiden  letzten 
Strophen  der  auseinandersetzuug,  510,23 — 511,6,  in  denen  er 
die  zweite  neuerung  :  der  ritter  bleibt  den  tag  über  bei  der  frau, 
in  ganz  derselben  tendenz  zum  realismus  begründet  wie  die 
erste.  — 

Die  anregung,  die  sich  Ulrich  selbst  mit  diesen  liedern  gibt, 
würkt  in  verschiedener  arl  weiter,  den  sinnlichen  kern  der 
tageliedsituation  nimmt  das  unerfreuliche  lied  xli  (sommer 
1241 0 1245)  heraus,  es  ist  aber  nicht  er  selbst,  der  seine 
vrowe  Hriutet1,  sondern  —  sein  höher  muot;  und  wo?  in  seinem 
herzen,  der  situationsbeschreibung  dienen  allein  vier  Strophen 
(4 — 7),  die  sich  in  allen  bezeichnenden  ausdrücken  an  das  vor- 
hergehnde  zweite  tagelied  anschliefsen  (516,9.  11.  13.  14.  21-23). 
da  die  tageliedsituation  leider  in  würklichkeit  Illusion  bleibt,  muss 
er  sie  sich  in  der  phantasie  ausmalen l.  es  ist  dieselbe  uner- 
quickliche erscheinung  wie  bei  der  dritten  wdnwise  (xxix,  reie), 
nur  dass  er  jetzt  auf  eine  absurde,  unanschauliche  allegorische 
einkleidung  verfallen  ist,  deren  Vorstellung  schon  widerwärtig 
berührt. 

Ihre  genesis  können  wir  genau  feststellen,  von  jeher  war 
es  seine  lieblingsvorstellung,  die  herrin  in  sein  herz  gelegt  zu 
denken,  gelegentlich  auch  sich  in  das  ihre  (vm,  s.  o.,  der  körper- 
lichste ausdruck  dafür  in  dem  später  geschriebenen  märe,  511,  20: 
und  sich  ietweders  herze  hept ,  ze  springen  in  des  andern  lip). 
schon  das  vm  lied  hatte  der  ersten  dieser  Vorstellungen  gegolten, 
im  xxxu  hatte  er  sie  wider  aufgenommen  {in  minem  herzen 
441,27),  am  Schlüsse  auch  schon  das  toben  der  liebe  in  seinem 
herzen  mehr  drastisch  als  geschmackvoll  beschrieben  (442,5).  beide 
Vorstellungen  fasst  er  zusammen  im  ersten  tageliede  (449,7): 

du  bist  vogt  in  dem  herzen  min: 

sam  bin  ich  in  dem  herzen  din, 
beide  Vorstellungen  hintereinander  verwertet  er  im  xli  liede; 
str.  1 — 3: 

1  er  spricht  das  noch  spät  im  märe  ganz  offen  aus  (515,  2): 
ich  hän  mit  ir  da  freuden  spil 
mit  gedanken  sivie  ich  wil. 


UL1ÜCI1  VON  LICHTENSTEIN  23 

—  mich  jdmert  sc're 

in  daz  reine  herze  diu ; 

dii  solt  du  mich  hüsen  in. 
der  inhalt  von  str.  1 — 7,  sie  in  seinen)  herzen,  wird  dadurch 
modificiert,  dass  er  an  seine  eigene  stelle  seinen  genossen,  den 
höhen  muot  '  setzt,  seinen  allen,  seit  xxxu  nicht  mehr  ans  dem 
äuge  gelasseneu  liebling.  dazu  die  gerade  jetzt  in  ihm  lebendige 
tageliedsituation :  und  alle  demente  des  allegorisch  kalten  und  doch 
sinnlich  schwülen  gedichles  sind  beisammen. 

Im  nächsten  liede  (xlii,  aus  derselben  zeit)  folgt  der  bild- 
lichen ausfuhrung  i\er  allegoric  die  dialektische,  ihr  leih  ist  in 
seinem  herzen,  ihr  herz  dahei  in  ihrem  leihe;  gleichzeitig  trägt 
sein  leih  ihr  herz  iu  sich;  sein  leih  will  aher  —  und  darin 
gipfelt  diesmal  das  gedieht  —  in  ihr  herz  :  das  sind  die  spilz- 
findigen  einfalle,  mit  denen  jongliert  wird,  unter  gleichzeitigem 
fortwährenden  Wortspiel  mit  lip,  liep,  liebe. 

Lied  xliii  endlich  zeigt  die  nachwürkung  der  tageliedsituation, 
insofern  es  in  eine  körperschilderung  ausläuft,  die  den  wünsch 
heimlichen  küssens  erweckt  und  mit  der  hindeutung  auf  das 
minnespil  (522,  4,  letztes  wort)  pointiert  schließt,  die  Schilderung 
widerbolt  zt.  die  des  ersten  tageliedes,  zh.  brüstel,  kinne, 
udngel,  munt  (521,32)  :  ir  ourjen,  kinne,  wengel,  munt  (448,24). 
der  gröfsere  teil  des  gedichtes  verherrlicht  seiner  vrowe  ver- 
schiedenartiges lachen ;  auch  dies  kein  ganz  neues  moliv  :  schon 
die  zweite  üzreise  (xxxvihj  hatte  mit  dem  preise  ihres  lachens 
wirkungsvoll  geschlossen:  —  daz  kan  si  süeze  machen  (458,  7). 
Was  dieser  ganzen  gruppe  von  liedern  zu  gründe  ligt,  verrät 
Ulrich  an  der  zum  letzten  liede  gehörigen  stelle  des  märes  (522,  14): 
daz  wolde  got,  nnd  keemez  so  daz  ich  ir  gelcege  bi\  schon  hieraus 
konnte  man  ersehen,  dass  das  zweite  Verhältnis  nicht  glücklicher 
war  als  das  erste;  er  wagte  nur  nicht  mehr  so  viel  zu  verlangen. 

Erfreulicher,  wenn  auch  poetisch  vielleicht  niedriger  stehend, 
sind  die  drei  folgenden  lieder,  die  sich  ebenfalls  als  eine  — 
unheahsichtigte  —  gruppe  dadurch  erweisen,  doss  sie  dasselbe 
grundthema  in  der  gleichen  lendenz  und  mit  vielfacher  Ähnlich- 
keit im  einzelnen  behandeln.  Ulrich  muss  damals  (c.  1245 — 47) 
eine  gute  zeit  gehabt  haben,  trotz  des  Unglücks,  das  die  Steier- 

1  er  klopft  mit  Ulrich  an  die  herzenslür  515,  27. 


24  BRECHT 

mark  in  jenen  jähren  betraf  (1246  schlachl  an  der  Leitha,  tod  herzog 
Friedrichs,  geschildert  FD  525 — 530),  denn  alle  drei  lieder  prei- 
sen den  höhen  muot  (524,14.  534,9.  536,17). 

Das  erste  (xliv)  beginnt  damit  programmatisch,  wie  früher 
xxxii  :  Ich  bin  hohes  muotes  —  durch  ein  wort,  das  die  herrin 
gelegentlich  zu  ihm  gesprochen  hat;  ihm  gilt  das  ganze  lied.  im  dazu- 
gehörigen stück  des  mä'res  spricht  er  ebenfalls  ausführlich  von  der 
Seligkeit  die  es  ihm  gegeben  (522,  29  ff),  ohne  dass  wir  jedoch  von 
der  veranlassung  oder  von  dem  Wortlaute  etwas  erführen,  dies 
minneverhältnis  bestand  ja  zur  zeit  der  redaction  des  FD  noch  fort. 

Das  zweite  lied  (xlv)  ist  ganz  von  xliv  abhängig,  in  der 
tendeuz  erscheint  es  noch  gesteigert  :  er  polemisiert  jetzt  gerade- 
zu, gleich  zu  anfang,  gegen  die  unfrohen,  dh.  nach  seiner  an- 
sieht schlechten  —  im  märe  bezieht  er  das,  wol  sehr  nachträg- 
lich, auf  die  damals  auch  in  Steiermark  aufkommenden  raubritter 
(532,  5 ff);  im  Hede  findet  sich  davon  keine  spur,  ihr  worl  be- 
zaubert ihn  immer  noch  (533,  26  diu  kan  sprechen  süeziu  wort, 
vgl.  525, 7  dö  si  sprach  daz  sileze  wort,  9  mit  ir  Worten  süezen), 
desgleichen  ir  urloup  und  ouch  ir  grüezen  (534,  7,  vgl.  ir  urloup, 
ir  grüezen  525, 11,  in  demselben  reim :  süezen)  und  ir  güete  (534, 10, 
vgl.  ir  güete  525,  3).  sie  kroenet  ihn  (534,  13),  wie  er  sie  denn  eben 
erst  in  xliv  als  gewaltic  küneginne  (525,  26)  über  sich  erkannt 
hatte,  auch  ihr  lachen  533,21  macht  ihm  noch  denselben  ein- 
druck  wie  zur  zeit  des  xliii  liedes  (s.  o.). 

Das  dritte  lied  (xlvi),  von  ihm  'Frauentanz'  genannt  (536,  9), 
fasst  die  bisherigen  tendenzen  des  höhen  muotes  summarisch  zu- 
sammen {Truren  ist  ze  wäre  niemen  guot,  wan  dem  einen  der 
sin  sünde  klaget  536,  15),  vergisst  nicht,  den  wol  redenden  munt 
wider  als  freudenquelle  zu  loben  (536,  21,  vgl.  xlv  u.  xliv)  und 
verbindet  mit  alldem  eine  Variation  seines  alten  preises,  den  er 
den  färben  seiner  dame,  braun,  rot  und  weifs  im  xxxix  liede  ge- 
sungen hatte;  ja,  fast  möchte  man  glauben,  er  habe  sich  bewust 
copiert :  denn  schon  dort  (508,  26)  hatte  er  an  die  farbenschilde- 
rung  den  —  damals  noch  nicht  so  trivialen  —  vergleich  seiner 
dame  mit  einen   engel   angeschlossen,    gerade   wie  hier  (537,8). 

Es  wird  aufgefallen  sein,  dass  von  den  liedern  des  zweiten 
Verhältnisses  sich  so  wenige  an  Ulrichs  würkliches  leben  an- 
knüpfen liefsen,  im  gegensatz  zum  ersten,     seine  dichtung  wird 


ULRICH  VON  L1CI1TENSTE1N  25 

mit  zunehmenden  jähren  immer  abstracter.  seit  1240  schon 
haben  die  frühlings-  und  winterlieder  aufgehört,  das  wxix  lied, 
gleich  nach  der  Arlusfahrt,  ist  das  letzte  winterlied;  von  da  an 
wird  der  Wechsel  der  Jahreszeiten,  der  bisher  ein  festes  gerippe 
für  die  crzählung  abgab,  immer  seltner  und  schliefslich  gar  nicht 
mehr  erwähnt,  ja  gerade  auch  mit  dem  zum  xxxix  liede  gehörigen 
stück  des  märes  beginnt  Ulrich  dessen  text  nur  noch  aus  den 
paraphrasen  der  längst  vorliegenden  lieder  zusammenzustöppeln, 
die  eigentliche  erzählung  des  FD  hört  auf. 

Nur  episodisch  kommt  noch  zweimal  handelndes  leben  in 
das  werk,  in  den  berichten  von  der  schlacht  an  der  Leilha  1246 
(525, 27-530, 12) J  und  von  Ulrichs  gefangenschaft  in  seiner  eignen 
Frauenburg  1248/49  (537,10—547,32).  dieses  Unglück  ist,  soweit 
die  Überlieferung  erkennen  lässt,  das  einzige  lebensereignis,  das 
seine  dichtung  noch  unmittelbar  angeregt  hat;  ein  so  kleines 
Vorkommnis  wie  jene  bejubelte  äufseruug  der  dame  zu  ihm 
(xliv)  wird  man   nicht  mitrechnen  wollen. 

Im  kerker  angeschmiedet  dichtet  Ulrich  ein  lied  (xlmi; 
ende  sommer  1248).  findet  ein  mann  in  solcher  hedränguis 
poetische  Stimmung,  so  dürfen  wir  gewis  auf  Wahrheit  des  ge- 
füblsausdrucks  rechnen,  und  an  wen  wendet  er  sich?  an  alle 
frauen  (Nu  hilf,  wibes  güele  545,3;  7.  12.  18);  dann  erst  gedenkt 
er,  allerdings  ausführlich,  der  seinen  (545,  24  ff)  :  durch  si  ere  ich 
elliu  wip.  er  fühlt  sich  als  den  berühmten  frauendiener  (545, 10), 
dessen  Verehrung  dem  ganzen  geschlechte  gilt  (545,  18);  seine 
vrowe  hat  nur  als  specialfall  wert  —  damit  ist  eins  seiner  ältesten 
und  wahrsten  motive  wider  an  der  Oberfläche  seines  Schaffens 
(vgl.  bes.  xi,  xiu,  xiv  ,  xv,  xx,  xxn,  xxiv,  xxv,  xxvi,  xxvu).  — 
den  verlassen  vor  sich  hinbrütenden  tröstet  das  bild  der  geliebten 
(546,  3f)  :  hier  nun  stellen  sich  mit  den  reminiscenzen  die  motive 
der  letzten  lieder  ein  :  ihre  färben  rot,  weifs,  braun  (xlvi, 
xxxix);  von  gepurt  ein  vrouwe .  .  .  von  lugenden  wip  546,  15  (vgl. 
508,28,  537,3);  ihr  lachen  (xliii),  ihr  mund  und  ihre  äugen 
(xliii;  536,  27  in  xlvi). 

1  527,  3  ist  Lachmanns  lesart  vor  (L)  gegen  Wackernagels  conjeetur 
von  (Gesch.  d.  deutsch,  litt,  i2  285  anm.  2)  zu  halten,  wäre  das  lied  von 
der  Leilhaschlacht  'von'  Ulrich  e  getihtet,  so  läge  so  wenig  wie  bei  all 
seinen  andern  liedern  ein  grund  vor,  es  jetzt  mangelnder  niuwe  wegen 
dem  leser  vorzuenthalten,    die  Leithaschlacht  hat  ihn  nicht  lyrisch  angeregt. 


26  BRECHT 

Dieselben  elemenle  bilden  das  nächstfolgende  lied  (xlvin), 
das  noch  unter  dem  eindruck  der  einjährigen  gefangenschafl  und 
der  erlittenen  ]besitzvcrluste  (549,  25)  entstanden  ist  (nach  dem 
September  1249).  sein  anfang  knüpft  unmittelbar  an  den  schluss 
des  vorhergehnden  an]: 

ir  muni  unde  ir  ougen  lieht, 
so  mich  diu  anlachent  —  (546,  21  ff): 
lind  mich  iwer  ougen  lachent  an  (549,20), 
dasselbe  ferner  549,27.  550,1.2.4;  so  mich  munt  und  ougen  lachent 
an  550,6.     ältere  motive  treten  hinzu  :  die  geliebte  gefangeniu 
seinem  herzen  550,  7  (xli,  xxxn,  viii),  mit  der  stcele  also  verrigelet 
550,9  vgl.  448,  16  im  ersten  tageliede  xxxvi  denselben  ausdruck; 
ihre  süeziu  wort  550, 17,  vgl.  xliv,  xlv  (beide  male  :  hort)und  xlvi. 

Die  lieder  xlix — lviii  (1249  <C  >  1255)  zeigen  keinerlei 
erkennbare  heziehung  mehr  zu  Ulrichs  leben,  sie  enthalten 
durchweg  reflexionen  ilher  die  minne,  meist  didaktisch  als  minne- 
lehre eingekleidet,  und  bezeichnen  so  als  gesamlheit  wie  in  vielen 
einzelheiten  den  inneren  Übergang  zum  'Frauenhuch'  (1257),  mit 
dem  die  entwicklung  des  jungen  liebeslyrikers  zum  alten  minne- 
didaktiker  abgeschlossen  ist. 

Diese  zehn  letzten  lieder  zeigen  mannigfache  zusammenhänge 
unter  sich  und  mit  früheren  liedern.  neue  motive  treten  kaum 
mehr  auf. 

'Nur  der  höfisch  gebildete  mann  hat  aussieht  auf  erfolg  hei 
einer  wahren  dame;  möchte  also  meine  hoffnung  sich  erfüllen!' 
ist  der  grundgedanke  des  xlix  liedes.  die  hehandlungsmotive 
entstammen  kurz  vorhergehnden  liedern.  so  ist  die  spielende  an- 
wendung  der  worte  liehen  —  lip  —  liep  —  übe  (554,7.  8.  10.  11) 
eine  reminiscenz  aus  lied  xlii;  ir  gebeerde  und  ir  güete  (554,17) 
hatte  er  schon  im  xlvii  liede  (546,20.  545,24),  ihr  lachen  zuletzt 
im  vorhergehnden  xlviii  gerühmt,  das  wünschen  in  der  schluss- 
strophe  (554,  20)  erschien  ihm  seit  dem  xiv  liede  (1228)  poelisch 
(s.  o.).  er  könne  sich,  wenn  er  gefragt  würde,  kein  besseres 
weih  vorstellen  als  seine  herrin:  mit  einem  ähnlichen  gedanken 
schloss  schon  xxxiv,  wo  behauptet  wurde,  auch  das  urteil  eines 
dritten,  wenn  er,  gleich  ihm,  ein  guter  frauenkenner  sei,  würde 
seine  dame  allen  andern  voranstellen,  und  xxxvn  (450,  3)  :  Wol 
wol  wol  mich,  daz  die  wisen  müezen  si  von  rehte  prisen.  — 


ULIUC1I  VON  LICHTENSTEIN  2 


1 1 


Den  ersten  teil  (slr.  1—3)  des  l  liedes  kOnole  man  Ulrichs 
elegie  nennen  :  es  ist  die  bei  so  vielen  minnesingern  übliche 
zeitklage,  deren  unerreichten  prolotypns  Wallhers  elegie  darstellt. 
Ulrich  ist  freilich  mehr  nur  verwundert,  dass  die  jungen  leute 
und  die  besitzenden  nicht  mehr  fröhlich  sind,  und  auch  den 
frauendienst,  das  beste  mittel  dazu,  verschmähen,  dies  mag  sich 
wilrklich  (anders  als  lied  xi.v,  s.  o.),  schon  als  es  gedichtet  wurde, 
auf  das  aufkommende  raubrittertum  bezogen  haben  (vgl.  das 
inilre  dazu  554,  27  II).  ihm  aber  —  sein  ältester  gedauke  —  atät 
durch  ein  guot  icip  sin  muot  hö. 

Dass  das  lied  im  herbst  entstanden  ist,  wird  in  der  ersien 
zeile  nur  noch  ganz  obenhin  angedeutet. 

Die  nächsten  fünf  lieder  (li — lv)  hängen  insofern  unter- 
einander zusammen,,  als  in  ihnen  allen  ein  moliv  eine  wesent- 
liche rolle  spielt,  der  nicht  neue1  gedanke  nämlich,  dass  die 
scheene  nur  wenn  sie  mit  der  güete  vereinigt  ist,  eine  frau 
liebenswert  machen  könne,  isoliert  kam  er  schon  früh,  im  vi 
liede,  vor  (110,  17  :  schwne  bi  der  güete  sldl  vil  wol  den  wiben). 
er  bildet  nun  durchaus  nicht  das  thema  der  fünf  lieder,  sodass 
man  etwa  an  absichtliche  Zusammenstellung  daraufhin  denken 
konnte,  durchdringt  sie  vielmehr  nur  in  abnehmender  geltung, 
die  sein  auftauchen  und  allmähliches  abklingen  in  der  seele  des 
dichters  verfolgen  lassen. 

Im  u  liede  entwirft  Ulrich  in  form  eines  ratschlages  sein  weib- 
liches und  männliches  ideal,  jenes  besteht  in  der  Vereinigung  von 
Schönheit  und  gute,  dieses  in  der  makellosen  ehrenhafligkeit.  beide 
sind  für  einander  bestimmt;  darauf  beruhtauch  Ulrichs  hoffnung. 

Im  lii  liede  stellt  Ulrich  fest,  dass  seine  herrin  diese  theore- 
tischen anforderungen  an  das  ideal  erfüllt  (ist  envollen  schwne 
und  dar  zuo  guot  563,16).  die  ausführungsmotive  in  beiden,  so 
eng  zusammengehörigen  gedichtet!  sind  älteren  dalums,  der  preis 
ihres  lachens  und  ihres  mundes  560,  19.  20  (vgl.  zb.  xlix,  xlmii, 
xliii),  die  huote,  im  Lichtensleinschen  specialsinne,  563,  17  (vgl. 
xvin,  408,  20  ff,  vom  jähre  1230),  ein  ausdruck  wie  küssen  hundert- 
tüsent  tnsent  slunt  563,22  (derselbe  522, 1.  2,  in  xliii.  entstanden 
1241  <>45). 

1  ähnlich  bei  Wallher  83,  6 ff.  86,  11  ff.  die  gleichen  anschauungen 
über  tugend  und  Schönheit  92,  21  ff.     vgl.  Wilmanns  Leben  Walthers  s.  185. 


28  BRECHT 

Der  gedanke,  Schönheit  und  gute  gehören  gleichermafsen  zur 
frau,  ziemlich  äufserlich  comhiniert  mit  dem  ehenfalls  im  minne- 
sange  nicht  seltenen  :  eine  vrowe  muss  wiplich  sein,  ergibt  das 
doppelthema  des  liii  liedes  (slr.  3,  str.  4).  —  das  zweite  dieser 
motive  hat  sich  aus  früheren  ausätzen  entwickelt: 
445,  20  ff  (xxxiv): 

sist  ein  frowe  von  gehurt;  so  ist  ir  süezer  Itp 
von  ir  lugenden  ein  vil  wiplich  wip. 
508,  14  ff  (xxxix): 

Si  hat  ir  wipheit  vil  wol  behüetet 
vor  unvr owenlicher  tat  — 
Vgl.  ferner  in  demselben  liede  508,  28  und  509,  1  (sie  ist 
vrowe;  sie  ist  wip) 

546,  15 ff  (xlvii),  vgl.  445,  20 ff: 
von  gepnrt  ein  vrouwe 
ist  si,  und  von  fugenden  wip  — . 
dies,  früher  nur  seiner  herrin  gellend,  wird  jetzt  verallgemeinert: 
hier  566,  17  ff  (liii); 

Wip  und  fr owen  in  einer  wcele 
sol  man  gerne  schouwen. 
swd  ein  vrowe  unwiplich  tccte, 
wer  mbht  der  getrouweti  ?  usw. 
Von  all  den  andern  dagewesenen  motiven  des  centonenhaften 
gedichtes  sei  nur  das  eren  Mieten  566,  23,    das  erst  im  vorher- 
gehnden  liede  vorkam  (s.  d.),  erwähnt. 

Auf  der  güete  neben  der  schodne  ligt  der  hauptton  im  fol- 
genden liede  (liv,  1252).  den  meisten  räum  im  gedieht  aber 
beansprucht  die  einkleidung  :  Wizzel  alle  daz  ich  kan  guoten 
wiben  in  diu  herzen  sehen  —  die  consequente  weiterführung  von 
Ulrichs  alten  lieblingsvorstellungen ,  die  ihn  sehen  liefsen,  was 
in  seinem,  was  in  seiner  frauen  herzen  beschlossen  lag  oder 
vorgieng  :  lied  vm,  xxxn,  xli,  xlii,  xliii  (s.  o.;  tugenden  in  ihrem 
herzen  schon  519,  3).  was  er  dort  findet,  sind  eben  güete  und 
tugent  (571,  21.  22);  darum  wird  er  nicht  müde  sie  mit  seinem 
augenblicklichen  lieblingsprädicat  immer  wider  als  ein  wiplich 
wip  zu  preisen  (572,  12.  15,  vgl.  561,20  in  Li,  549,23  in  xlviii; 
wiplich  572,  22.  26.  554,  18.  545,  14.  525,  3;  wipheit  534,  14. 
515,  19.  508,  14;  unwiplich  566,  19;  umeipheü  546,6). 

Dieses  eine  gedieht  genügte  Ulrich  noch  nicht,  um  die  vor- 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  29 

Stellung  der  tilgenden,  die  er  im  herzen  seiner  lierrin  erblickte, 
genügend  auszumalen;  daher  schliefst  das  lv  lied  in  seiner  zwei- 
ten slrophe  (richtiger  ersten,  vorher  nur  einleitung)  unmittelbar 
an  den  gedanken  von  liv,  im  anfang  seiner  dritten  sogar  im 
ausdruck  an  die  letzte  Strophe  von  liv  an  (zuht  572,  22  :  576,  17). 
die  aufzählung  ihrer  lugenden  geht  von  der  letzten  Strophe  von 
liv  ohne  weiteres  in  die  dritte  und  vierte  von  i.v  Ober,  der  aus- 
druck seiner  Sehnsucht  in  ihr  herz  zu  kommen  576,  23  stammt  aus 
dem  xli  liede  (s.  d.).  uiplich  576,  17  zweimal,  wipliclt  wtp  576,22. 
Schoene  und  güete ,  die  im  vorhergehnden  liede  noch  be- 
deutsam zusammen  genannt  wurden,  sind  hier  nur  noch  als 
nehenmotive,  und  gleichsam  latent,  vorhanden  (schoene,  guot  577,2, 
schoene  577,  3,  giiete  577,  20). 

Der  Zusammenhang    der    letzten  lieder  reifst  auch  weiterhin 
nicht  ah.     das  lvi  lied  ist  ganz  aus  alten  moliven  zusammengesetzt. 
Der  anfang  führt  einen  gedauken  des  lv  liedes  weiter: 
lv,  576,  213:  lm,  580,  17: 

—  ein  lip  so  minneclich  der  vil  reinielich  gemuoten 

der  n  fe  wandelmeil  gexcan   —      lip  begie  nie  missetdt. 

sist  ein  ivip  gar  wandelsvri  — 
Gleich  darauf  erweist  sich  ein  altes  motiv,  das  im  letzten 
liede  wieder  leise  angeklungen  war,  auch  hier  brauchhar  :  sein 
herz  will  aus  seinem  leibe  zu  ihr  580,  21  f,  vgl.  576,  23  f.  der  ge- 
danke,  in  dieser  form  aus  dem  xli  liede  (s.  o.)  stammend,  bat 
sich  nach  einer  vom  vm  liede  ausgehnden  Vorgeschichte  bis 
hierher  entwickelt,  wo  er  seine  stärkste  und  endgiltige  ausprägun^ 
erfährt  :  das  herz  will  aus  der  brüst  zu  ihr  springen,  ihr 
lachen  spielt  dabei  die  alte  rolle  (zuletzt  lvi  560,  19).  drei  Strophen 
sind  hiermit  bestritten;  was  folgt  ist  spielende  Verherrlichung 
des  kusses,  die  in  discrete  andeutung  noch  höherer  wonne  aus- 
läuft (5S0,  22  ff),  hiermit  sind  wir  wider  in  der  atmosphäre  (\c> 
tageliedes  angelangt. 

Die  hier  nur  schüchtern  bezeichnete  Situation  wird  im 
nächsten  liede  (lvii)  ausgeführt,  in  demselben  Stile,  den  das  tage- 
lied  dafür  ausgebildet  hat  (str.  4  u.  582,  17-23  :  das  in  die  äugen 
sehen,  vgl.  im  ersten  tageliede  448,6,  s.  o.);  dass  der  Zusammen- 
hang mit  lvi  bewusst  war,  zeigt  der  gleicherweise  verhüllende 
schluss  (583,26,  vgl.  581,22),  der  nach  diesem  liede  würklich  nicht 


30  BRECHT 

mehr  nölig  war.  von  lvi  zu  lvii  ligt  mithin  eine  deutliche  Stei- 
gerung des  gedankens  zu  grösserer  kühnheit  vor,  ähnlich  wie 
von  xxvm  zu  xxix,  in  den  wdnwisen.  und  wänwisen,  in  denen 
sich  die  unbefriedigte  phantasie  ergehn  muss,  sind  dies  auch, 
das  beweist  zum  überfluss  die  einkleidung  des  liedes  lvii  :  sein 
wünsch  (vgl.  wdn)  bewürkt  das  'wunder',  dass  er  seine  dame 
plötzlich  wie  mit  leiblichen  äugen  vor  sich  sieht  (582,  15  ff)1. 
wünsch  und  wünschen  füllen  die  zwei  einleitungsslropheu.  also 
auch  dieses  motiv  aus  der  frühzeit  seiner  lyrik  (schon  18,  14.  16 
in  i,  1222—23;  50,  5.  12  im  i  büchlein,  1223;  385,  17  ff  im  in, 
1227;  xiv,  1228;  s.  o.)  findet  jetzt  — zwischen  1252  und  1255 
—  seinen  höchsten  und  letzten  ausdruck. 

Der  anfang  des  letzten  liedes  (lviii)  könnte  im  ersten  augen- 
blicke  den  eindruck  hervorrufen,  als  ob  es  absichtlich  für  den 
abschluss  gedichtet  sei.  aber  da  die  ersten  Zeilen  nur  das  haupt- 
motiv  des  liedes  einleiten  sollen,  so  kann  Ulrich  sie  so  gut  wie 
alle  andern  einleitenden  verse  im  gleichmäfsigen  verlaufe  seiner 
zweiten  minne  gedichtet  haben: 

Ich  bin  her  bi  minen  stunden 

ofte  worden  minne  wunt  — 
aber  es  geht  weiter: 

dd  für  hdn  ich  helfe  funden: 

des  siht  man  mich  wol  gesunt. 
Im  folgenden  kommt  er  würklich  noch  einmal  auf  ein  wenig- 
stens für  seine  lyrik  neues  grundmotiv,  das  er  dann  aber  mit 
lauter  alten  nebenmotiven  behandelt  :  die  arzenie2  für  seine 
minnewunden  ist  der  anblick  seiner  herrin,  ihrer  liehten  färbe 
(584,11,  vgl.  zuletzt  xlvii),  das  hören  manches  süfsen  Wortes 
(584,16,  vgl.  zuletzt  xlviii);  da  tut  sein  herz  manchen  sprung 
(584,24,  vgl.  lvi;  auch  584,  26.  27,  vgl.  mit  liv,  insbes.  mit  572,7 
herzen  gründe),  wenn  ihm  dann  doch  die  schoene  und  guote 
(584,29,  vgl.  zuletzt  lv)  in  sein  herz  sehen  könnte  (585,1, 
vgl.  liv,  früher  xiv  und  xviii,  408,  29  Ql  Gott  weifs,  ihre  ere  ist 
ihm  lieber  als  die  seine  (585,  7,  vgl.  567,  11.  12;  bes.  561,  1. 
7.  14),  sein  leben  lang  will  er  ihr  dienen.  —  mit  ihrem  ältesten 

1  eine  minnewunder  schon   119,  22  (im  maere). 

2  vgl.  ESchmidt  Reinmar  von  Hagenau  und  Heinrich  von  Rugge 
s#  Hl  ff.  —  min  arzdt  ist  min  munt  Walther  von  Metze  HMS  i  307. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  31 

uutl   grundmotiv  (18,  8  io  i,  s.  o.),    das  vor  3:>  jähren  Ulrichs 
freudebedürftiger  seele  entsprang,  schliffst  auch  seine  lyrik: 

sist  min  tröst  für  (rüren1  und  min  freuden  (jebe. 
Ob  dieses  letzte  lied  des  Fl)  würklich  sein  letztes  lied  ge- 
blieben ist,  ist  freilich  nicht  sicher,  er  selbst  glaubte,  als  er 
sein  memoirenwerk  beendigte,  er  würde  noch  mehr  singen,  denn 
er  fordert  zugulerlelzt  freunde  seiner  kunst  auf,  künftige  lieder 
von  ihm  am  eüde  des  FD  nachzutragen  (592,221).  erhalten  hat 
sich  aber  aus  der  zeit  von  1255  bis  zu  seinem  mutmaßlichen 
todesjahre   1275  2  nur  das  didaktische  'Frauenbuch'  von    1257. 

Überschauen  wir  die  gesamtheit  von  Ulrichs  liedern,  so 
sehen  wir  eine  anzahl  niotive  auftauchen,  wenige  davon  wider 
verschwinden,  weitaus  die  meisten  nach  kleineren  oder  grösseren 
Zwischenräumen  in  veränderter  gestalt  wider  auftreten  und  mit 
anderen  wechselnde  Verbindungen  eingehen,  einige  lassen  sich 
durch  die  gesamte  lyrik  hindurch  verfolgen,  von  ihrer  einfachsten 
erscheinungsform  im  anfang  bis  zur  endgiltig  ausgebildeten  am 
schluss.     es  ligt  eine  deutliche  entwicklung  von  motiven  vor. 

Mehrfach  liefs  sich  sogar  die  entwicklung  vorzüglich  eines 
motivs  während  eines  engumgrenzlen  Zeitabschnitts  beobachten, 
solche  lieblingsmotive  brachten  dann  natürliche  gruppen  auf- 
einanderfolgender lieder  hervor,  die  wählend  einer  bestimmten  zeit 
ein  älteres  oder  neues  thema  vorderhand  oder  endgiltig  er- 
schöpften :  lieder  an  frau  Minne  (x ;  H.  büchlein;  xij,  Scheltlieder 
(\x — xxvi),  wdmcisen  (xxmi — xxxi),  liebeslieder  sinnlicher  färbung, 
vom  tageliede  ausgehend  (xxxvi;  xl — xlik);  lieder  auf  den  höhen 
muot  (xliv — xlm);  kerkerlieder  (xlvh,  xlmii);  lieder  auf  die 
schoene  und  güete  (u — lv);  sinnliche  lieder  (lvi — lvii).  ähnliche 
grundstimmung  zu  ein  und  derselben  zeit,  die  beliebtheit  ähnlicher 
slichworte,  vor  allem  die  häufig  festzustellende  enlstehung  der 
lieder  aus  erzählten  Situationen  heraus  erwiesen  den  Zusammen- 
hang der  lieder  unter  sich   und  mit  dem  leben. 

Aus  alledem  geht  hervor,  dass  die  lieder  in  der 
historisch  richtigen  reihenfolge   im  FD  stelin*,    natilr- 

1  derselbe  ausdruck  401,9  (xiv). 

-  vgl.  vFalke  Geschichte  des  fürstl.  hauses  Liechtenstein  (1868)  i  123. 

3  der  gleichen  ansieht  sind  Scherer  (Zs.  17,  575  fT;   Gesch.  d.  deutsch. 

litt.3  211)   und   Schönbach   (Biograph,  blätter  n  35/36).     Roethes    bedenken 


32  BRECHT 

lieh  im  ganzen  genommen ;  geringfügige  Umstellungen  mögen, 
der  besseren  wilrkung  wegen,  hier  und  da  vorgenommen  sein  ' ; 
doch  nicht  so  viele  oder  so  starke,  dass  sie  die  folgerichtige 
entwicklung  irgendwie  zu  beeinträchtigen  vermocht  hätten. 

Ohne  den  anschluss  an  die  würkliche  entstehungsfolge  der 
lieder  wäre  niemals  eine  fortschreitende  Seelenschilderung  von 
soviel  innerer  Wahrscheinlichkeit,  menschlicher  wie  poetischer, 
zu  erreichen  gewesen,  wie  das  lyrische  gesamtwerk  im  FD  sie 
darstellt,  und  wie  ich  sie  vereinfacht  nachzuzeichnen  ver- 
sucht habe. 

Schon  das  scharfe  auseinandertreten  der  drei  grofsen  lieder- 
gruppen,  deren  jede  ja  einem  andern  seelischen  zustande  evident 
entspricht,  wäre  sonst  undenkbar,  am  erkennbarsten  ist  die  ein- 
heit  des  inneren  und  äufseren  Zusammenhanges  bei  den  wdn- 
wisen,  die  alle  dasselbe  grundthema,  psychologie  des  'frauen- 
freien' mannes,  behandeln  und  alle  in  dasselbe  jähr  fallen,  aber 
auch  die  lieder  der  ersten  und  der  zweiten  minne  bilden  einheilen 
für  sich,  die  sich  deutlich  voneinander  abheben,  in  deren  jeder 
zusammenhänge  und  gleichartigkeiten  zu  constatieren  sind  2. 

Die  sechsundzwanzig  lieder  der  ersten  minne  fallen  vom 
23  (oder  25)  lebensjahre  des  dichters  bis  ins  32  (oder  34) 3,  und 
repräsentieren  würklich  eine  ausgesprochene  jugendlyrik.  schon 
ihre  gegenstände  zeigen  das.  hier  findet  sich  die  hauptmasse  der 
frühlings-  und  winterlieder,  die  noch  variationsfähigen  treue- 
gelöbnisse,  die  temperamentvollen  scheltlieder.  die  lieder  gehn 
wesentlich  auf  persönliches,  nicht  auf  allgemeines,  der  ton  der 
behandlung  wechselt  mit  der  Stimmung  des  dichters,  beide  mit 
der  Situation,  in  der  sich  der  bewegliche  gerade  befindet. 

Auch  den  wdnwisen  steht  lebhaftigkeit,  feuer,  wechselnder 
ausdruck  für  die  Stimmung  noch  ungeschwächt  zu  gebole.  jedoch 
der  trocknere  ton  minnetheoretischer  didaktik  kündigt  sich  schon 
daneben  an;  in  den  siebenundzwanzig  liedern  der  zweiten  minne 

gegen  die  chronologisch  richtige  folge  der  lieder  (Die  gedichte  Reinmars 
von  Zweter  s.  112)  vermögen  mich  nicht  zu  überzeugen. 

1  tatsächlich  seh  ich  keinen  grund  zu  dieser  annähme. 

8  auch  Schönbach  betont  den  unterschied  der  lieder  der  ersten  und 
der  zweiten  minne,  Zs.  26,  318. 

3  vgl.  vFalke  aao.  s.  59;  Knorr  s.  9;  Schönbach  aao.  s.  17;  Bechstein 
s.  xxiv  dagegen  setzt  Ulrichs  geburt  schon  1198  an. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  33 

(vom  34  bis  zum  56  lebensjahre)  verdrängt  er  mit  Beinen  spitz- 
liudigkeiteu  allmählich  den  alten  ton  der  lebensfrische,  die  pro- 
dnetion  lässt  nach,  die  lieder  werden  durchschnittlich  länger, 
dabei  leerer,  der  ton  gesuchter,  die  bis  zum  Bberdruss  betonte 
fröblichkeit  immer  gemachter,  man  glaubt  ihm  seine  lyrlk  nicht 
mehr  recht,  das  erste  Verhältnis  hatte  doch  leben,  wenn  auch 
ungesundes;  das  zweite  ist  nur  der  dichtung  wegen  da.  gesuchte 
metapbern,  oft  ohne  bildkraft,  treten  an  die  stelle  der  einfach- 
anmutigen« wenn  auch  traditionellen  vergleiche  der  ersten  periode. 
von  der  virtuos  stilisierten  empfind ung  bleibt  schließlich  nur  noch 
der  stil  übrig,  er  allerdings  in  unverminderter  kraft,  die  Sicher- 
heit der  band  bleibt  die  alte,  ja  sie  nimmt  noch  zu,  bis  zum  ende. 

Dagegen  schwindet  immer  mehr  die  kraft  der  erfindung,  und 
dies  ist  das  bezeichnendste  für  die  zweite  periode.  Ulrichs  lyrik 
lebt  schliefslich  ganz  von  alten  moliven. 

Sehr  viele  waren  es  von  vornherein  nicht  gewesen,  dafür 
entschädigte  manchmal  Originalität,  aber  auch  sie  wird  seltener, 
immer  be wuster,  gegen  ende  gar  fühlbar  angestrengt,  was  sind 
zb.  alle  formen,  in  denen  Ulrich  sein  hausen  im  herzen  der 
herrin,  das  ihre  in  dem  seinen,  ausdrücken  will,  anderes  als 
überdeutlich-geschmacklose  Übertreibungen  des  alten  einfachen : 
du  bist  beslozzen  in  minem  herzen  — ? 

In  der  erfindung  neuer  motive,  überhaupt  im  stofflichen  kann 
milbin  Ulrichs  bedeutung  nicht  liegen,  eine  andere  frage  ist  es 
mit  der  behandlung  des  gewonnenen  rohstoffes,  mit  seiner  Zu- 
sammenfassung und  Verteilung  im  einzeluen  gedieht  —  hier  be- 
ginnt eigentlich  erst  der  künstler  — :  mit  der  composition. 


ZWEITES    CAPITEL. 

COMPOSITION. 

Der  erste  schritt  der  form  zur  bewältigung  des  rohen  Stoffes 
ist  die  composition,  die  bewuste  oder  unbewuste  anordnung  der 
gedanken  und  empfindungen  nach  bestimmten  gesetzen. 

Darauf  hin  angesehen  lassen  sich  Ulrichs  üeder  in  fünf 
gruppen  teilen,  vier  davon  sind  rein  lyrisch,  ihre  Untersuchung 
im  folgenden  steigt  von  der  gruppe  der  lieder  mit  eiofachstem 
bis  zu  denen  mit  complicierteslem  aufbau  empor  :  eine  reihen- 
folge,  die  mit  der  anordnung  der  gruppen  nach  wachsender  an- 
zabl  der  zugehörigen  lieder  bezeichnenderweise  zusammenfallt. 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  3 


34  BRECHT 

die  fünfte  gruppe,  episch-lyrische  gedichte,  ist  isoliert  und  um- 
fasst  nur  zwei  lieder. 

A.    Lieder  mit  gleichmäfsiger  structur. 
Die  einfachste  art  des  liedes  ist  die,  in  der  ein  einziges  motiv 
ausgeführt  wird,  ohne  differenzierung  in  sich,  ohne  comhination 
mit  associierten  motiven,    sodass    das   gedieht  ein  gleichmäßiges, 
ununterbrochenes,  relativ  unbewegtes  ganzes  darstellt. 

Gleich  das  n  lied  drückt  in  allen  Strophen  nur  den  einen 
gedanken  aus  :  die  nacht  ist  Ulrich  lieber  als  der  tag.  nur  die 
erste  und  die  letzte  Strophe  sind  ein  wenig  herausgehoben,  in- 
sofern die  erste  natürlich  den  gedanken  mit  lebhafterem  einsatze 
ankündigt,  die  letzte  in  ihrem  beginne  sich  auf  den  anfang  der 
ersten  zurückbezieht,  und  den  schluss  des  ganzen  durch  sehnsüch- 
tigen ausruf  markiert;  die  drei  Strophen  dazwischen  haben  nur 
die  aufgäbe,  den  in  der  ersten  gegebenen,  in  der  letzten  aus- 
klagenden gedanken  dreimal  kunstvoll  zu  variieren. 

In  gleicher  weise  führt  das  vi  lied  den  einen  gedanken,  der 
dichter  ist  durch  seine  dame  unglücklich,  aus.  nur  noch  ein- 
facher :  anfangs-  und  schlussslrophe  fallen  als  solche  fort,  nur 
die  beiden  ersten  und  die  letzte  Zeile  des  ganzen  machen  durch 
ausruf  und  aufforderung  eiuigermafsen  beginn  und  ende  kennt- 
lich, in  jeder  der  drei  Strophen  erscheint  der  grundgedanke  in 
neuer  form  (110,7.  8;  26.  27.  111,  10.  11).  eiu  zu  beginn  jeder 
struphe  widerkehrendes  Stichwort  (yüete)  hält  aufserdem  die  Strophen 
zusammen. 

Das  genaue  gegenstück  hierzu  bildet  das  xxxvn  lied,  in  dem 
der  entgegengesetzte  gedanke,  er  ist  froh  durch  seine  dame,  eben- 
falls in  deu  langen  Strophen  dreimal  wechselnd  ausgedrückt  wird, 
die  Strophen  sind  durch  anaphorischen  beginn  (klimax  :  i  tcol 
mich,  ii  wol  mich  wol  mich,  in  tcol  wol  wol  mich)  und  durch 
widerkehrende  stichworte  (freude,  truren)  verbunden. 

In  allen  fünf  Strophen  variiert  das  zweite  scheltlied  xxi  nur 
den  traurigen  gegensatz  :  einst-jelzl ..  jedoch  zeigt  sich  eine  leise 
modificierung  darin,  dass  je  ein  stiophenpaar  den  Vorfall  mehr 
vom  jetzt,  ein  anderes  mehr  vom  einst  aus  ansieht;  beide  paare 
siud  ineinander  verschränkt  (str.  ii  iv,  str.  m  v;  n  ist  414,  16 
iv  müet  415,  5  :  in  begie  414,  23  v  was  415,  15).  die  erste  Strophe 
ist  im  ausdruck  allgemeiner,  was  nicht  wunder  nehmen  kann, 
der   schluss   ist    nur    äufserlich    durch    ein    ganz     kurzes    envoi 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  35 

(415,25.  26)    markiert,     gegen    die    gleichartigkeit   des    ganzen 
kommen  diese  leichten  ilnfseren   Veränderungen   nicht  auf. 

Das  xlviii  lied  endlich  verherrlicht  das  aussehen  und  die 
ballung  der  geliebten,  insbesondere  ihr  lachen,  in  fünf  Btrophen, 
denen  keinerlei  gedankenanordnung  zugrunde  ligt,  aufser  dass 
das  lachen  ausdrücklich  nur  in  den  drei  ersten  erwähnt  wird, 
das  eigentümlich  wirre  durcheinandergehn  der  motive  ist  vielleicht 
aus  seiner  eutslehung  zu  ei  klären  :  es  ist  das  erste  lied  das 
Ulrich  seiner  herrin  auf  das  widersehen  nach  der  mehr  als  ein- 
jährigen kerkerhaft  gemacht  hat;  in  der  freudigen  erregung  mag 
er  seine  offenbar  sehr  lebhaften  eindrücke,  die  interessanterweise 
sämtlich  reminiscenzen  früherer  eindrücke  darstellen  (s.  o.  s.  27 
0.  vgl.  FD  548,  1 — 5),  so  ungeordnet  ausgesprochen  haben. 

Diese    fünf   lieder   fallen    in    die   jähre    1223,    1228,   1231, 

1233  ff,  1249.     schon  früh  also,  und   noch  spät,   zeigt  sich  die 

freude  des  virtuosen  am  kuustmäfsigen  variieren  eines  themas.    am 

anl'ang  der  mhd.  lyrischen  kunstsprache  wären  sie  nicht  zu  denken. 

B.    Sich  steigernde  oder  zuspitzende  lieder. 

Element  der  gliederuug  eines  gedichtes  ist  die  gedanken- 
(oder  gefühls-)entwicklung.  die  einfachste  form,  in  der  sich  ein 
gedieht  von  gleichnuifsiger  struetur  dem  gegliederten  aulbau  an- 
nähern kann,  ligt  also  vor,  wenn  das  grundmoliv  vom  anfang  bis 
zum  schluss  sich  gleichmäfsig  entwickelt,  um  auf  der  hübe  ab- 
zubrechen, dazu  kann  drängendes  gefühl  treiben,  dann  hat  man 
es  mit  einer  Steigerung;  oder  dialektischer  verstand,  so  hat  man 
es  mit  einer  Zuspitzung  des  gedaukens  zu  tun;  beides  kann  auch 
zusammentreffen. 

Lieder  dieser  art  hat  Ulrich  zu  allen  Zeiten  seiner  lyrischen 
produetion  gedichtet  (sechs:  1222/23,  1226,  1232/33,  1233  ff, 
1241  <<  >  45,  1252  <C  >  55),  ein  beweis,  dass  diese  form 
einer  grundrichtung  seines  talentes  entsprach,  gleich  sein  erstes, 
jugendlich  reizvolles  lied  beginnt  mit  dem  lobe  der  trauen  in 
schüchterner  allgemeinheit  und  steigert  sich  mit  guter  würkung 
in  vier  Strophen,  deren  dritte  unerwartet  mit  directer  anrede 
einsetzt,  zu  liebeserklä'rung  und  dienstgelobnis.  iu  hastigen  kurz- 
versen  steigert  der  reie  xxix,  von  der  frühlingsschilderung  aus- 
gehend, die  empündung  ungestümer  lust,  von  Strophe  zu  Strophe 
deutlicher  werdend,  über  zwei  allgemeinere  miunestrophen  hin- 
weg, zur  Verherrlichung  des  kusses  (str.  4)  und  zur  umarmung, 

3* 


36  BHECHT 

in  der  fünften  slrophe,  die  er  mit  schalkhafter  frage  und  ganz 
kurz  daraufgesetzter  verhüllender  antwort  schliefst  (strophen- 
anfangsanapher  str.  2  u.  3,  responsion  des  artikellosen  Stich- 
wortes am  anfang  str.  4  u.  5).  ruhiger  als  dieses  brillante  bravour- 
stück  stellt  das  minuiglich  gespreizte  lied  lvi  genau  die  gleiche 
gefühlsentwicklung  dar.  heftige  Sehnsucht  erweckt  die  Vorstellung 
des  lachens  der  geliebten  (str.  2 — 3),  steigert  sich  zum  wünsche 
des  küssens  (str.  4 — 6)  und  der  diesmal  in  züchtigem  ernst  nur 
angedeuteten  umarmung  (str.  7).  nicht  soweit  geht  xlii,  das 
sich  über  Wortspiele  und  absurde  einfalle  hinweg  (s.  o.  s.  24)  zu 
der  pointiert  vorgetragenen,  durch  besonderes  envoi  noch  ver- 
stärkten schlüsselte  erheht,  ihn  in  ihr  herz  einzulassen. 

Es  leuchtet  ein,  wie  vorteilhaft  solche  art  des  gedanken- 
fortschrittes  für  ein  gespräch  sein  muss,  das  darauf  ausgeht,  einen 
einzigen  gegenständ  durch  rede  und  gegenrede  zur  höchsten 
wüikung  zu  bringen,  würklich  sind  alle  drei  dialoge  Ulrichs 
gleichmäfsig  nach  dieser  weise  gebaut,  der  erste,  x,  in  dem  er 
sich  über  die  hartherzigkeit  seiner  herrin  bei  frau  Miune  be- 
schwert, steigt  von  der  klage  zum  verlangen  nach  trost  auf,  und 
gipfelt  im  lebhaften  ausdruck  neuer  Vorsätze  und  frischer  hoff- 
nung.  Ulrichs  drei  Strophen  drängen  vor,  die  anlwortstrophen 
der  frau  Minne  halten  zurück  :  beide  unterredner  vereinigen  sich 
in  der  siebenten  Strophe  :  eine  sehr  anmutige  form  der  Steigerung 
durch  retardationen  hindurch  bis  zur  Schlusshöhe,  mehrverstandes- 
mäfsig  zugespitzt  ist  Ulrichs  dialog  mit  einer  dame  (xxx),  der  in 
eleganter  dialektik  der  conversation  das  wesen  der  minne  ausein- 
andersetzt, um  mit  plötzlich  hervortretender  Werbung  und  ebenso 
plötzlich  erfolgendem  korbe  witzig  pointiert  zu  schliefsen.  ein 
gleiches  ende  nehmen  die  übertriebenen  complimente  Ulrichs  in  dem 
charakteristisch  höfisch-gezierten  dritten  dialog  xxxn.  auch  hier  wie 
in  x  und  xxx  haben  die  Strophen  der  dame  retardierende  geltung, 
auch  hier  ist  die  letzte  Strophe  auf  beide  gesprächspartner  verteilt. 

Offenbar  hat  die  kunstvolle  Steigerung  zu  Ulrichs  Vorstellung 
vom  lyrischen  dialog  gehört,  in  den  anders  gearteten  dialog- 
partien  der  tagelieder  ist  er  durch  tradition  gebunden. 

C.    Lieder   die  allgemeines  und  specielles 
zusammenstellen. 

Die  bisherige  entwicklung  der  composition  lässt  sich  weiter 
verfolgen,     die  erste   möglichkeit   war,   den    gedanken   eines   ge- 


ULIUC1I  VON  LIECHTENSTEIN  37 

dichtes  ungegliedert,  höchstens  durch  variierung  nuanciert,  hin- 
zustellen, die  zweite,  ihn  durch  Steigerung  oder  Zuspitzung  am 
ende  schlagkraftiger  zu  machen.  nun  setzt  die  wirkliche  glie- 
derung  ein;  die  einfachste,  die  in  zwei  teile,  da  zeigt  sich,  dass 
alle  zweigeteilten  gedichte  L.s  nach  demselben  princip  geteilt 
sind  :  ein  allgemeiner  zustand  oder  ein  allgemein  gütiger  s;it/. 
wird  vorangestellt,  an  ihn  als  specialfall  analog  oder  antithetisch 
des  dichters  persönlicher  zustand  angeschlossen;  fast  immer  mit 
bewust  markiertem  ühergang.  der  Zusammenhang  mit  den  (be- 
grifflich) früheren  compositionsarten  verleugnet  sich  nicht  :  noch 
immer  handelt  es  sich  nur  um  einen  grundgedanken,  noch  immer 
spielt  das  variieren  eine  nicht  seilen  wesentliche  rolle  für  die  Pro- 
portionen des  gedichts. 

a.   Minnelehre  und  Ulrichs  persönliche  minne. 

Neigung  zur  minnedidaktik  zeigt  sich  bei  Ulrich  schon  früh, 
gleich  das  i  lied  beginnt  mit  einem  allgemeinen  minnesalze: 

Wibes  güete  niemen  mac 
volloben  an  ein  ende  gar  l. 

was  hier  nur  zwei  Zeilen  füllt,  wird  später  ausgeführt  und  bildet 
einen  eignen  teil  des  gedichtes,  der  mit  zunehmendem  lebens- 
alter  und  zunehmender  neigung  zur  didaktik  so  stark  an- 
schwellen kann,  dass  er  gelegentlich  den  allergrösten  teil  des 
liedes  ausmacht,  hinter  dem  die  darstellung  des  persönlichen  ganz 
zurücktritt. 

Das  wechselnde  Verhältnis  beider  teile  bildet  die  grundlage 
einer  systematischen  betrachtung. 

10  liedern,  in  denen  der  zweite  teilMes  gedichtes  gröfser  ist 
als  der  erste,  stehn  7  gegenüber,  in  denen  der  erste,  didaktische 
leilüberwiegt. 

Als  grundform  ergibt  sich  das  Schema: 
2  str.  -f-  3  str.: 

xlv  :  Ein  mann  ist  verloren,  wenn  er  nicht  durch  frauen 
froh  wird  (str.  1  u.  2)  :  Ich  bin  vrö  von  einer  rösen  —  (str. 
3 — 5,  mit  preis  der  rose). 

xlvi  :  Frauen  wollen  fröhliche  männer  sehen  (str.  1,  str.  2 
bis  zum   vorletzten    vers)  :  ich   will    immer  noch  mehr  froh 

1  aufserhalb  dieses  compositionstypus  findet  sich  der  sentenziöse  ein- 
gang  in  i.  xvi.  xxii.  li,  minnedidaktik  in  x.  x\x.  xlii. 


38  BRECHT 

sein  durch  die  meine   (bis  zum  schluss;    der   Übergang   fällt 
hier  schon  in  den  schluss  der  zweiten  Strophe). 

xlix  :  Nur  der  höfische  mann  hat  aussieht  auf  erfolg  bei 
frauen  (str.  1  u.„2);  dessen  getröstet  sich  auch  Ulrich  bei  der 
seinen  (str.  3 — 5;  ich  vers  554,  6;  kenntliche  anknüpfung 
mit  Und  — ). 

Lii  :  Man   soll    frauenlob    singen ,    denn    sie    verstehn    es, 
gut  zu  lohnen  (str.  1  u.  2);   so  sieht  man  auch  Ulrich  voller 
freuden,  wegen  einer  frau,  deren  lob  er  nun  singt  (str.  3  —  5).  — 
deutlicher  Übergang  563,13  ( — mich — ). 
Beide  teile  wachsen  um  je  eine  Strophe: 
3  str.  -f-  4  str.: 

xxm  :  Der  dichter  rät  allen  männern,  sich  durch  frauen- 
liebe höhen  muot  zu  gewinnen  (str.  1 — 3)  :  er  selbst  (Ich 
—  426,  24)  will  es  darin  nicht  an  sich  fehlen  lassen  (str.  4 — 7). 

Das  xxvi  lied  ist  ein  auszug  des  xxv,  des  leiches,  bei  dem 
der   zweite    teil    der    ausfuhrung    desselben    grundgedankens 
gar  doppelt  so  lang  geworden  ist  als    der  erste  :  14  gesätze 
gegen  7  gesätze,   die    grenze    befindet  sich  bei  424,  7    (Min 
muot  von  wiben  höhe  stdl);  von    da    an    ist  alles   darstellung 
persönlichen  glucks   und  Unglücks,  bis  dahin  alles  sachlicher 
minnerat  (423,  1  f:  Ich   rät   im,    ere  gerende,  man  —  —  Ob 
ir  weit  teerende  frext.de  hin,  so  sit  den  wiben  undertdn). 
Der  erste,  sachliche  teil  überwiegt  den  zweiten,  persönlichen, 
geringster  umfang  des  ersten  teils: 
3  str.  -f-  2  str.: 

xviii :  Die  bedeutung  von  huote  und  merken  im  allgemeinen, 
Ulrichs  vrouwe  kann  (ihrer)  hüeten,  aber  offenbar  kaun  oder 
will  sie  (seine  liebe)  nicht  merken,  stark  betonter  Übergang 
40S,  20  (Min  vrouwe—). 

xxm  :  Minne  kann  nicht  bestehn  ohne  triwe  und  steete: 
seine  dame  hat  keine  triwe  an  ihm  erzeigt,  ausdrücklich 
nutzanwendender  Übergang  419,22  (dd  bi  kius  fcÄ,  daz 
diu  he're  — ) l. 

1  möglicherweise  ist  dies  lied  um  zwei  Strophen  zu  vermehren,  es 
finden  sich  nämlich,  wie  schon  Lachmann  (zu  Walther  116,  33)  bemerkte, 
zwei  Strophen  seines  tones  zwischen  slr.  4  und  str.  5  des  folgenden  liedes 
xxiv  ungehörig  eingeschoben,  aber  nur  in  L.  Lachmann  folgerte  daraus: 
'ohne  zweifei  waren  sie  auf  dem  rande  nachgetragen,  und  fehlen  daher  der 


ULKICII  VON  LICHTENSTEIN  39 

Der  zweite  teil  wird  um  eine  Strophe  verkleinert: 

3  str.  +  1  slr. : 

vii  :  Freude  soll  man  durch  frauenliebe  haben;  dem  dichter 
aber  ist  we.    liier  erscheint  der  zweite  teil  bereits  zur  blofsen 
schlussslrophe  zusammengeschrumpft. 
Die  andre  möglichkeil  ist  die,  den  ersten  teil  zu  vergrößern  : 

4  s  t r.  +  2  str. : 

xxvu  :  Nur  frohgemute  mSnner  machen  eindruck  auf 
Trauen  :  darum  will  auch  Ulrich  seinen  zornmul  lassen,  be- 
tonter Übergang  428,  25  (Ich  wil  hohes  muotes  sin  — 
usw.). 

Die  anschwellung  des  ersten  teiles  ist  hier  durch  gekreuzte 
parallelslrophen,  also  durch  Variation  des  ausdrucke,  erreicht: 
str.  2  und  4  sagen  negativ  eingekleidet  dasselbe,  was  str.  1  und 
3  affirmativ  ausgedrückt  hatten. 

lis.  G  gänzlich',  es  fragt  sich  nun,  ob  dieser  nachtrag  unter  U.s  autorisation 
stattgefunden  hat  oder  nicht;  dass  die  Strophen  von  ihm  stammen,  ist  nach 
Stil  und  metrum  zweifellos,  findet  man  grund  genug,  das  erste  anzunehmen 
(es  könnten  auch  Strophen  sein,  die  aus  einem  frühern  liederliche  unerlaubt 
nachgetragen  worden  Bind,  während  Ulrich  selbst  sie  bei  der  von  der  ab- 
fassung  des  liedes  durch  24  jähre  gelrennten  redaction  des  FD  etwa  aus 
poetischen  gründen  unterdrückt  halte),  so  ist  man  verpflichtet,  die  Strophen 
wider  einzustellen.  Lachmann  wölke  sie  aao.  zwischen  str.  3  u.  4  von  xxm 
einschieben;  er  hatte  sich  in  seiner  ausgäbe  begnügt,  sie  am  alten  orte  ein- 
geklammert stehn  zu  lassen.  Beckstein  s.  141  anm.  hat  die  Umsetzung 
bestritten;  und  in  der  tat  geht  es  nicht  an,  den  scharfen  Übergang  vom 
allgemeinen  minnesalz  des  ersten  teiles  zur  persönlichen  anwendung  des 
/weiten  419,  22  {da  Li  kius  ich  usw.)  durch  einschub  zu  unterbrechen, 
dagegen  passen  die  Strophen  vorzüglich  an  den  schluss,  hinter  str.  5;  in 
der  responsion  des  strophenanfanges,  die  Ulrich  zur  kennzeiclmung  von 
zusammengehörigen  gedichtteilen,  auch  Schlüssen,  liebt  (s.  u.  cap.  m),  wie 
auch  im  gedankengang.  wir  hätten  dann  nämlich  eines  jener  gedichte  vor 
uns,  die  den  compositionstypus  C  (allgem.  -f-  spec.)  durch  hinzufügung  eines 
dritten,  widerum  allgemeinen  teiles  ganz  oder  nahezu  symmetrisch  abrunden  ; 
vgl.  unten  unter  D  zb.  das  xxu  lied,  das  aus  2  allgemeinen  -4-  3  speziellen 
-f-  2  allgemeinen  Strophen  besteht,  das  Schema  von  xxm  wäre  dann: 
typus  D  (3  -f-  2  -f-  2).  —  der  einwurf  Bechsteins  aao. ,  durch  die  end- 
anfügung  würde  'der  eindruck  der  Schlusswendung  beeinträchtigt',  ist  nicht 
ausschlaggebend,  es  wäre  ja  möglich,  dass  U.  um  des  persönlich  pointierten 
Schlusses  420,  7  Milien  die  fraglichen  Strophen  später  weggelassen  hätte, 
im  allgemeinen  legt  gerade  er  gar  keinen  wert  auf  würkungsvolle  Schlüsse, 
das  moderne  bedi'ufnis  am  schluss  raketen  steigen  zu  lassen  ist  ihm,  ver- 
schwindende ansalze  abgerechnet,  noch  ganz  fremd. 


40  BRECHT 

Der  erste  teil  wächst  noch  weiter: 
5  str.  -j-  2  str.: 

xxxvni  (2.  uzreise)  :  sachliche  anweisung  zur  rittertugend 
im  turuier;  ruf  nach  den  waffen,  um  die  lehre  gleich  selbst  zu 
betätigen.  Übergang 457, 27  {—mansol  mich  hiute  schouwen—). 
liv  :  Der  dichter  sieht  allen  frauen  in  die  herzen;  er  hat 
auch  seiner  herrin  ins  herz  geseheu.  markierter  Übergang 
572,  12  (Ich—). 

In  den  letzten  zwei  fällen  würkt  der  zweite  teil  vollends  nur 
als  abschliefsende  nutzanwendung. 

b.  Zustand  der  natur  oder  menschen  weit  und 

Ulrichs  persönlicher  zustand. 
Die  rolle  des  allgemeinen  braucht  nicht  ein  minnesatz,  eine 
geltung  beanspruchende  reflexion  zu  spielen;  an  seine  stelle  tritt 
in  einigen  fällen  ein  anderes  allgemeines,  natur  oder  menschen- 
weit  oder    beides   zusammen.      mit    ihm  wird   dann    ebenso   des 
dichters  persönlicher  zustand  zusammengestellt. 
Auch  hier  ist  das  grundverhälinis: 
2  str.  -f-  3  str.: 

xxxi  :  Die  vöglein  singen  im  frühling;  so  singt  auch  er  — 
nämlich  von  guoten  wiben.  ausdrücklicher  Übergang  437,  3 
(—ich—). 

Dieser  fall,  dass  Ulrich  sich  allein  mit  der  natur  vergleicht, 
ist  bei  seiner  überwiegenden  richtung  auf  menschliches  Sin- 
gular, in  den  folgenden  liederu  vergleicht  er  sich  mit  beidem 
zusammengenommen. 

v  :  Der  sommer,  die  zeit  des  frauendienstes,  ist  vergangen, 
der  verhasste  winter  kommt  :  was  soll  vollends  er  mit  dem 
winter,  da  schon  der  sommer  nicht  gebracht  hat,  was  er 
wünschte?  —  markierter  Übergang  104,  23  (betontes  mir). 
xvii  :  Der  sommer  ist  gekommen;  in  dieser  freudenzeit 
preist  man  die  frauen  :  damit  preist  er  die  seine,  ausdrück- 
licher Übergang  406,  15  (ja  mein  ich  die  frowen  min). 

xxxiv  :   Der  winter  weicht,  mit  ihm  sorge  und  angst  der 

menschen   :  so    will    auch    er   hohes    muotes   sein    (445,  1 1 

—  ich  — ). 

Der  erste  teil  wächst  an,    weil    sein   inhalt   vom  dichter  als 

besonders  traurig  empfunden  wird;  dem  gegenüber  schrumpft  der 

zweite  teil  zusammen: 


ULHICII  VON  LICHTENSTEIN  11 

3  s  t  r.  -f  2  s  t  r. : 

l  :  Der  sommer  ist  verschwunden,  was  ligt  viel  daran? 
viel  trauriger  ist  der  beklagenswerte  zustand  der  Zeitgenossen, 
die   nicht    mehr    frühlichen    minnedienst   treiben    wollen  \  er 

selber  allerdings  ist   frohgemut  durch  eine  frau.    —    schule 
grenzscheide  zwischen  556,8  und  9  (betontes  mir — ). 

Zu  einer  würklich    ausgeführten    naturschilderung   kommt 
es  in  den  drei  letzten  liedern  nicht,  das  l  lied  zeigt  den  grund 
da  für  mit  besonderer  deutlichkeit  :  die  natur  war  ihm  wesent- 
lich doch  nur  litterarisches  motiv.  — 
Auch    die    soeben    besprochene    compositionsweise    ist   nicht 
an  eine  bestimmte  periode  in  Ulrichs  leben  gebunden,    die  nach 
ihr   gebauten   lieder   finden   sich    vielmehr   von  dem  (vermutlich) 
dritten  jähre  seines  dichtens    1224    an,   bis  1252.     nur  dass  <Jie 
lieder  mit  ungewöhnlich  angeschwollenem  lehrhaften  teil  in  spätere 
jähre  fallen  —  xxxu,  xxxviii,  liv  in  die  jähre  1233,  nach  1233, 
und  1252  —  ist  wol  nicht  zufällig. 

D.  Symmetrisch  gebaute  lieder. 
Die  letztbehandelte  composilionsart  war  geeignet,  einen  ge- 
danken  zweigliedrig  auszudrücken;  der  gedanke  tat  damit  gleich- 
sam einen  Listen  schritt  aus  sich  hinaus,  aber  es  war  nur  eine 
Ode  vergleichung,  die  damit  erreicht  wurde,  noch  fehlte  die 
Möglichkeit,  dass  der  gedanke  wider  zu  sich,  zu  seinem  aus- 
gangspuncte,  zurückkehrte;  geschlossene  gedankenreihen,  ge- 
fühlscomplexe  konnten  nicht  ausgedrückt  werden,  ebensowenig 
war  es  der  Zweiteilung  möglich,  den  gedankengang  eines  ge- 
dichtes  aufwärts  zu  einer  pointe  und  wider  herunter  zu  einem 
allgemeinen  gedanken,  die  gefühlsentwicklung  zu  einem  höhepunct 
intensivsten  ausdruckes  empor  und  wider  zurück  in  die  ruhe 
zu  führen,  all  diese  müglichkeiten  erreicht  erst  die  drei-  — 
oder  mehr-  —  teiluug.  sie  vervollständigt  die  beiden  vorher- 
gehnden  composilionsarten,  die  gewissermafsen  nur  ein  halbes 
oder  zweidrittel  gedieht  zustandebringen  :  der  einteilung  allge- 
meines -|-  specielles  fügt  sie  abrundend  das  allgemeine  wider 
an;  die  gedichte,  die  nur  eine  Steigerung  zu  einem  höhepunete 
darstellen,  macht  sie  geschlossen,  indem  sie  den  abstieg  dem 
anstiege  zugesellt. 

Das     schon     hierin     sich     aussprechende     bedürfnis     nach 
harmonie   der   teile   ist  die   Ursache,   dass   alle  drei-  und  mehr- 


42  BRECHT 

geteilten  gediente  Ulrichs  sich  als  symmetrisch  gebaut  heraus- 
stellen *. 

Diese  Symmetrie  kann  so  beschaffen  sein,  dass  sich  ein 
markierter  höhepunet  vorfindet,  der  consequentenveise  häufig 
in  der  mathematischen  mitte  des  gedichtes  ligt;  an  ihm  wird 
dessen  hauptinhalt  in  der  kürzesten  form  als  quintessenz  aus- 
gesprochen (achse  des  gedichts).  oder  das  lied  entbehrt  eines 
solchen  höhepunetes  und  begnügt  sich  damit,  in  genau  corre- 
spondierenden  gleichen  teileinheiten  sich  zu  entfalten. 

a.   Dreiteilige  li  eder. 
Die  einfachste  form    des   dreiteiligen  liedes  ist  natürlich  die 
nach  dem  Schema: 

1  s  t  r.  +  1  s  t  r.  -}-  1  s  t  r. 
dh.  jede  Strophe  enthält  einen  nur  ihr  eignen  teilgedanken.  nach 
ihm  ist  nur  ein  lied,  das 

xv.  gebaut,  str.  1  sucht  bei  allen  guten  frauen  freundes- 
rat  gegenüber  seiner  dame,  um  die  der  dichter  so  klagen 
muss,  dass  er  in  den  ruf  des  kopfhängers  kommt;  str.  2  spricht 
den  vorsatz  aus,  sich  gegebenenfalls  anderswo  umzutun; 
str.  3  wendet  sich  wider  an  die  guten  frauen  und  kehrt  zum 
anfangsgedanken  zurück  :  erhöre  ihn  seine  dame  doch  noch, 
so  würde  er  ohne  jenes  gewallmittel  seinen  alten  frohsinn 
zurückgewinnen,  die  hauplsache  im  gedieht,  zugleich  der 
höhepunet  der  Stimmung,  befindet  sich  genau  in  der  mitte, 
der  auf  einen  die  halbe  zweite  Strophe  füllenden  conditional- 
satz  folgende,  energisch  prononcierte  vers  403,6: 

so  muoz  ich  suochen   durch  not  mir  ein  ander  Uz. 
bis  dahin  ist  alles  langsamer  aufstieg,  von  dort  an  lässt  die  er- 
regung  nach  und  langt  in  derselben  zeit  wider  beim  anfäng- 
lichen   zustande   an.     um    diese  achse  gleichsam  dreht  sich 
das  lied. 
Diese  grundform  lässt  sich  weiter  entwickeln,    anfangsstrophe 
und  schlussstrophe  zwar  erweitern  sich  nicht  leicht,   da   sie  re- 
spondieren,  ihre  vergröfserung  also  schon  eine  beträchtliche  Ver- 
änderung   des   gedichtes  bewürkt.     desto  entwicklungsfähiger  ist 
der  mittlere  hauplteil,    der  den  grundgedanken  trägt,     es  ergibt 
sich  zunächst  das  schema 

1  mit  ausnähme  von  drei  liedern,  bei  denen  es  durch  erkennbare  Ursache 
nicht  zur  mathematisch  genauen  Symmetrie  gekommen  ist.     s.  u. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  r.\ 

1  str.  +  2  str.  +  1  slr. : 

IX.  Schilderung  des  niais  als  ei  nleitu  ng  :  str.   1;   Ulrich 
ist  unglücklich  trotz  des  mais,  in  zwei  parallelstrophen  ausge- 
drückt: ßtr.  2  und  3;  als  scbluss  erwabnung  des  augenblick- 
lichen zeitpunctes  (Romfahrt)  und  fUrbitte  für  die  dame:  str.  l. 
Der  mittelteil  wird  weiter  vergrößert: 
1  s  t  r.  +  3  s  t  r.  +  1  s  t  r. : 

iv.  Erste  Strophe,  ein  I  e  i  tun  g  :  Schilderung  des  maien; 
zweite,  dritte,  vierte  Strophe,  ha  u  p  tteil  :  schwankende  hoff- 
nungen  auf  erhörung  durch  seine  dame;  fünfte  Strophe, 
schluss:  preis  des  maien.  quintessenz  und  böhepunct  des 
inhalts,  das  ziel  seiner  sehnsüchtigen  holTnungen,  in  der 
zweiten  hallte  der  mittelsten  (dritten)  atrophe,  durch  drei- 
malige anaphora  gekennzeichnet: 

Daz  diu  vrewle  lange  wer, 
daz  ich  weinent  iht  erwache, 
daz  ich  gegen  dem  tröste  lache, 
des  ich  von  ir  hulden  ger. 
xix.    str.    1  :  der  dichter  ist  froh  im  gegensatz  zur  (herbst- 
lichen)    well;    Strophe    2,  3,  4  :  grund   seiner  freude  :  seine 
dame  'lullet'  ihn  vor  traurigkeil;  Strophe  5  :  verhüllte  angäbe, 
wodurch  etwa  seine  freude  aufhören  könnte  ;   und  was  daraus 
entstünde.  —  hauptsache  und  höhepunct  in  der  mittelsten 
Strophe,  410,  9—11  : 

Hueten  ist  den  seilenden  leil: 
also  wünneclichiu  huote 
wäre  mir  ein  swlikeit. 
Der  ganze  mittelteil,  dh.  also  eigentlich  das  lied,  spielt  näm- 
lich   mit    dem    als    Stichwort    aus    dem    vorhergehnden    liede 
übernommenen  begriff    der   huote   (in    Lichlensteinischer  Um- 
bildung, s.  s.  8).   hier  zeigt  sich  zum  ersten  male  die  leitende 
bedeutung  des  Stichworts  für  die  composilion  :  anfangs-  und 
schlussstrophe  haben  es  nicht,  die  drei  hauptleilslrophen  da- 
gegen sind    erfüllt  von  hueten  und  huote,  die  mittelste  hat  es 
drei-,  die  zweite  und  vierte  je  eiumal. 
Die  erweiterung  des  mitlelteiles  schreitet  fort: 
1  str.  -4-  4  str.  -f-  1  str. 

xiv  :  auch  hier  leitet  schon  das  Stichwort  auf  die  richtige 
erkenntnis  der  composilion.    eine  einleituugsstrophe,  unglück 


44  BRECHT 

durch  seine  dame,  am  ende  mit  Vorbereitung  auf  das  Stich- 
wort (399,  13 — 15),  das  aber  —  raffiniert  —  auch  am  anfaug 
der  zweiten  Strophe  noch  nicht  erscheint,  sondern  diese  holt 
noch  einmal  aus  und  kommt  erst  in  ihrer  mitte  auf  das 
wünschen,  das  nun  die  vier  mittelstrophen,  bis  zur  mitte 
der  vierten  Strophe,  erfüllt,  intensivster  ausdruck  des  lied- 
inhaltes,  also  höhepunct,  genau  an  der  mittelachse, 
400,  10.  11; 

er  [der  wünsch)  wünschet  dar  [an  ir  munt]  wol  tüsent  stunt, 
näher  unde  naher  baz  und  aber  baz. 
Eine  schlussstrophe  :  sie  verlassen?     nein  1  — 

Dasselbe  Schema  der  Symmetrie  ligt  trotz  anderem  an- 
schein  vor  in  xliii.  Strophe  1  :  einleitung,  freude  durch 
seine  dame;  Strophe  2 — 5  :  der  grund  davon  :  ihr  lachen  — 
Stichwort,  nur  in  diesen  Strophen  vorkommend,  dieser  mittel- 
teil  ist  durch  übergreifen  eines  Strophenpaares  über  das 
andre  weiter  modificiert.  Strophe  2  kündigt  der  herrin 
zweier  hande  lachen  (521,  1)  an,  Strophe  3  preist  einez  (521,7) 
davon,  Strophe  4  das  andere,  Strophe  5  nimmt  das  motiv  von 
Strophe  2  ausleitend  wider  auf. 

Der  schluss   sollte   nun    der  Symmetrie  wegen  nur  6ine 
Strophe  umfassen,  es  sind  aber,    da  er  gerade  die  Schönheit 
der  dame  preist,    unversehens  zwei  daraus  geworden   (str.  6 
u.  7)  :  ein  fall,  der  noch  öfter  begegnet.     Schema: 
1  str.  4-  4  str.  +  2  str. 

Die  Symmetrie  ist  also  nicht  fehlerlos  zum  ausdruck  ge- 
kommen; die  structur  des  gedichts  ist  deswegen  doch  sym- 
metrisch, und  zwar  ohne  höhepunct  :  Strophe  3  und  4  bilden 
gleichmäfsig  den  gipfel,  Strophe  2  steht  5,  Strophe  1  steht 
6  und  7  gleich,     um  es  einmal  als  curve  darzustellen : 

III — IV 

/  \ 

n  v 

/  \ 

I  VI — VII. 

Die  vergröfserung  des   mittelteiles   erreicht,   da  Ulrich  über 
siebenstrophige  lieder  nicht  hinausgeht,  ihren  gipfel  in  der  form: 

1-1-5  +  1: 

xx.  Strophe  1  :  klagender  anruf  aller  edeln  frauen  ;  Strophe  2 
bis    6    klage    über   seine    dame,    mit   höhepunct  an   der    ge- 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  45 

natien  mittelachse,  in  der  ganzen,  hoch  pathetischen 
vierten  Strophe  :  Si  rouberinne  etc.  Strophe  7  guter  ab- 
sclilnss  :  drohung.  —  das  ansteigen  der  erregung  in  Strophe  2 
und  3,  ihr  nachlassen  in  den  nur  nachtrage  gebenden,  mühsam 
verschweigenden  Strophen  5  und  6  ist  unverkennbar,  be- 
sonders charakteristisches  gedieht,  um  so  hervorragender,  als 
es,  nach  dem  wahren  ausdruck  der  empfindung  zu  schliefsen, 
offenbar  im  affect  gemacht  ist.  die  subjeetive  Wichtigkeit  des 
hauptteiles  erklärt  natürlich  hier  seine  grofse  ausdehnung. 

Lvii.  str.  1  :  einleitung  :  wünschen  macht  dem  dichter 
freude.  str.  2 — 6  :  sein  wünsch  führt  ihm  die  vision  vor,  die 
in  der  mittelsten,  vierten  Strophe,  als  hauptin  halt  des 
gedichtes,  geschildert  wird  : 

Zuo  uns  kam  diu  werde  Minne 
unde  slöz  uns  beide  vaste  in  ein  usw. 
str.  2  und  3  führen  zu  dieser  Strophe  hin,  indem  2  ihren 
Inhalt  ankündigt,  3  ihn  mit  verhüllenden  Worten  andeutet, 
das  Stichwort  wünschen  behalten  beide  noch  bei.  nachdem 
das  ziel  des  wünschens  aber  offen  beschrieben,  leiten  5  und  6 
wider  zurück,  indem  5  im  allgemeinen  die  umarmung  preist, 
6  im  besondern,  auf  Ulrich  (Ich  583,  13)  und  seine  hoffnung 
bezogen,  als  schluss  (str.  7)  dient  hier  einmal  ein  allgemeiner 
minnesatz  (der  sich  aus  dem  vorhergehnden  ergebende),  wie 
er  sonst  gelegentlich  den  a  usgangsp  u  net  bildet;  das  ganze 
gedieht  bis  dahin  ist  ja  rein  persönlicb.  wäre  nicht  der 
deutlich  symmetrische  aufbau  mit  seinen  proportionen,  so 
würde  man  das  lied  gewissermafsen  als  nach  dem  schema 
6  Strophen  specielles  +  1  Strophe  allgemeines  (umkehrung 
der  compositionsart  C)  gebaut  aulfassen  können,     curve: 

/,V\ 

/UI  \ 

i.  vi 

v  VII 


Der  erweiterung  fähig  sind  natürlich  auch  anfang  und  schluss. 
in  vier  fällen  findet  die  erweiterung  statt,  ohne  dass  der  mittel- 
teil  ebenfalls  vergröfsert  wird,  infolgedessen  wird  die  Vorwärts- 
bewegung eine  gauz  andere,    der  mittlere  teil  gerät  als  haupt- 


teil in  gefahr. 


46  BRECHT 

Die  einfachste  ervveiteruug  bietet  das  Schema  : 

2  +  1  +  2: 

xin.  str.  1  und  2  enthalten  als  einleitung  den  preis  des 
maien  und  den  vergleich  der  dame  mit  ihm;  wie  er  möge  sie 
dem  dichter  trost  gewähren,  welcher  trost  dies  sein  soll, 
deutet  die  dritte,  mittelste  Strophe  an ;  sie,  und  mit  ihr  das 
ganze  gedieht,  gipfelt  in  den  sehnsüchtig-pathetischen  fragen 
(mittela  chse) : 

Wenne  kumt  mir  freuden  schin? 

wenne  wiltu,  soelic  frowe,  gefreun  daz  sende  herze  min? 
str.  4  und  5  gehören  zusammen  wie  1  und  2.  sie  schliefsen 
ab,  indem  sie  die  dame  bitten,  den  dichter  allen  guten  frauen 
zu  lassen,  oder  besser,  nach  dem  vorbilde  guter  frauen  ihn 
zu  erhören,  an-  und  abstieg  sind  besonders  deutlich  ab- 
gesetzt. 1  und  2  sind  parallelstrophen,  in  denen  doch 
dadurch,  dass  die  einzelnen  Wendungen  deutlicher  werden  und 
widerholten  fragen  widerholte  autwort  folgt,  sich  eine  unauf- 
dringliche Steigerung  zur  miltelhöhe  vollzieht  :  ein  hauptkunst- 
mittel  Ulrichs. 

xxxv    ist    genau    entsprechend    gebaut,     die  beiden  ersten 
Strophen,  parallelen   inhalts,  warnen  vor  dem  winter,  die 
mittelste  (3)  rät  das  hauptmiltel  gegen  ihn,  man  solle 
—  in  die  Stuben  wichen, 
da  mit  iciben  wesen  vrö. 
dies  ist  der  kern  des  gedichts,    genau  in  der  mitte  (achse). 
gleichzeitig  stellt  die   Strophe   den    Übergang  zu  str.  4  und   5 
dar,    die    mit   dem    nun    allgemeiner   gefassten  gedanken,    die 
frau  sei  des  mannes  trost,  den  naheliegenden  abschluss  bilden, 
eine    leichte    Verengerung   lässt  sich   in    den    beiden  parallel- 
strophen 1  und  2  bemerken  —  das  hiuser  splsen  der  zweiten 
Strophe  446,  11   führt  schon  auf  die  stuben  der  hauptslrophe, 
während    die    Warnungen    der    ersten    ganz    allgemein   waren; 
eine  deutlichere  findet  von  4  zu  5  statt  :  4  gilt  Ulrichs  liebe 
aller  frauen,  5  der  liebe  speciell  seiner  dame.  — 
Beginnen  schon  bei  diesem  Schema  anfang  und  schluss  den 
Charakter  selbständiger  gedichtteile  anzunehmen,  so  wird  bei  noch 
gröfserer  ausdehnung  dieser  partieen  gar  die  aufteilung  des  gedichts 
auf  zwei  gedanken  erreicht,  die  mittelste  Strophe  verliert  ihren 
Charakter  als  rest  des  hauplteils  und  erhält  einen  neuen  sinn. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  47 

3  +  1  +  3 : 

XLI.  slr.  1  —  3  :  der  dichter  sehnt  sich  in  das  herz  der 
dame,  mit  ihm  sein  höher  muot  (erstes  motiv);  slr.  5 — 7  : 
sein  höher  muot  ist  bereits  mit  ihr  in  seinem  herzen  (zweites 
motiv):  str.  4  verbindet  nun   beide  motive  : 

ich  hän   in   [nämlich    den   höhen  muot]  zuo  dir  geslozzen 

in  min  herze  — , 
genau  in  der  mitte  des  gedichts  (516,  3.  4,  m  ittelachse); 
der  hauptteil  ist  zur  übergangsstrophe  herabgesunken,  in  der 
allerdings  noch  die  quiniessenz  des  gediente,  aus  der  Ver- 
schmelzung beider  motive  hervorgegangen,  enthalten  ist.  geuau 
ebenso   verbindet  in 

xl\ii  die  mittelste  Strophe  (4)  die  zwei  motive  des  gedichts, 
den  preis  des  ganzen  weiblichen  geschlechts  (str.  1 — 3),  mit 
dem  speciellen  lob  seiner  herrin  (slr.  5 — 7),  in  sehr  geschickler 
weise  : 

durch  si  e're  ich  elliu  wip, 
so  verschmilzt  der  mittelste  vers  der  Strophe,  der  den  gedank- 
lichen   höhepunet    des    gedichts    darstellt    (genaue    m  ittel- 
achse   545,  27),    das   miner  vrowen   güete    im    ersten   mit 
allen  vrouwen  im  letzten  verse  derselben  Strophe.  — 
Eine    normalere    entwickluug    fiudet   statt,    wenn    mit    dem 
anfangs-  und  schlussteil  zugleich  auch  der  miniere  erweitert  wird, 
hierbei  wird  der  hauplteil  geschützt,  und  die  allen  proporlionen 
geraten  nicht  ganz  in  Vergessenheit. 

Alle  drei  teile  schwellen  um  je  eine  Strophe  an  : 
2  +  2  +  2: 

xxrv.  dem  einleitungsgedauken,  der  die  Sehnsucht 
nach  freude  und  ehre  ausdrückt  (str.  1—2),  folgt  als  haupt- 
teil die  anküudigung  des  enlschlusses,  der  sorge  valet  zu 
sagen  und  sich  der  freude  zu  ergeben  (str.  3 — 4).  den 
schluss  bildet  die  schon  am  ende  des  hauptteils  (421,  15) 
angedeutete  angäbe  des  mittels  zu  künftiger  freude  :  ein  guot 
wip  (str.  4 — 5).  —  die  drei  Strophenpaare  sind  analog  gebaut. 
1 — 2  und  3 — 4  respondieren  geradezu,  indem  1  wie  3  einen 
allgemeinen  satz  ausführt,  dem  in  2  wie  in  4  der  eigene 
speciallall  folgt  (ich  erst  am  ende  von  1  und  3,  420,  22. 
421,8;  dagegen  in  2  und  4  vom  ersten  verse  ab  durch- 
gehend) :  der   alte    compositionslypus,   allgemeiner  satz    und 


48  BRECHT 

persönliche  nutzanwendung,   hier  wird   also  einmal  zur  glie- 

derung  von  gedichtteilen   verwant.     aber    auch  von  5  zu  6 

fiudet,  wenn  auch  weniger  ausgeprägt,  eine  gewisse  speciali- 

sierung  in   den  hezeichnungen  für  die  erhoffte  freundin  (von 

guotiu  wip  bis  die)  statt,    der  schluss  knüpft  mit  ere  (422,  10), 

die  triiren  verhindert  (422,  10),  an  den  eingangsgedanken,  die 

gleichsetzung  von  freude  und  ere  (420,  23.  24),  wider  an.  — 

Der  hauptteil  wird  um  eine  Strophe  mehr  erweitert  als  anfang 

und  schluss.     es  entsteht  der  schön  proportionierte  aufbau 

2  +  3  +  2: 

xxii.  einleitung:  preis  der  guten  frauen  (str.  1 — 2); 
hauptteil  :  Scheidung  der  guten  von  den  falschen  (Übergang 
str.  3  v.  1 — 3),  polemik  gegen  seine  falsche  herrin  (str.  3 — 5); 
schluss  :  rückkehr  zum  preis  der  guten  frauen,  denen  die 
trennung  von  den  falschen  nur  zum  segen  gereichen  kann 
(str.  6 — 7).  —  dies  lied  ist  ein  prototyp  der  gedichte,  deren 
bau  man  als  Vervollständigung  des  typus  C  auffassen  kann  : 
str.  1 — 2  allgemein,  3 — 5  speciell,  persönlich,  6  —  7  wider 
allgemein,  str.  1 — 5  allein  wäre  als  Lichtensteinscb.es  lied 
nach  schema  C  2  +  3  durchaus  möglich  gewesen. 

xxxii.  begrüfsung  des  höhen  muotes  im  herzen  des  dichters 
(str.  1 — 2,  einleitung).  preis  der  frau,  die  ihm  den  höhen 
muot  gesendet  hat  (str.  3 — 5,  hauptteil),  sie  mit  ihm  zu- 
sammen in  des  dichters  herzen,  ausdruck  der  freude  wie  zu 
anfang  (str.  6 — 7,  schluss). 

xxxix.  der  winter  ist  widergekommen;  das  schadet  nichls: 
dem  dichter  hat  ein  weih  höhen  muot  gesendet  (vgl.  xxxn; 
str.  1  —  2,  einleitung).  preis  ihrer  vornehmen  und  huld- 
voll-anmutigen haltung  (str.  3 — 5,  hauplteil).  Schilderung 
ihres  äufseren,  ihrer  färben  braun,  rot,  weifs,  ihrer  art  sich 
zu  bewegen  (str.  6 — 7,  schluss). 

xliv.  dem  gewöhnlichen  einleitungsgedanken  :  höher 
muot  des  dichters  durch  ein  wip  (str.  1 — 2),  folgt  als  haupt- 
teil die  Schilderung  seiner  freude  über  ein  wort  der  dame 
zu  ihm  (str.  3 — 5,  das  Stichwort  wort  wider  nur  in  diesen 
drei  Strophen,  deren  letzte  in  ihrer  Verallgemeinerung  bereits 
den  Übergang  zum  folgenden  vorbereitet),  den  schluss 
macht  die  schon  in  den  letzten  zwei  versen  der  dritten  Strophe 
angekündigte  aufzählung   alles   guten,     was   er  von    ihr    hat 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  40 

(str.  6 — 7,  durch  anfangsanaphora  der  ersten  zeile  zusammen- 
gehalten). 

Diese  vier  lieder  haben  sämtlich  keinen  markierten  höhe- 
punct.  in  den  anmutigen  Verhältnissen  der  compositum  beruht 
ihre  ganze  würkung.  wol  nicht  zufällig  sind  bei  ihnen  die 
teile  besonders  deutlich  abgesetzt,  man  vergleiche  die  schallen 
teilgrenzen  des  xxn  liedes,  anfang  von  str.  3  und  6;  des 
xxxix  desgl.,  507,  27  und  508,  22;  und  namentlich  des  xliv, 
in  dem  die  eiusätze  Mit  rölsüezem  munde  —  524,  26  und 
Ich  hdn  von  ir  ere  —  525,  15  besonders  Irisch  würken.  die 
lieder  gehören  in  vieler  hinsieht  zu  den  gelungensten  Dlrichs. — 
Nach  demselben  Schema  gebaut,  aber  im  einzelnen  etwas 
anders  behandelt  ist  das  lied 

vhi.  thema  ist  hier  ein  metaphorisches  bild  :  der  dichter 
hat  seine  herrin  in  sein  herz  gelegt  (vgl.  soeben  xxxn  und 
s.  oben  s.  22).  dieser  gedanke  wird  in  der  ersten  ein- 
lei  tungsstrophe  (1)  sogleich  als  bild  angedeutet  (gevangen 
—  in  fanden),  die  zweite  einleitungsstrophe  führt  nur  den 
bildlosen  nachsatzgedanken  der  ersten  Strophe  aus.  erst  die 
dritte  nimmt  das  bild  wider  auf,  und  beginnt  so,  indem  sie 
zunächst  nur  die  Werkzeuge  der  fesselung  namhaft  macht,  den 
hauptteil,  dessen  mitte  in  str.  4  erst  den  höhepunet  des 
gedachtes  darstellt,  hier  sagt  der  dichter  endlich,  in  welches 
gefängnis  er  die  herrin  gelegt  hat  und  wer  dort  ihr  loos  teilen 
muss  (126,12 — 15,  mittelachse,  hervorgehoben  durch 
pathetische  anfangsanapher  zweier  verse).  den  hauptteil 
schliefst  die  erörterung  der  freilassungsaussichten  in  str.  5. 
die  Strophen  6  und  7  verraten  zum  schluss  in  nüchterner 
rede,  welcher  gedanke  hinter  dem  bilde  steckte;  nämlich, 
dass  die  dame  den  dichter  nicht  verhindern  könne,  so  oft 
und  so  herzlich  an  sie  zu  denken,  wie  er  wolle. 

Die   teilmotive   sind   also    hier   nicht   verschiedene    unter- 
gedanken    wie   bei  den  vorhergehnden  liedern  desselben  auf- 
baues,   sondern   nur  verschiedene  arten   den   einen,   sogleich 
vorgebrachten  grundgedanken  auszudrücken  :  angedeutet-bild- 
lich,  in  voller  ausführung  des  bildes,  unbildlich,     dabei  lässt 
sich  natürlich  ein  höhepunet  in  die  mitte  legen, 
b.  Vierteilige   lieder. 
Einige  lieder  sind   vierteilig   gebaut,     der  grund  ligt  darin, 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  4 


50  BRECHT 

tlass   sie   sämtlich  zwei,  mehr   oder  weniger  selbständige,  motive 
behandeln;  dadurch  wird  der  hauplteil  in  zwei  weitere  teile  zerlegt. 
Das  einfachste  schema  ist 
l-f-2  +  2  +  1: 

in.    str.  1  :        huldigung  an  die  herrin  (einlei tung). 

-  2 — 3  :  seine  bisherige  pagenhafte  Verehrung,!  — 

-  4 — 5  :  sein  jetziger  minnezustand  und  seine/  s  "Z 

zukünftige  hoffnung.  |£, 

-  6  :        ablehnung  der  niederen,   preis   der  hohen 

minne  (schluss). 

Es  handelt  sich  hier  also  noch  nicht  um  nebeneinauder- 
stellung  zweier  selbständiger  motive;  vielmehr  kommt  die 
zwiefältigkeit  des  hauptteils  dadurch  zustande,  dass  das  eine 
grundmotiv  des  gedichts,  die  nunmehr  offen  bekannte  minne 
des  dichters,  von  zwei  seiteu  angesehen  wird,  vom  standpunct 
der  Vergangenheit  und  von  dem  der  gegenwart  aus  (ebenso 
wie  oben  beim  zweiten  scheltliede  xxi  sein  ungliick).  jedes 
der  hierdurch  entstandenen  teilmotive  wird  in  einem  strophen- 
paar  parallelen  inhalts  ausgeführt,  str.  3  variiert  nur  im 
ausdruck  den  Inhalt  von  2,  str.  5  den  von  4  (vgl.  zb.  58, 
11.  12  mit  58,  5.  6;  58,  15  mit  58,  8;  58,  29  mit  58,  21). 
str.  2  wird  mit  3  durch  die  nur  ihnen  gemeinsamen  slichworte 
rät  und  riet  (58,  5.  9.  13)  und  durch  die  charakteristischen 
präterita  formal  zusammengehalten,  4  und  5  durch  das  über- 
gehn  der  rhetorischen  fragen  gleichen  sinnes  mit  anfangs- 
anapher  von  einer  Strophe  in  die  andre,  als  Übergang  zum 
Schlüsse  bringt  schon  der  letzte  vers  der  fünften  Strophe  das 
neue  Stichwort,  das  die  sechste  sogleich  stark  betont  aufnimmt, 
um  so  das  einsetzen  des  finales  zu  markieren. 

Genau  entsprechend  ist  der  bau  des  liedes 

xxvni,  nur  dass  hier  würklich  zwei  selbständige  motive 
nebeneinandergestellt  sind. 

Strophe  1  :  der  mai,  die  paarzeit  (einleitung). 

^   parallel-  2 }  .         ..  ,         .  . ,  ,.  .  . 

.„  >  zu  "Zweien  gibt  es  kein  leid  (l.motiv). 
Strophen  3/  D 

parallel-  4)    stete   liebe    heifst  minne,    sie  gibt  stete   freude 

Strophen  5  /  <2.  motiv). 

Strophe   6  :  Verschmelzung    der    motive    und    weudung    aufs 

persönliche  :  wünsch  des  dichters,  stete  liebe  zu 


- 


s 

CS 


ULRICH  VON  LICIITENSTEIN  51 

linden    und    damit    alle    sorge    zu    Überwinden 

(s  c  I)  I  u  s  s). 

str.  2  drückt  ihren  gedauken  affirmativ  und  negativ,  Btr.  3 

denselben  nur  affirmativ  aus.     beide  werden  Bürgerlich  durch 

Strophenanapher  (Swd  — ;  dasselbe  wort  zur  markierung  des 

atrophen  Übergangs  aufserdem  429,  22)    und   durch  widerkehr 

derselben    stichworte    liep,    liebe    zusammengehalten,      ebenso 

str.  4  und  5  durch  widerholte  spielende  anwendung  des  neuen 

Stichworts  stiete.  — 

Anfang  und  schluss  schwellen,  aufserlich  unsymmetrisch,  an, 

wahrend  iler  miltelteil  auf  die  halfte  des  umfangs  reduciert  wird  : 

2  +  1  +  1  +  3: 

liii.  str.  1 — 2  :  die  einleitung  ist  auf  zwei  Strophen 
angeschwollen,  weil  sie  den  (nur  angedeuteten)  natureingang 
(frühling)  mit  Ulrichs  alter  lieblingsvorstellung,  dem  höhen 
inuot,  verschmilzt. 

hauptteil.  str.  3  :  erstes  motiv  :  güete  und  stiele  sind 
die  besten  schminkfarben  für  eine  frau,  die  schoene  bleiben  will, 
str.  4  :  zweites  motiv  :  wip  und  frowe   gehören    zusammen. 

str.  5 — 7  :  der  schluss  bringt  wider  die  Wendung  aufs 
persönliche,  ohne  den  (allerdings  wol  aussichtslosen)  versuch 
zu  machen,  die  heterogenen  motive  des  hauplteils  zu  ver- 
schmelzen, vielmehr  betont  der  dichter  nur  seine  eigene  lieh 
566,  24)  frauenverehrung,  und  zwar  zuerst  die  aller  frauen 
(str.  5),  dann  die  seiner  herrin  (str.  6 — 7).  die  letzte  Strophe 
vereinigt  widerholt  die  stichworte  des  gedichts  :  höchgemüete, 
güete,  scheene,  e're. 

Dass  Ulrich  zuletzt  auf  das  lob  seiner  herrin  kommt,  hat 
hier  wie  in  xliu  (s.  oben)  den  schlussteil  um  eine  Strophe 
zu  grols  gemacht. 

Das  lied  zeichnet  sich  durch  einen  bei  Ulrich  auffallenden 
mangel   an    übergangen   zwischen    den    einzelnen   teilen   aus. 
der  roh  zusammengeflickte  cento  ist  offenbar  in  einer  schlechten 
stunde  entstanden  l.  — 
Die   durch   die   doppelheit   der   motive   hervorgerufene   vier- 
teiligkeit dieser  lieder  ist  die  Ursache,  dass  sie  alle  keinen  höhe- 

1  wenn  die  beiden  mit  ihren  motiven  hart  nebeneinandergesetzten 
Strophen  3  und  4  nicht  auch  dann  störten,  könnte  man  das  lied  auch  nach 
dem  Schema  :  4  str.  allgem.  +  3  str.  persönl.  (ich  566,  24)  gebaut  auffassen. 

4* 


52  BRECHT 

punct  halien.  die  motive  des  mittelleils  stehn  unverbunden  neben- 
einander, werden  sie  durch  eine  Strophe  verbunden  (wie  oben, 
abschnitt  b,  beim  Schema  3  -+-  1  -f-  3 ,  lied  xli  und  xlvii),  so 
entsteht  ein  neuer,  bei  weitem  besser  rhythmisierter,  fünfteiliger 
gedicbttypus. 

Die  funfleilung  ist  aber  auch  auf  anderem  wege  möglich, 
c.    Fünfteilige  1  i  e  d  e  r. 

Derselbe  gedanke,  von  Strophe  zu  Strophe  anders  gewendet, 
ergibt  bei  einfacherer  ausfiihrung  das  Schema  1  +  1  +  t  (s.  o.), 
bei  kunstvollerer 

l  +  l  +  l+l  +  l: 

xr.  das  gruudmotiv  ist  des  dichters  wünsch,  die  frauen 
möchten  ihm  endliches  gelingen  seiner  hoffnungen  bei  seiner 
herrin  wünschen,  seine  bebandlung  von  str.  2 — 4  würde  an 
sich  vollkommen  hinreichen  :  str.  2  apostropbe  an  die  frauen. 
mit  Zurückbeziehung  auf  die  eben  beendigte  Venusfahrt  (322,  9) 
und  ankündigung  des  themas,  str.  3  mit  dem  thema  selbst, 
dessen  breiter  ausdruck  in  der  mitte  des  gedichts,  spec.  322, 
17 — 21,  den  höhepunct  darstellt  (mittelachse),  str.  4  als 
abschluss  mit  dem  ausdruck  der  unerschütterlichen  hoffnung, 
in  eine  volltönende  metapher  auslaufend,  um  dies  corpus 
von  drei  Strophen  ist  nun  aber  noch  eine  Umrahmung  von 
zweien  herumgelegt :  eine  allererste  einleitu  ngsstrop  he  (1), 
die  eine  Verbindung  mit  dem  vorhergehnden  liede  (x),  vor 
der  Venusfahrt,  bersteilen  soll,  indem  sie  frau  Minne  apo- 
strophiert wie  lied  x  und  auf  ibren  nun  vollzogenen  befebi 
hinweist  (s.  oben  s.  5),  und  eine  endgiltige  seh luss Strophe 
(5),  die  nur  eine  wortreiche  widerholung  der  vorhergehnden 
ist.  beide  Strophen,  1  und  5,  sind  vom  dichter  als  zusammen- 
gehörig empfunden  worden,  denn  der  schluss  von  5  (ir  güete 
ist  so  guot  323,  5)  nimmt  den  von  1  mit  seinem  sticbwori 
{ir  sit  doch  guot  322,  7)  wider  auf.  kommt  durch  den  anfang 
von  str.  1  mit  seiner  Wendung  an  frau  iMinne  schon  eine 
doppelte  apostrophe  in  den  eingang  des  liedes,  so  durch  ihren 
schlussvers,  dem  das  letzte  citat  entnommen  ist,  gar  eine 
dreifache :  er  fasst  nämlich  frau  Minne  und  seine  dame  in 
neuer  anrede  zusammen;  die  würkung  ist  barock,  viel- 
leicht sind  die  erste  und  die  fünfte  Strophe  würklich  erst 
später  hinzugedichtet. 


ULKICI1  VON  LICHTENSTEIN 

[t,is  \ii  lied,    eine   technische   glanzleistung,    zeigl    einen 
wundervoll  ansteigenden  und  absinkenden  symmetrischen  auf- 
liau.     in  slr.  I   beglückwünsch!    sich  Ulrich    selbst  zu    Beiner 
minne,    in  sir.  2  denkl  er  an  das  ziel    seines  Wunsches,    in 
str.  3  bittet  er  flehentlich  (Min  liende  ich  valde  394,26)  um 
die    erfüllung    dieses    Wunsches    (pathetischer    ausdruck    der 
quintessenz  des  gedichts,   mit  eindringlicher  anfangsanaphora 
395,2.  3;  höbepunet  an  der  mittelachse),  in  str.  1  macht 
er  sich  sorgen,   wie   er  ihr  seinen   langjährigen    Irenen    dienst 
würdig  kundtun  soll,    in  der  schlussstrophe  5    kehrt  er  zum 
ausdruck  der  hoffnung  (395,  9)    und   seines   schon  jetzt  vor- 
handenen liebesglückes  (395,  11,    vgl.  den   anfangsgedanken) 
zurück.  — 
Der  mittlere  teil  schwillt,  der  Wichtigkeit  seines  inhalts  ent- 
sprechend, an,    die    zweite  und  fünfte  Strophe  werden  als  über 
gangsslrophen   zu    und    von    dem    massiver  gewordenen  hauptteil 
ausgebildet,    aus    einem    schon    früher    würksamen    seeundären 
gründe  (vgl.  oben  xliii  und  lui)  gerät  der  schluss  zu  lang,  zum 
schaden  der  genauen  Symmetrie  : 
H-H-2  +  1  +  2  (stall    1   : 
xvi  (erste  üzreise). 

eingangsstrophe     1),    allgemeiner   minnesalz  :   euip- 

fehlung  der  minne  um  iler  ere  willen, 
überga  ngsstrop  he  (2),  Übergang  von  der  minne  zum 
schildesamt    (schilde   404,  4)   :   minne    als    lohn    des 
schiidamtes. 
hauptteil   (3 — 4)  :  ethik    des   schildesamtes,    in    zwei 

parallelstropheu,  objeetiv-didaktisch  vorgetragen. 
übergangsstrophe  (5)  :  Übergang  vom  Schildesamte 
zur  minne  zurück  :  nur  den  ehrenhaften  rilter  sollen 
die  trauen  minnen. 
schluss  (6 — 7)  :  Wendung  aufs  persönliche  :  trotz  seines 
langen  Schilddienstes  erhört  ihn  die  herrin  nicht;  ei 
waffnet  sich  mit  geduld  und  treue. 
Die  tendenz,  seiue  persönlichste  angelegenheit  an  den  schluss 
zu  legen,    hängt    sicher   mit   der   eingewurzelten  neigung  seines 
denkens   zur    teilung    in    allgemeines    und    specielles    zusammen, 
iusofern    schimmert    sogar    in    den    bestgebauten    symmetrischen 
gedichten  jener  compositionstypus  durch. 


54  BRECHT 

Da  in  diesem  Hede  zwei  gleichgeordnete  Strophen  die  mitte 
bilden,  entbehrt  es  eines  bestimmten   höhepunctes. 

Die  beiden  zwischenstrophen  (2  und  5)  hatten  liier  den 
zweck,  den  Übergang  zum  hauptteil  und  von  ihm  zum  schluss  zu 
vermitteln,  eine  einzelne  zwischenstrophe  kann  aber  auch  selbst 
in  die  mitte  treten;  wenn  es  sich  nämlich  darum  handelt,  zwei 
grundmotive  eines  gedichts  zu  verbinden,  damit  sind  wir  bei 
dem  am  ende  des  letzten  abschnittes  (b)  entwickelten  typus  wider 
angelangt. 

Das  in  seiner  iibergangslosigkeit  harte  Schema  1  -}— 2  -f-  2  -f-  1 
erweitert  sich  also  zum  Schema 

1  +  2  +  1  +  2  +  1, 
nach    dem    drei,    sämtlich  der  spätzeit  angehörige   lieder   analog 
gebaut  sind. 

LI. 

1  einleitungsstrophe:  trauen  sollen  vrö  mit  zühten  sein. 

2  Strophen  mit  dem  ersten  motiv :  das  weibliche  ideal. 
1  Strophe  (2)  :  hauptsache  ist  die  güete, 

1  Strophe  (3)  :  der   womöglich    die    schoene   sich    gesellen 
soll;  das  beste  ist  die  Vereinigung  güete  bi  schoene. 

1  Verbindungsstrophe  (4):  welchen  mann  soll  nun  solch 
weih  lieben?  es  gibt  so  viel  falsche  mänuer  —  (Sied  ein 
guot  wip  minnen  wil,  diu  sol  minnen  usw.)1. 

2  parallelstrophen  mit  dem  zweiten  motiv  (5  u. 6): 
antwort  :  den,  der  seine  mannesehre  gehütet  hat.  die 
Strophen  sind  zusammengehalten  durch  Stichwortübergang, 
guot  wip  561,  8  u.  9,  und  durch  chiastischen  gedanken- 
ausdruck  in  den  beiden  Strophen  :  derselhe  gedanke  geht 
in  str.  5  von  Swelch  man  —  bis  guot  wip  — ,  in  slr.  6 
von  Ein  guot  wip  —  bis  swelch  man  —  561,  13. 

1  schlussstrophe  (7)  :  die  übliche  wendung  aufs  persön- 
liche :  Ulrich  bemüht  sich,  diesem  ideal  nahe  zu  kommen, 
höchstes  lob  der  herrin  :  wiplich  wip. 

Die  verbinduug  beider  motive  wird  also  hier  durch  ein- 
fache Überleitung  bewürkt.    — 

1  ich  schlage  nach  neme  560,  28  fortlassung  des  interpunetionszeichens 
vor.  561,1.  2  gibt  noch  nicht  die  antwort,  die  vielmehr  erst  mit  dem  ein- 
satz  der  nächsten  Strophe  beginnt,  der  561,  1  bezieht  sich  auf  xoen  560,  28 
zurück;  man  beachte  die  attrahierten  conjunetive  hüele,  si  561,  1.  2. 


ULIU<  II  VON  LICHTENSTEIN 

Organischer  ist  die  Verbindung  im 

lv.  liede.   das  erste  grundmotiv  tritt  wider  von  vornherein 
als  metapher  auf  (vgl.  vni). 

1  ei nleitungss troph e  mit  ankündigung  des  ersten 
motivs  (I)  :  der  dichter  ist  froh,  ein  himmelreich  auf 
erden  gefunden  zu  haben. 

2  Strophen  mit  ausführung  des  ersten  motivs: 
damit  meint  er  das  herze  seiner  dame,  in  dem  alle  lugen* 
den  hausen. 

1  Strophe  (2)  :  allgemeine  angäbe, 

1  Strophe  (3)  :  specielle   bezeichnung    dieser    tilgenden. 

1  Verbindungsstrophe  (4)  :  des  dichters  Sehnsucht  nach 
diesem  himmelreiche  von  herzen  ist  um  so  berechtigter, 
als  es  von  einem  so  liebreizenden  leibe  umfangen  ist. 

2  Strophen  mit  dem  zweiten  motiv  (5  und  6)  :  preis 
dieses  leihes  und  seine  würkung  auf  den  dichter. 

1    schlussstrophe  (7)  :  vergleich  :  wie  der  hausen  in  der 

Donau  von  der  süfse  des  wassers,  so  lebt  Ulrich  von  dem 

hauche  ihres  mundes. 

Die  Verbindung  beider  grundmotive  in  der  vierten  Strophe 

ist  so  eng,  dass  man  sie  als  Verschmelzung  betrachten  kann. — 

lviii    beginnt    ebenfalls    mit    einer    metapher    als    erstem 

grundmotiv. 

1  einleitungsstrophe  mit  dem  ersten  motiv  (1)  :  für 
seine  minnewunden  hat  der  dichter  eine  gute  arzenei. 

2  Strophen  mit  ausführung  des  ersten  motivs  :  die 
arzenei  für  seine  herzenswunden  besteht  in  zwei  dingen, 

dem  anblick  der  herrin  mit  ihrer  Wehten  varwe  (1  Str.,  2), 
der  salbe  manches  süezen  %oortes  (1  Str.,  3). 

1  verbiudungsstrophe  (4)  :  wenn  der  dichter  diese  salbe 
brauchen  will,  sucht  er  sich  den  anblick  der  herrin  zu  ver- 
schaffen, der  ihn  denn  sogleich  vor  freude  wider  jung  macht. 

2  Strophen  mit  dem  zweiten  motiv  :  Schilderung  des 
anblicks  der  herrin, 

ihres  mundes  (1  Str.,  5) 
und  ihrer  äugen  (1  Str.,  6). 
1  schlussstrophe  (7)  :  gelöbnis  des  dienstes  für  alle  zeit. 
Die  Verbindung  der  grundmotive  ist  wider  äufserlicher,  ja 
gewaltsam.  — 


56  BRECHT 

Unzweifelhaft  ist  durch  die  eioführuog  der  mittleren  ver- 
bindungsstrophe  der  typus  des  gedichts  mit  doppelmotiv  glücklich 
verbessert  worden,  hebung  und  Senkung  des  gedaukens  wechseln 
viel  angenehmer  mit  einander  ab,  als  bei  dem  harten  aufeinander- 
prallen der  beiden  hauptmotive  in  dem  Schema  1  ■+-  2  +  2  -f-  1. 
ihrer  l'unclion  gemäfs  wird  man  die  verbiuduugsstrophe  kaum  als 
hohepunct  ansehen  dürfen,  sondern  die  gedichte  mit  doppelmotiv 
als  zweigipflig,  aber  mit  communication  zwischen  den  gipfeln, 
betrachten  müssen. 

Die  vier  letzten  lieder  sind  das  complicierteste,  was  Ulrichs 
formverstand  und  architektonische  phantasie  hervorgebracht  haben, 
der  anleil  des  gemüts  an  diesen  Schöpfungen  wird  nicht  allzu 
grofs  gewesen  sein,  als  technische  leistung  aber  bezeichnen  sie 
einen  hohen  grad  von  gewautheit.  — 

Die  symmetrisch  aufgebauten  lieder  stellen  sowol  der  zahl 
als  der  künstlerischen  bedeutung  nach  die  hauptgruppe  von 
Ulrichs  gedichten  dar.  es  sind  fast  die  hälfte  aller  58  lieder, 
27  symmetrische  gegen  31  anders  gebaute  :  5  mit  gleichmäßiger 
structur,  7  mit  Steigerung,  17  aus  allgemeinem  und  speciellem 
zusammengesetzte,  2  lyrisch-epische  (s.  unten),  dass  der  differen- 
ziertesle  gedichttypus  die  einzelnen  andern  typen  so  sehr  über- 
wiegt, ist  für  Lichtenstein  bezeichnend,  je  einfacher  die  form, 
desto  weniger  sagt  sie  ihm ;  er  ist  in  der  dichtung  wie  im  leben 
der  mann  des  complicierten,  eigensinnigen,  hochentwickelten,  der 
symmetrische  aufbau  liefs  von  allen  ihm  geläufigen  typen  die 
gröste  maunigfaltigkeit  der  behandluug  innerhalb  einer  festen 
stillbrm  zu;  eine  aufgäbe,  die  gerade  den  würklicheu  künstler 
immer  gereizt  hat;  und  man  muss  zugeben,  dass  Ulrich  eine 
grofse  fülle  von  varialionsmöglichkeiten  gefunden  hat. 

In  wie  verschiedenen  formen  saheu  wir  nicht  das  Verhältnis 
der  gedichtteile  zueinander  wechseln  1  auf  wieviel  verschiedene 
arteu  wurde  der  höhepunct  erreicht  und  verlassen;  molive  in 
parallel-  und  correspondierenden  Strophen  auseinandergezogen,  in 
Schlüssen,  in  Verbindungsstrophen  verschmolzen;  doppelmotive 
eingeführt  und  nach  bedarf  so  oder  so  behandelt,  allein  hierfür 
hat  Ulrich  vier  möglichkeiten  ausgebildet  :  er  stellte  die  moliv- 
strophen  unverbunden  nebeneinander,  entweder  breit  als  haupt- 
argumente  (1  -f-  2  -J-  2  -(-  1)  oder  zusammengeschoben  als  blofse 
poinlen  (2  — f-  1  — J—  1  -f-  3) ;  oder  er  verband  sie  durch  eine  über- 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  57 

gangsstrophe,  indem  er  sie  das  eine  mal  als  anfangs-  und  schluss- 

teil  verwertete  (3  -f  1  -f- 3)*  bei  anderer  gelegenheit  als  innere 
hau pt teile  angemessen  herausarbeitete  (1  +  2+1-4-24-1) 
solche  aufgaben  vorwiegend  sind  es,  in  deren  bewälligung  Ulrichs 
lyrische  kunst  sich  kaum  genugtuu   kann. 

Um  so  verdienstlicher,  als  er  sich,  wol  unbewust,  den  räum 
dazu  sehr  eng  abgesteckt  hat.  mehr  als  sieben  Strophen  bat  er 
nie  zu  einem  gedieht  vereinigt  l,  mit  gutem  tact,  denn  ein  sym- 
metrisches system  von  mehr  als  sieben  gliedern  zu  übersehen, 
wird  schon  schwierig,  fünfslrophigkeit  und  siebenstropbigkeit 
sind  ihm  so  gut  wie  gleich  lieb  —  jene  kommt  23 mal,  diese 
22 mal  vor  — ,  begreiflicherweise,  denn  sein  lypus  des  sieben- 
slrophigen  gedichts  ist  ja  in  den  weitaus  meisten  lallen  nichts 
als  ein  erweitertes  fünfstrophiges ,  die  grundanlage  ist  genau  die 
gleiche,  dreistrophigkeit  begegnet  nur  in  drei  liedern,  die  alle 
lauge  Strophen  haben,  kurze  ausdehnung  der  gedichte  ligi  eben 
seiuem  an  eiufallen  reichen  uud  dialektisch  gliedernden  geiste, 
Beiner  um  worte  nie  verlegenen  redegabe  nicht,  des  einstrophigen 
gedichtes,   des  Spruches  hat  er  sich  gänzlich   enthalten. 

Charakteristisch  ist  auch  das  entschiedene  bevorzugen  der 
uugeraden  slrophenzahl.  49  liedern  mit  ungerader  stropbenzahl 
stehu  9  mit  gerader  gegenüber,  unter  denen  wider  der  längere 
typus,  der  sechsstrophige,  Zweidrittelmehrheit  besitzt  gegen  den 
kürzeren,  vierslrophigeu.  die  Vorliebe  für  ungerade  Strophenzahl 
ist  sicherlich  ebenfalls  Ulrichs  gutem  formgefühl  entsprungen,  das 
gleichlange  gedichtabschnitte,  wie  sie  bei  gerader  stropbenzahl 
leicht  vorkommen,  perborrescierte 2.  gerade  stropbenzahl  kommt 
denn  auch  nur  bis  zum  jähre  1228  (xxvm)  vor,  von  da  an  gibt 
es  noch  einmal  ein  dreistrophiges ,  sonst  nur  fünf-  und  sieben- 
strophige  lieder.  an  der  siebenstropbigkeit  bat  Lichtenstein  immer 
mehr  geschmack  gefunden  :  von  den  2ö  liedern  der  ersten  minne 
(1222 — 32)  sind  nur  5  siebenstrophig,  von  den  5  in  6in  jähr 
lallenden  wdmeisen  nur  eine,  von  den  27  liedern  der  zweiten 
minne  (1233  <>  1255)  aber  16.  oder  auf  Jahrzehnte  bezogen, 
so  leidlich  sie  sich  bei  der  nur  ungleicbmäfsig  construierbaren 
Chronologie    bersteilen    lassen  :  von   1222 — 32    sind    von  29  ge- 

1  abgesehen  natürlich  vom  leich. 

2  bis  auf  eine  ausnähme,  lied  xxiv,  in  dem  einleitung,  hauptteil  und 
schluss  gleichermafsen  je  zweistrophig  sind. 


5S  BRECHT 

dichten  nur  5  siebenstrophig,  von  1232/33  —  1240/41  (lied  xl) 
schon  gut  die  hälfte,  nämlich  von  11  liedern  6;  genau  die  hälfte, 
7  von  14,  in  den  jähren  1241 — 52  (lied  liv);  und  der  rest  von 
drei  jähren,  der  noch  übrig  ist,  lässt  sich  gut  an,  denn  die  vier 
währenddessen  producierten  lieder  sind  sämtlich  siebenstrophig. 
das  heifst  :  auch  Ulrich  ist  mit  zunehmendem  alter  redseliger 
geworden,  die  wachsende  neigung  zur  didaktik,  von  den  wdn- 
wisen  an,  hat  bei  ihm  nicht  zur  prägnanz  geführt,  wie  bei  manchen 
andern,  sondern  zur  breite,  die  Symmetrie  ist  ihrem  wesen  nach 
natürlich  meist  an  die  ungerade  zahl  gebunden  :  von  27  symmetrisch 
gebauten  liedern  haben  nur  5  gerade  strophenzahl  (1  vier,  4  sechs 
Strophen);  1  ist  drei,  6  sind  fünf,  15  sieben  Strophen  lang. 

Die  zunehmende  neigung  zur  siebenzahl  der  Strophen  hängt 
ersichtlich  mit  der  entwicklung  des  Verhältnisses  Ulrichs  zur 
Symmetrie  zusammen,  geht  aber  nicht  von  vornherein  parallel 
mit  ihr,  sondern  ist  mehr  auf  rechnung  des  erwähnten  senil- 
werdens  zu  setzen. 

Seine  neigung  zum  symmetrischen  aufbau  war  von  anfang 
an  grofs,  von  1222 — 32  ist  reichlich  die  hälfte  aller  producierten 
lieder,  15  von  29,  symmetrisch  gebaut  (davon  nur  4  sieben- 
strophig); von  1232/33 — 1240/41  wird  sie  erheblich  schwächer, 
baut  von  11  producierten  liedern  nur  3  symmetrisch  (davon  2 
siebenstrophig);  bemächtigt  sich  aber  in  den  jähren  1241 — 52 
fast  der  hälfte  aller  lieder,  6  von  14  (alle  6  siebenstrophig),  und 
steigt  noch  von  da  an,  wie  der  noch  übrige  rest  von  vier  jähren 
beweist,  in  dem  von  4  producierten  liedern  3  symmetrisch  aus- 
fallen (alle  3  siebenstrophig;  das  anders  gebaute  vierte  auch). 

Man  ersieht  daraus,  dass  die  hauptsächliche  Vorstellung,  die 
Ulrich  von  formaler  harmonie,  auch  für  den  aufbau  von  gedanken, 
besafs,  von  anfang  an  die  symmetrische  war,  und  dass  diese  dis- 
position  der  phantasie  sich  trotz  Schwankungen  mehr  und  mehr 
befestigte,  selbst  die  neigung  seines  denkens,  nach  den  kate- 
gorieen  allgemein  und  speciell  zu  scheiden,  war  weit  entfernt  da- 
gegen aufzukommen,  obwol  auch  sie  schon  vom  vierten  dichtungs- 
jahre  an  vorhanden  war. 

E.   Episch-lyrische  lieder. 

Neue  compositionstypen  sind  also  im  laufe  von  Ulrichs  leben 
nicht  mehr  aufgetaucht;  die  vorhandenen  sind  schon  in  den 
ersten  7  liedern  (bis  1225)  alle  mindestens  einmal  vertreten. 


I'LRICII  VON  LICHTENSTEIN  59 

Nur  eine  ausnähme  ist  festzustellen :  der  isolierte  lypui 
der  beiden  tagelieder,  xxxvi  und  il,  die  mitten  in  Ulrichs 
poetische  periode  lallen,  in  die  zeit  nach  1233  und  in  den 
winter  1240  auf  41.  aber  auch  sie  sind  nicht  durch  äufeere 
oder  spürbare  innere  lebensereignisse  hervorgerufen.  Bondern 
durch  litterarische  tradition  vermittelt;  seihst  die  nttance,  die  Ulrich 
an  ihrem  stil  angebracht  hat  (s.  cap.  i  s.  20),  ist  trotz  aller  be- 
tonten tendenz  zur  lebenswahrheil  nur  dem  bedttrfnis  i\t%^  artisten 
entsprungen. 

Da  das  tagelied  sich  aus  lyrischen  und  epischen  bestandteilen 
zusammensetzt,  ist  auf  eine  rein  durchgeführte  einheitliche  com- 
position ,  wie  sie  der  gleichmäßig  lyrische  slolT  nahelegt,  nicht 
zu  rechnen,  trotzdem  ist  eine  gewisse  gruppierung  des  epischen 
und  lyrischen  darin   nicht  zu   verkennen. 

Entgegen  der  üblichen  art,  das  tagelied  mit  einer  kurzen 
epischen  Situationsandeutung  oder  dem  gleichwertigen  wächterruf 
einzuleiten,  lässt  Ulrich  das  erste  seiner  tagelieder  (xxxvi)  mit  der 
begruTsung  des  ritters  durch  die  frau  heginnen  (str.  1),  der  die 
antwort  des  ritters  folgt  (str.  2):  die,  übrigens  neue  (vgl.  cap.  i), 
Situation  ergibt  sich  erst  hieraus,  dieser  dialog  von  zwei  Strophen 
länge  entspricht,  auch  der  inhaltsbedeutung  nach,  etwa  dem 
einleitenden  teile  seiner  grösseren  lieder.  an  ihn  schliefsen  sich 
zwei  rein  erzählende  Strophen,  in  denen  die  kernsituation  zur 
darstell ung  kommt,  hierauf  widerum  zwei  aus  erzählung  und 
je  einmaliger  kurzer  rede  gemischte,  in  denen  zweimal  die  warnende 
zofe  aultritt,  die  (um  zwei  verse  verlängerte)  schlussstrophe  lässt 
uach  kurzer  situationsschilderung  erst  die  frau  klagen,  dann  den 
ritter  abschied  nehmen,  in  der  herkömmlichen  weise.  —  der 
dichter  hat  gut  für  abwechslung  gesorgt,  den  beiden  einheitlichen 
Strophenpaaren,  deren  erstes  nur  lyrischen  dialog,  deren  zweites 
nur  erzählung  enthält,  folgt  ein  strophenpaar,  in  dem  erzählung 
die  kürzeren  reden  überwigt,  und  eine  Strophe,  die  nach  zwei 
versen  erzählung  wider  acht  verse  dialog  bringt,  die  frau  beginnt, 
der  ritter  schliefst  das  lied. 

Im  zweiten  tagelied  (xl)  umfasst  die  einleitung,  rede 
der  zofe  (str.  1),  rede  des  ritters  (str.  2),  mit  kurzer  Situations- 
schilderung, zwei  Strophen,  es  folgt  zwischen  der  frau  und  dem 
ritter  das  eigentliche  gespräch,  das  das  hauptmoliv  des  gedichts 
bringt,    nämlich    den  Vorschlag,   den    ritter  den  tag  über  in  der 


60  BRECHT 

kemenate  zu  verstecken,  dieser  dialog  ist  zweistrophig,  wie  im 
ersten  tagelied,  und  wie  dort  folgen  ihm  entsprechende  zwei 
stropheu,  in  denen  rein  episch  der  hergang  heschrieben  wird, 
die  schlussstrophe  (7)  schildert  in  der  gewöhnlichen  weise  erst 
die  letzten  Zärtlichkeiten,  dann  die  abschiedsworte  des  ritters  (also 
kein  dialog  mehr  wie  in  xxxvi).    die  zofe  heginnt,  der  ritter  schliefst. 

Nur  in  der  höfischen  form  des  tageliedes  gibt  es  bei  Ulrich 
mischung  epischer  und  lyrischer  elemente.  auch  in  diesem 
punete  folgt  er  der  strengeren  tradition,  indem  er  sich  richlungen 
seiner  zeit,  die  ihm  stillos  scheinen  mochten,  fernhält. 

Ergebn  is. 

Ich  glaube  erwiesen  zu  haben,  dass  Ulrichs  besondere  stärke 
.  im  kunstvollen  aufbau  von  gedichtmotiveu  bestand,  bei  weitem 
mehr,  als  in  der  erfindung  solcher  motive,  in  der  er,  wie  sich 
im  i  capitel  herausstellte,  nicht  ilbermäfsig  viel  geleistet  bat. 
es  fragt  sich  nun,  wenn  man  auf  die  vielen  typen  und  Schemata 
seiner  composition  zurückblickt:  in  wie  weit  ist  sie  bewust,  in 
wie  weit  unbewust  gewesen?  wieviel  beruht  davon  auf  künst- 
lerischer absieht? 

Die  frage  ist  schwer;  denn  nirgends  ist  man  so  iu  gefahr, 
moderne  anschauungen  in  alte  Verhältnisse  zu  tragen,  als  bei 
der  absebätzung  der  grenzen,  die  bei  dem  dichter  einer  fern- 
liegenden eulturperiode  kunstgefühl  und  kunstverstand  trennten. 
ist  schon  das  selbstbewustsein  des  mittelalterlichen  menschen 
überhaupt  für  uns  schwer  nachzufühlen  und  unsere  einfühluug 
ohne  irgendwelche  gewähr  der  richligkeit,  um  wieviel  mehr  das 
eines  dichters,  bei  dem  bewustes  und  unbewustes  immer  mehr 
durcheinander  spielen  als  bei  anderen  menschen. 

Wenn  man  freilich  die  darieguugen  dieses  capitels  durchgeht, 
so  sieht  alles  sehr  bewust  aus.  allein  ich  brauche  wol  nicht 
darauf  hinzuweisen,  dass  es  nötig  ist,  begrifflich  zu  systematisieren, 
wenn  man  formen  verständlich  machen  will,  deren  werden  uns 
nur  immanent  in  eiuer  mannigfaltigen  fülle  fertiger  gebilde  voiligt. 

Die  grofseu  compositionstypen  zb.  sind  in  ihrer  Unter- 
schiedlichkeit Ulrich  selbstverständlich  nicht  völlig  klar  bewust 
gewesen,  die  lieder  gleichmäfsiger  struetur  etwa  werden  sich 
ihm  nicht  so  herausgebobeu  haben  wie  uns.  bei  den  liedern 
mit  zugespitztem  aufbau  ligt  es  schon  anders.  hier  ist  die 
Steigerung    so    augenfällig,    gar    in    den    dialogen   so    kühl    und 


I  LR1CH  VON  LICHTENSTEIN  61 

technisch  raffiniert  mit  der  messerscharfen  Bchlusspointe,  dass 
man  genötigt  ist,  dichterische  absieht  anzunehmen,  nicht  ganz 
>o  sicher  isl  die  bewuste  technik  bei  den  aus  allgemeinem  and 
s[it'cicllt'i!i  Bich  zusammensetzenden  liedern.  «loch  moste  Ulrich 
ja  blind  gewesen  sein,  wenn  er  nicht  gelegentlieh  wenigstens 
gemerkt  haben  sollt*' ,  dass  er  hin  und  wider  ein  lied  dichtete, 
in  dem  nach  einigen  allgemeinen  Strophen  ein  ich,  sein  ich, 
kam,  oder  etwa-  gleichwertiges,  an  eine  vorbedachte  composition 
glaube  icli  bei  der  großen  leichtigkeil  der  entwicklung,  die 
namentlich  in  den  ungezwungenen  Übergängen  deutlich  wird, 
lner  nicht;  wol  aber  au  eine  eingewurzelte  denkgewohnheit,  die 
jedesialls  mit  der  bestimmtheil  einer  klaren  absieht  würkte, 
sollte  sie  es  auch   nicht   gewesen   sein. 

Solche  gewöhnlich  erklart  wol  auch  die  massenhafte  produetion 
der  symmetrischen  lieder.  wessen  künstlerische  anläge  auf  formale 
harmonie  ijleichgrofser  teile  gerichtet  ist,  der  wird  immer  auf 
das  prineip  der  Symmetrie  geführt  werden,  sei  es  von  anfang 
an  bewusl  oder  nicht,  und  es  müste  seltsam  zugehn,  wenn  er 
nicht,  hei  immer  ausschließlicherer  produetion  in  dieser  form 
(s.  o.),  allmählich  selost  etwas  davon  bemerken  sollte,  der  höhe- 
I » n  11*1  in  der  mitte,  die  miltelachse,  auf-  und  ahslie^'  werden 
sich  dabei  wol  meist  von  >tlhst  ergehen  haben,  aber  gedichte  so 
complicierten  bau  es,  wie  wir  deren  viele,  namentlich  aus  den 
spateren  jähren  kennen  gelernt  haben,  mit  sorglich  abgesetzten 
anfangen  und  Schlüssen,  respondierenden  motiven,  fast  un- 
merklich den  gedanken  weiterführenden,  durch  rhetorische  Bguren 
zusammengeschlossenen  parallelstrophen,  mit  bildlichen  und  bild- 
losen teilen,  Übergangsstrophen,  vollends  solche  mit  <lc»pj>el- 
motivea  und  ausgesuchter  Verbindungsstrophe  —  deren  ent- 
slehung  kann  nur  hewust  gedacht  werden.  höchst  bewust 
sogar,  unter  aufbietung  alles  kunslverstandes  und  aller  kraft 
der  phantasie. 

Dass  einige  male  in  symmetrisch  gebauten  liedern  ein  früherer 
composilionslypus ,  allgemeines  und  specielles,  durchschimmert 
—  durch  das  ganze  zh.  in  xvi  und  LVH,  durch  teile  in  xxu  und 
xxiv  — ,  kann  nur  den  beschrankten  systematiker  stören,  wer 
gewohnt  ist,  formen  dynamisch,  als  Functionen  des  kunsttriel 
aufzufassen,  wird  solche  scheinhare  Unregelmäßigkeit  gerade  als 
bestätigung  und  als  beweis  des  lebens  ansehen. 


62  BRECHT 

Ulrich  gibt  sich  in  eingäugen,  Schlüssen,  einzelnen  Wendungen 
häufig  den  anscheiu  des  aristokratisch  sorglosen  improvisators, 
der  eigentlich  nur  aus  gesellschaftlicher  liebenswürdigkeit  dichtet, 
ist  aber  ein  bewuster  künstler.  als  solchen  zeigen  ihn  auch  die 
stellen  des  Frauendienstes,  in  denen  er  vom  hergang  bei  seinem 
dichten  spricht,  oder  ästhetisch  räsonniert.  es  ist  allerdings 
auch  vieles  in  seinen  liedern,  namentlich  in  ihrer  flüssigen  diction, 
was  wiirklich  auf  freiheit  und  leichtigkeit  der  production  schliefsen 
lässt  :  das  schliefst  aber  eine  bewuste  kunstübung  keineswegs  aus. 
bedarf  doch  gerade  der  improvisator  am  meisten  der  einsieht  iu 
die  mittel  der  dichtkunst  und  ihrer  sicheren  beherschungl  — 

Inwiefern  nun  die  technik  Lichtensteins  in  der  composition, 
speciell  der  symmetrische  typus,  sein  eigentum  ist,  oder  auch 
nur,  in  wiefern  sie  etwa  bei  ihm  besonders  ausgebildet  ist,  liefse 
sich  nur  sagen,  wenn  Untersuchungen  über  die  composition 
anderer  mittelhochdeutscher  lyriker  in  genügender  anzahl  vorlägen, 
der  vergleich  würde  dann  über  das  mafs  der  persönlichen  leistung 
Ulrichs  wie  über  seine  individuelle  anläge  in  hinsieht  auf  dichte- 
rische architektonik  entscheiden,  vielleicht  ist  das  allgemeine 
kunstgefühl  der  höfischen  zeit  auch  auf  diesem  punete  feiner 
ausgebildet  gewesen,  als  man  gewöhnlich  annimmt;  vielleicht  ver- 
langte hier  das  aristokratische  publicum  in  ähnlicher  weise 
leistungen,  wie  es  sie  in  hinsieht  auf  die  klarheit  der  sprachlichen 
form  verlangte  und  befriedigt  in  Hartmanns  versen  anerkannte, 
deren  'krystallklarheit'  unsere  gröberen  ohren  auch  nicht  mehr 
ganz  so  würdigen  können. 

Man  müste  die  compositionsweise  Ulrichs  mit  der  Wallhers, 
Reinmars  und  anderer  eingehend  vergleichen,  es  liefse  sich  eine 
arbeit  denken ,  die  aus  der  gesamten  höfischen  lyrik  eine  art 
durchschnittlicher  Vorstellung  der  dichtenden  und  vielleicht  auch 
der  geniefseuden  Zeitgenossen  von  den  aufbaumöglichkeiten  eines 
gedichts  festzustellen  suchte,  durch  vergleichung  der  compositions- 
arten  liefse  sich  vielleicht  ein  neues  kriterium  für  den  Zusammen- 
hang von  dichtem  unter  einander,  einfluss  und  abhängigkeit, 
finden,  das  geeignet  wäre,  im  eigentlich  künstlerischen  weiter  zu 
führen  als  blofse  parallelstellen,  entlehnungen  einzelner  motive 
oder  gelegentliche  berührungen  im  Wortschatz. 

Vielleicht,  ja  wahrscheinlich  teilt  zb.  Ulrich  seinen  sym- 
metrischen   typus    mit  manchem    seiner   dichtungsgenossen.      es 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  63 

handelt  sich  liier  wol  vielfach  Überhaupt  um  Uberpersönlicbe 
dinge,  um  unbewuste  lyrische  kunstgeselze. 

Es  sind  im  gründe  einfache  compositionstypen,  die  Ulrich 
hat.  auch  in  den  symmetrischen,  seinen  differenziertesten  ge- 
dichten  steigt  er  von  den  einfachsten  Verhältnissen  zu  com- 
plicierteren ,  aber  immer  noch  Übersichtlichen  auf;  daher  die 
kleinen  Strophenzahlen.  warum  lieht  er  nun  die  ungeraden 
zahlen?  weil  sie  den  auf-  und  absteigenden  gang  begünstigen, 
warum  gerade  die  untersten  primzahlen?  die  teilung  in  gleiche 
teile  —  wenn  dies  nicht  die.  einzelnen  Strophen  seilet  sein 
sollen  —  wird  durch  sie  erschwert,  hei  neun  Strophen  zh.  wäre 
man  versucht,  die  üeunteiligkeit  als  dreiteiligkeit  aus  je  drei 
zusammengehörigen  Strophen  aufzufassen.  die  höheren  un- 
geraden zahlen  sind  also  als  grundlage  der  gedichtproportionen 
ehenso  ungeeignet  wie  die  geraden  zahlen,  und  aus  demselben 
gründe.  — 

Warum  hat  das  drama  fünf  acte?  oder  drei?  warum  hahen 
die  versuche,  das  vieractige  drama  einzuhürgern,  keinen  erfolg 
gehabt?  weil  3  und  5  die  untersten  Zahlenverhältnisse  geben, 
die  anstieg,  höhepuuet,  abstieg,  oder  stofs,  gegenstol's,  syuthese 
in   teileinheiten   übersichtlich  auszudrücken   vermögen  '. 

Es  ligt  hier  wol  ein  ganz  allgemeines  und  eingeborenes 
istbelisches  bedürfnis  zu  gründe. 

DRITTES    CAPITEL. 

STIL  DES  POETISCH EN  AUSDRUCKS. 

Kunstreiche  composition  von  gedienten  bedarf,  um  augemessen 
zur  erscheiuung  und  zur  würkuug  zu  kommen,  ebenso  kunstreich 
ausgebildeter  ausdrucksmittel  im  einzelnen,  je  complicierter  die 
composition ,  um  so  höhere  anfordungen  stellt  sie  an  die  ge- 
schmeidigkeit  des  poetischen  Stils,  als  des  Werkzeuges  mittels 
dessen  die  phantasie  den  rohen  Stoff  in  die  Sphäre  des  freien 
spiels  erhebt,  das  bedürfnis,  diese  aufgäbe  zu  bewältigen,  hat 
auch  bei  Ulrich  eine  beträchtliche  anzahl  speciellei  redefornien 
(üguren  und  tropen)  geschaffen. 

Ich    beginne    mit    einem    in    verschiedenen    formen   bei    ihm 

1  von  'abmessung  des  raunies  im  drama'  spricht  EGeiger  (Hans  Sachs 
als  dichter  i  A  1);  auch  im  lyrischen  gedieht  gibt  es  derartiges. 


64  BRECHT 

wie  bei  anderen  mhd.  lyrikein  namentlich   der  spätzeit  besonders 
cultivierten  Stilmittel,  der 

Ana  pher. 
Die  von   hause  aus  strengere  form  der  anfangsanapher 
lindet  sich  bei  Ulrich  weniger  ausgebildet,  als  die  innere. 
Beispiele  einfacher  anfange  dieser  figur  sind : 
Daz  mir  noch  an  ir  gelinge, 
daz  ich  scelde  an  ir  bejage      (97,  19). 

da  ligt  ouch  al  min  smerze, 

da  ligt  ouch  al  min  klagende  leit    (126,  14). 

Tuot  dir  den  tot 

so  süeziu  not, 

so  senfliu  swcere, 

so  lieplich  twanc  —     (134,  23  f). 

Ähnlich  419,  12.  13  (ez  si  —  ez  si) ,  420,  16.  20  (Owe  — 
owe).  erster  und  zweiter  Stollen  durch  anfangsanapher  verbunden 
572,  13.  15  :  Ich  hdn  —  Ich  gesach  —  (liv);  Mich  lat  niht  — 
Mich  kan  —  niht  —  323,  1.  3  (xi).  in  demselben  liede  xi  anfangs- 
anapher des  zweiten  Stollens  und  des  abgesanges,  322,  10.  12  (Daz 
—  Daz  — ).  anfangsanapher  des  dritten  und  sechsten  (letzten)  verses: 
da  für  hdn  ich  helfe  funden  —  da  für  hdn  ich  arzenie  (lvm:  584, 
3.  6).  anfangsanapher  in  parallelsätzen,  deren  zweiter  an  bestimmtheit 
gewinnt  (ein  haupikunstmittel  Ulrichs)  : 

Wenne  kumt  mir  freuden  schin? 

wenne  wil  du,  stelic  frowe,  gefreun  daz  sende  herze  min? 

(397,  17). 

In  anapho  ri  sehen  reihen  tritt  die  anfangsanapher 
paradigmatisch  auf  in  lied  xvii.  str.  1:  Freut  iueh  —  vers  1  und  3 
Strophe  2  lässt  alle  verse  mit  Wip  beginnen.  Strophe  3,  die 
mittelste  und  hauptstrophe,  ist  anaphernfrei  (dafür  bekräftigende 
erklärung:  ja  mein  ich  —  406,  15,  einziges  beispiel).  Strophe  4 
hat  in  den  ersten  fünf  versen  anfangs-,  in  den  beiden  folgenden 
innenanapher  desselben  Wol,  Strophe  5  am  anfang  der  ersten 
vier  verse  Got,  der  zwei  letzten  daz. 

Anfangsanapher  durch  alle  Strophen  hindurch,  zt.  in  genauer 
responsion,  begegnet  in  xii. 

Strophe   1. 

vers  2.  da:  — 
-  3.  daz  — 
slrophe  2. 

vers  5.    daz  — 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 


slrophe  3. 

Vi'!  - 

dax  — 

-        4. 

duz    — 

5. 

dax  — 

Strophe    1. 

vera    1. 

daz   — 

slroplu-   5. 

Vi'IS     -1. 

daz  — 

Man  bemerkt  die  Bteigeruog  Ins  zur  mitte  und  das  absteigen, 
_:-■  ii;ui  entsprechend  der  composition  dea  liedes,  die  symmetrisch 
ist  (s.  o.).  die  gehäufte  anapher  bezeichnet  hier  durchgehends 
parallelsalze,  die  in  eiliger  häufung  alle  nur  6inen  gedanken,  das 
ziel  seiner  Sehnsucht,  gewaltig  zum  ausdruck  bringen,  gleich- 
zeitig bilden  sie  das  feste  gerilst  des  mit  blühender  phantasie 
der  roimkunst  und  Synonymik  verzierten  liedes. 

Genau  respondierende  anapher  des  abgesanges,  auch  dem 
sinne  nach,  zeigt  das  xr  lied  :  Daz  diu  vil  süeze  —  Daz  der 
vil  (juoten  —  Daz  si  vil  liebe  (322,  5.  12.  19),  in  den  ersten 
drei  Strophen,  die  aufstieg  und  mitte  des  symmetrischen  gewichtes 
umfassen;  die  mittlere  hohe  ist  durch  rascheste  widerholung  des 
versbeginnenden  daz  in  synonymen  s.'itzen  (322,  18.  19)  bezeichnet. 

Kespondierende  ungenaue  Strophenanfangsanapher,  aber  in 
metrisch  nicht  genau  entsprechenden  gesätzen,  im  leich  (xxv): 
Ich  rat  tu  —  (423,  1);   Daz  rate  ich  —  (423,  20). 

Reicher  ausgebildet  und  zum  ausdrucksfähigsten  kunstmittel 
erhöhen  hat  Ulrich  die  sonst  vielfach  als  kunstloser  angesehene 
(vgl.  Roethe  aao.  s.  296),  gefährliche,  weil  bequemere  innere 
anapher. 

Einfachste  beispiele  : 

rieh   an  freuden,   rieh   an  aller  sailikeil     (397,  2). 

wes  ich  mir  von  ir  ze  guote,  wes  ich  mir  von  ir  ze  diensle  — 

(400,  6). 
Widerholung  der  anrede: 

Vrowe,  miner  freuden  vrouwe, 

vrowe  min  übr  allez  daz  ich  hdn  —  (549,  17) 
Widerholung  desselben   Stammes  in  verschiedenen  ablautstufen : 

si  muoz  mir  gepunden  sin. 

bant,  dd  mü  ich  si  binde  —  (126,  6). 
Nachdrückliche  oder  spielende  anaphern  nehmen  den  Charakter 
der  ep  izeuxis  an  : 

dd  von  ist  daz  herze  min, 

Swie  ez   uileret,   vrd   nö   vrö     (507.  2 

Z.  F.  u.  A.  XLIX.     N,  V.  XXXVII.  5 


66  BRECHT 

Uz  ir  kleinvelrötem  munde 

süeze  süeze  süeze  gdt     (5S4,  25). 

da  ein  liep  mit  liebe  umbegdt     (583,  12). 

Wibes  schcene,  wibes  ere, 

ivibes  güete,  wibes  zuht  —     (437,  9). 

In  dem  üblichen   turnierruf: 

nu  tuo  her 

sperd  sper!     (458,  4). 
Zur  hervorhebung  eines  hauptgedankens: 

vinde  ich  die,   so  vinde  ich  ere     (422,  10). 
In  dringender  aufforderung  : 

nu  küsse  lüsent  stunden  mich: 

so  küsse  ich  zwir  als  ofte  dich     (447,  19). 
In  lieblingsworten  wie.  süeze,  guot,  wip  und  ihren  ahleitungen: 

Du  bist  süeze,  da  von  ich  dich  suoze  grüeze  (436,  22). 

Süeziu  wort,  diu  künnen  süezlich  süezen 

ir  vil  süezen  röten  munt     (508,  8). 

—  mit  süezen  worlen  suoze  süezen  —     (534,  8). 

—  güellich  si  mir  güelet       (508,  16.  524,  22.  556,  12. 

566,  22). 
ir  güete  ist  so  guot     (323,  5). 
ir  guot  wiplich  güete     (525,  3). 
wibes  güete,  du  bist  guot     (545,  7), 
si  ist  schcene,  reine,  güellich  guot      (584,  29). 
si  ist  so  reht  güetlichen  guot, 
daz  ir  güete  mir  git  höhen  muot     (556,  14). 
Wil  diu  minnecliche  guote 
minneclichen  hüeten  min     (4 1 0,  5). 
liebe  lieblich     (104,  29). 

wiplich  wip     (zb.  445,  21.  447,  8.  561,  20). 
röte  rösen  roete      (508,  30). 

Auch  Verbindung  eines  verbums  mit  einem  näheren  object  gleichen 
Stammes  (Roethe  s.  299)  findet  sich  mehrfach,  zb.  rat  ich  einen  rät 
(422,  26.  560,  8),  ir  spil  minne  wil  spiln  (433,8),  springen 
manegen  sprunc  (584,  24). 

Zur  hervorhebung  eines  Vergleichs : 
mit  ir  kleinvelröten  munde 
ziuhet  si  mir  trüren  gar  uz  herzen  gründe. 

Schouwet  wie  diu  pie  ir  süeze 
üz  den  bluomen  ziehen  kan, 
also  ziehen t  mir  ir  grüeze 
trüren  von  dem  herzen  dan  (534,  1). 
ähnlich  566,  5.   8   (lere  —  leret). 

Anfaugsanapher  allein  oder  innen-  und  anfangsanapher 
gemischt  werden  zur  stroph  e  n  ank  niipfu  ng  verwendet: 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 

—  der  meie  si  getröstet  hat. 

Der  meie  Iroeslel  al  du:   lebl  —    (131,  5) 

—  sied  man  liep  l>t  liebe  riht.' 

Sud  zuri  Uep  ein  ander  meinenl  —  |  129,  22). 
ähnlich  437,  7.  9. 

—  erst  dir  holt  mit  (rttoen,  duz  geloube  mir. 

Er  hat   sin    oil   ivol  genossen   —    (515,  29), 

—  ictutz  ie  die  nidern  minne  fläch. 

Nideriu   minne,   an  freuden  tut  —  (58,  32). 

Bei  weitem  am  meisten  anlass  zur  aunphora  gibt  die  aus- 
geprägte liebe  zu  stichwor  leu.    Ulrichs  poesie  ist  erfüllt  davon. 

einige  beispiele  müssen  genügen. 

Im  leicli  (ixv)  werden  drei  gesätze  hintereinander  fast  ganz 
gebildet  von  den  stichworten  scheene,  guot ,  güete  (423,  23  f.), 
besonders  423,  25  f: 

i(7  guot   vor  allem  guole 

Ist    der    wibe    güete,    und    ir    schoene    schxne    ob   aller 

schoene. 
Ir     scheene,    ir    güete,    ir    werdikvit    ich    immer    gerne 

kroene  etc. 
//•  scheene,  ir  güete,  ir  werdikeil 

wird  gleich  darauf  424.  5  Dach  art  des  Iridis  am  ende  des  ersten 
teiles  resümierend  widerholt,  ähnlich  steete  124,21  bis  425,4 
viermal  widerholt. 

Das  Stichwort  rät,  dreimal  widerholt,  hilft  den  zweiten  teil 
des  in  liedes  (schema:  1+2  +  2+1)  tragen,  Strophe  2  uud  3. 
ähnliches  gilt  von  xlvii,  dessen  einleitung  und  mittelteil  (im 
schema  3  +  1  +  3)  auf  dem  begriff  der  güete  (sechsmal)  auf- 
gebaut ist. 

Die  beiden  Strophen  des  allgemeinen  teiles  von  xlv  (schema 
2  +  3)  werden  als  besonderer  teil  auch  dadurch  markiert,  dass 
am  anfang  und  gegen  ende  der  ersten  Strophe  Waffen  widerholt 
wird,  im  ersten  und  letzten  verse  der  zweiten  niht  vrö  gemachen  — 
gemuchent  nimmer  vrö. 

Die  gehäuften  stichworte  wert,  werdikeit,  güete,  wip,  wol, 
constituieren,  abgesehen  noch  von  den  in  den  anaphorischen 
reihen  befindlichen,  das  ganze  spielerige  lied  xvn;  huole,  hüelen, 
merken  mit  unglaublicher  technik  22  mal  gehäuft  in  33  versen, 
xvih,  von  dem  xix  auch  in  dieser  beziehung  ein  schwacher  ab- 
klatsch  ist,  jedoch  dadurch  merkwürdig,  dass  die  stichworte  nur 
im  hauptteil  des  nach  dem  schema   1  +  3  +  1  gebauten  liedes 


68  BRECHT 

vorkommen,  in  der  mittelsten  Strophe  am  häufigsten,  in  Strophe  3 
und  4  nur  je  einmal,  so  wird  die  composition  unterstützt. 
höher  muot,  höchgemuot,  wolgemuot,  höchgemüete  werden  in  allen 
siebeu  Strophen  des  xliv  liedes,  das  jubelnde  freude  ausdrücken 
soll,  vorgebracht,  dasselbe  wort,  in  derselben  absieht,  erscheint 
viermal  (wenn  man  445,14  mitrechnet)  in  der  mittelsten1 
Strophe  von  xxxiv,  einmal,  stark  betout,  in  der  zweiten,  die  sonst 
ihr  eignes  Stichwort,  truren,  hat,  neben  sorg  und  angest,  das 
sie  mit  der  ersten  teilt;  die  vierte  spielt  mit  wip,  icipheit,  wiplich, 
die  fünfte  mit  lip,  wip,  lieplich.  xxm  hat  für  die  drei  ersten 
Strophen  das  Stichwort  steete,  für  die  vierte  triwe,  die  fünfte 
bant  pl.  (compositionsschema  3  +  2);  aufserdem  wird  minne  in 
Strophe  2,  3,  5  widerholt. 

Principiell  und  in  klarerer  durchführung  durch  das  ganze 
dient  die  innere  anapher  von  Stichworten  der  com- 
position in  folgenden  fällen: 

Im  xiv  liede  (1  +  44-1)  füllt  das  hauptstich  wort  des  ge- 
dichtes,  wünsch,  wünschen,  die  vier  hauptteil-strophen,  die  sich 
dadurch  deutlich  herausheben,  in  der  anfangs-  und  der  schluss- 
strophe  kommt  es  nicht  vor;  jene  ist  aus  autithesen  (s.  u.)  ge- 
bildet, diese  hat  ihre  eignen  anaphorisch  verwanten  stichworte, 
guot,  güete,  senede,  tröst. 

xxvm  betrachtet  seinen  symmetrischen  aufbau  (1  -f- 2  — |—  2  — (—  1) 
in  hinsieht  auf  innere  anapher  als  zweiteilig,  indem  es  die  erste 
hälfte,  Strophe  1 — 3,  mit  dem  Stichwort  liep ,  liebe,  die  zweite, 
Strophe  4 — 6,  analog  mit  stCBte  ausstattet.  dabei  entspricht 
symmetrisch  Strophe  2  der  Strophe  5,  insofern  in  jener  das  erste, 
in  dieser  das  zweite  Stichwort  am  stärksten  gehäuft  erscheint. 

In  xlvii  tritt  das  eine  Stichwort  lip  in  der  einleitenden  und 
in  der  pointierenden  schlussstrophe  nur  je  einmal  auf,  während 
die  drei  mittleren  Strophen,  in  denen  die  Steigerung  des  liedes 
vor  sich  geht,  unablässig  mit  lip,  liep  spielen. 

xlix  markiert  seinen  aufbau  2  +  3  dadurch,  dass  es  den 
allgemeinen  Strophen  1  und  2  das  zweimal  widerkehrende  Stich- 
wort ungefüege  (dazwischen  gefüege)  verleiht,  den  specialisierenden 
Strophen  3 — 5  die  stichworte  lip,  liep  (3  u.  5),  guot,  güete  (3,  4,  5). 

1  hier  wie  in  einigen  andern  fällen  scheint  in  liedern  des  typus  C 
(allgemeines  und  specielles)  eine  art  Symmetrie  durch;  die  mitte  wird  immer 
gern  betont. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 

li  (14-2+1  +  2  +  1)  verwendel  guot,  güete  zur  ein- 
leitung  (nur  zweimal  in  >ir.  1  |,  zum  aufbau  des  ersten  hauptleiles 
(1  motiv;  Gmal),  zur  verbindungsslrophe  (einmal),  chiastiscb  mit 
einem  andern  Stichwort  (s.  u.)  zur  Formierung  des  zweiten  haupl- 
teils  (2  motiv).  die  scblussstrophe  mit  ihrer  Wendung  aufs 
persönliche  meidet  es  ganz. 

In  i.vi  (typus  15)  werden  stufen  der  Steigerung  bezeichnet, 
phe  2  und  3,  allgemeinerer  ausdruck  der  Sehnsucht,  wider- 
holen das  springen  i\v>  herzens  zur  dame;  4 — 6  das  Lassen;  die 
höhe  am  schluss  und  die  ruhe  am  anfang  (sir.  1  u.  1)  ver- 
schmähen beide  das  Stichwort. 

lvii  (1  +  2  +  1  +  2+1)  füllt  die  einleitungsstrophe  und 
den  ersten  hauptteil  mit  wünschen,  wünsch;  den  zweiten  bauptteil 
und  die  scblussstrophe  mit  lip,  liep,  liepliclt,  wip,  die  schon  am 
ausgang  der  Verbindungsstrophe  anklingen. 

Nicht  ganz  so  rem  geglückt  ist  das  nach  demselben  Schema 
ante  lied  LViti,  in  dem  zwar  einleitungsstrophe  und  erster 
bauptteil  das  Stichwort  tount,  wunden,  haben,  der  zweite  bauptteil 
und  die  schlussstrophe  aber  nicht  entsprechend  einheitlich  be- 
handelt sind,  indem  Strophe  5  siieze,  guot,  Strophe  G  und  7  aber 
iip,  liep  widerholen;  Strophe  7  dazu  noch  für  sich  allein  e're. 

Gelegentlich  bequemt  sich  die  äufsere  oder  innere  anapher 
zur  geregelten  responsion.  so  in  xxwu,  das  Strophe  2,  3 
und  5  mit  Swä  beginnen  liisst;  in  x,  wo  die  vorletzte  zeile  der 
zweiten  wie  der  dritten  Strophe  mit  der  interjectiou  we  anlangen, 
ein  im  dialog  reizvoller  parallelismus.  versgruppen  respondieren, 
allerdings  nicht  genau  anaphorisch: 

/i»  isl  so  kranc 

ir  Ion   und  ir  habedanc  —  (415,  1   mitte). 

nu  ist  ir  danc 

cd  ze  Juane  —  (415,  23,  schluss  von  xxi). 

Es  ist  nur  folgerichtig,  wenn  auch  stichworte  in  ge- 
nauer responsion  die  gliederung  des  gedichls  hervorheben 
helfen,  im  v  liede,  das  nach  dem  typus  C  (2  +  3)  gebaut  ist, 
wird  der  erste,  allgemeine  teil  durch  doppelle  responsion  am 
anfang  scharf  von  dem  zweiten,  speciellen  abgegrenzt:  Strophe  1 
vers  1  :  Sumer,  Strophe  2  vers  1  :  Sumers;  Strophe  1  vers  5: 
Winder,    Strophe  2    vers  5  :  Winder.     der    zweite    teil   spielt    mit 


70  BRECHT 

lip,  liep  und  leit.  —  im  xxxn  liede  beginnen  alle  sieben  Strophen 
sehr  eindrucksvoll  mit  Höher  muotx. 

Innere  responsion  des  Stichworts  naht  zeigt  lied  11  :  an 
metrisch  gleicher  stelle,  auf  der  ersten  silbe  des  zweiten  fufses  2, 
in  Strophe  1,  2,  3,  5,  in  Strophe  3  allerdings  im  vierten,  statt 
im  zweiten  verse;  in  Strophe  4  des  Jugendgedichtes  steht  un- 
regelmäfsig  nahtes  als  erstes  wort  des  zweiten  verses.  — 

Anapher  tritt  in  chiastischer  form  auf: 

—  mir  von  ir,  ir  von  mir  —  (400,  6). 
Schcene  von  ir  güete  ist  min  vrouwe, 

si  ist  von  ir  scha>ne  guot  (507,  27). 
bislu  vro,  so  bin  ich  hohes  muoles. 
mirst  ze  hohem  muole  niht  so  guotes, 
so  daz  du  sist  herzenlkhen  vro  (518,  5  f.). 

Chiasmus  von  verschiedenen  Worten  desselben  Stammes  und 
synonymen  bezeichnet  den  eingang  von  li: 

—  daz  si  vrö  mit  zühlen  sin. 
zuhl  bi  freu  den  vrowen  schöne  sldl. 
swelch  wip  ist  mit  zühlen  höchg emuot.  — 

in  demselben  liede  ist  chiasmus  zur  Unterstützung  der  composition 
verwant  in  str.  5  und  6  (ii  hauptteil)  :  Swelch  man  —  guot  wip, 
Ein  guot  wip  —  swelch  man  (vgl.  o.  s.  54). 

Das  gegenstück  der  anapher,  die 

E  p  i  p  h  e  r 
fehlt  Ulrichs  lyrik  nicht,  ist  aber  natürlich  wegen  des  reims  un- 
vergleichlich schwächer  entwickelt,  der  durchgeführte  grammatische 
reim  von  lii  streift  zwar  die  epipher  und  erreicht  gewis  ihre 
würkung,  ist  aber  nicht  eigentlich  epiphorisch,  da  sich  nie  die- 
selbe wortform  widerholt. 

Epipher  von  guot  in  xi,  322,  7.  18.  323,  5  (neben  innerer 
anapher  von  güele),  als  unvollständige  responsion  in  vi,  110,  5 
guote,  110, 17  entsprechend  güete,  je  am  ende  des  ersten  Strophen- 
verses; 111,2  güete,  aber  im  zweiten  verse. 

Epipher  zum  Strophenübergang,  gleichzeitig  zur  Ver- 
knüpfung der  mittleren  verbiuduugsstrophe  mit  dem  zweiten 
hauptteil  in  lvii,  583,  3.  5.  7.  9  :  wip  —  lip  —  wip  —  lip. 
dieselbe  epipher  am  Strophenübergang,  zu  analogem  zweck,  findet 

1  wie  stolz  Ulrich  und  seine  dame  auf  diese  responsion  waren,  zeigt 
FP  442,  8  f.  2  vgl.  Roethe  aao.  s.  304  unten. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  71 

sich  beim  Übergang  des  allgemeinen  teils  in  den  speciellen,  liv, 
572,  11.   12.  13.   l.">  :  lip  —  wip  —  lip  —  wip. 

Weniger   verbreite!    als  die  anapber  ist  bei  Dlrich,    wie  bei 
den  meisten  Zeitgenossen,  ihr  gegenteil,  die 

\  ii  i  i  i  h  ese. 
Einfache  beispiele: 
In  wenden  wdne 
bin  ich    creuden   (ine   (134,  S). 
freude  ist  süeze,  sorge  ist  süre  (421,  7). 
—  slt  ich  bin  ir  leides 
in'irii-  undr  ii    .'/'-/(   vrö  (545,  22). 
Sinnlich  herze  rindet  man  bi  Schilde: 
Zegltch  muot  tnuos  sin  dem  schihle  wilde  (457,  21). 

Mit  allitteration: 

lieben    wdn   und   leiden   wanc  (421,28). 

.Mit  anapher: 

ez  si  fr  um  odr  ungeteilt, 

ez  si   liep   odr   ez  si   leit  (419,  12). 

Cbiastisch: 

daz  er   tveer  ir  und  si  wter  sin  (448,  8). 

im  und  ir,   ir  unde  mir, 

hin    und  her,   SUS    unde   also   (51(J,  22) 
am  end-  und  hühepunet  des  ansteigenden  liedes  xlf.    in  derselben 
absiebt    ist   eine   zierlich  pointierte  doppelantithese  ans  ende  des 

pointenreicheu  dialoges  xxx  gesetzt: 
'wis  du   min,  so   bin   ich   din\ 


'sit   ir  iteer,   so   bin  ich   min'  (436,  7  f.). 

Antithesen  zur  einleitung  benutzt: 
xiv,    1  str. : 

—  icolgemuulen  —  —  ungemuol, 

—  —  grözen  —  —  kranc. 

—  —  minnen hazzel lieben leide  tuoi. 

—  —   ireude  —  —  sorgen  —  — 

(399,  9—13,  ähnlich,  nur  einfacher  553,  25.  27.   31). 

Beim  abschluss: 

—  süezen  gedingen,  da  bi  jdmers  vil  (408,  32). 

Als  Grundlage  des  ganzen  gediebts: 

xxii  :  ausdrücklich    betont    in    der    mitte,    zugespitzt    und 

spielend  widerholt  am  schluss  (str.  3.  6.  7): 

Daz  lop  ist  der  guolen  wibe  al  eine : 

da  ist  der  valschen  kleine  mü  gedüht 
(417,  13,    ferner  418,  1 — 14),  doeb  auch  sonst  vorkommend,     die- 
selbe antilhese  425,  1.  2. 


72  BRECHT 

Spielende  autitheseu; 

v,  vierte  Strophe  :  liep  und,  leit  (105,  1 — 7),  an  ihrem  Schlüsse 
noch  freuden  —  jämer,  426,  25  wip  unwiplich.  ähnlich  in  liii  : 
Wip    und   fr owen    in    einer    wcete   —  —  —  —   vrowe    unwiplich 

(566,  17  f.). 

Anaphorisch: 

din  lieber  man,  min  liebez  wip, 

daz  si  wir  beidiu,  und  ein  lip  (447,  27). 

Die   autithese   steigert  sich  zum  oxymoron  (vgl.  Burdach, 

s.  69  I). 

II Helen  ist  den  senenden  leit: 

ako*  wünneclichiu  huote 

wcere  mir  ein  swlikeit    (410,  9  f.). 

—  da  von  ist  ir  ratsch  den  guolen  guol  (418,  14  in  xxu, 

sclilusspointe,  s.  o.). 
si  ist  übel,  si  ist  guol, 
wol  und  we  si  beidiu  luot    (nämlich  die  minne,   435,  10). 

Häufung,  synonyme,  asyndelon. 
Die  gegen  ende  der  mhd.  lyrischen  entwicklung  so  stark 
hervortretende,  schliefslich  gefährliche  neigung  zu  häufungen 
macht  sich  schon  bei  Lichtenstein  in  hohem  mafse  geltend,  die 
häufung,  fast  durchgehends  asyndetisch,  ist  ein  wesentliches 
element  seiner  poesie.  mit  Vorliebe  verbindet  sie  synonyme, 
und  bringt  so,  womöglich  noch  in  Verbindung  mit  andern  rede- 
formen, virtuosenhafte  parallelismen  hervor,  für  eigentliche  auf- 
zählungen  gröfseren  umfanges  ist  Ulrich  zu  geschmackvoll. 

Einfache  asyndetische  häufu  n  gen  :  tanzen,  singen, 
lachen  (113,21),  ougen  wunne,  herzen  spil  (417,  10),  heide,  vell, 
anger,  wall  (431,  21),  heide,  velt,  wall,  anger,  ouwe  (436,  24),  deren 
färben  wiz,  röt,  bld,  gel,  briin,  grüen  (431,  24,  in  xxix,  das  als 
reie  asyndelische  häufung  liebl).  —  körperleile  der  geliebten  :  ir  ougen 
kinne  wengel  munt  (448,  24),  dasselbe  in  asyndelischer  liäufung  von 
sechs  gliedern  521,  25  und  gleich  darauf  521,  31;  an  diesen  stellen 
sind  je  die  beiden  ersten  glieder  des  asyndelons  durch  anapber  des 
possessivums  (ir  hals,  ir  ougen)  nuanciert.  —  ritlerlicbe  forderung: 
Ir  sült  hochgemuot  sin  under  schilde, 
Wolgezogen,  küene,  blide,  wilde  —  (457,  3). 
segensreiche  gaben  der  geliebten  :  wende,  xounne,  rillers  leben 
(525,  19),  lip,  guol,  eregernden  sin  (525,  22,  xliv  beschwerung  des 
dritten  gliedes;  ähnlich  425,  8  und  426,  20,  je  vier  glieder.  — 
liebkosung  :  Güetlich  triulen,  küssen  suoze,  drücken  brüst  an 
brüstelin  (516,  13).  —  ihre  lugenden  :  sist  noch  bezzer  danne  guol, 
schoene,   dd  bi  tvol  gemuot  (400,  17,    sehr  ähnlich  415,  15),   drei- 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  73 

gliedrig  427,  7;  449,  22  f;  508,  24;  509,  5;  537,  1;  577,2  *ier- 
gliedriges,  546,  S  fiinfgliedriges  asyndeton  mit  swei  vorbergelmden, 
gleichfalls  asyndetischen,  anaphorischen  parallelsätzchen,  572,  25.  26 
gar  ein  sechsgliedriges ;  576,  17;  5S4,  29.  30.  mit  anapher  400,  I: 
ir  vil  lieben,  ir  vil  guolen,  höehgemuolen,  desgl.  12:;.  j  7 ;  554,  17  f. 
(4  glieder).  —  desgl.  fiir  leilt  und  seile  :  an  dem  Ube,  an  dem 
muote  (554,  24),  als  gesamlausdruck  der  exislenz.  für  kommen  und 
gehn  :  ir  urloup,  ir  grüesen  (525,  1 1). 

Den  gipfel  erreichen  folgende  fälle:  dreigliedriges  asyndelon  mit 
innerer  anapher,   nebst  synonymen  im  ersten  glied: 

Heize  und   aller   min   tjedane, 

Irine   an    allen    kraue, 

rekÜU    sldl    du    allen    leanr   (126,  9  f) 

und  fiinfgliedriges  asyndeton  mit  viermaliger  anapher  und  adjeelivischer 
beschweruog  des  ersten,  vorletzten,  und  namentlich  des  letzten  gliedes: 

Mit  staslem  muote, 

mit  libe,  mit  guole, 

mit  reiner  fuoge,   an  alle  arge  sile  (136,  5  f.). 

Das  hauptgebiel  der  asyndetischen  bäufung  aber  bilden  die 
synonyme,  in  denen  Ulrichs  phanlasie  und  sprachkuast  sich 
Dicht  genug  tun  kann,  eine  fülle  von  formen  tritt  uns  hier 
entgegen  —  schon  die  bisher  angeführten  beispiele  zeigten  mehr- 
fach lendenz  zur  synonymie  —  :  sie  alle  anführen,  hiefse  Ulrich 
halb  ausschreiben,  er  zeigt,  durcheinander,  alle  stufen  der  ent- 
wicklung;  die  neiguug  zu  dieser  ßgur  aber  nimmt  beständig  zu. 

liebe,  minne,  ist  al  ein  (430,  2).  behalte,  behüele  (404,  29). 
min  [riunl,  geselle,  lieber  man  (,4  4  7,  14).  süeze,  reine,  vil  guot 
(404,  1),  si  vil  guole,  süeze,  reine  (441,  30).  die  zit  wol  ver- 
triben,  ze  scp.lden  sich  ke'ren,  bi  freuden  beliben  (403,  25).  uf  e're 
sich  pinen,   in   lugnden   ersehinen  (404,  16,   beides  in  xvi). 

Mannigfaltigster  ausbildung  labig  ist  diese  figur  durch  ver- 
schiedenartige Verwendung  der  anapher. 

Zweigliedrig  :  der  guolen,  der  reine  gemuolen  (134,  20). 
so  sunder,  so  se're  (394,  19).  slcele  liebe ,  slcelen  muol  (430,  8). 
uiplich  zuhl  und  uiplich  güele  (576,  17).  mit  liebe,  mit  güele 
(404,  30).  er  hazzel,  er  schiuhel  etc.  (404,  12  analog  400,  6). 
ir  merken,  ir  Jiüelen  (40S,  1).  ir  aller  güele,  ir  aller  wünschen 
(398,  6).  vor  unfreuden,  vor  unmuote  (410,  7).  mit  ir  triulen, 
mit  ir  lachen  (533,21).  der  vil  guolen,  der  vil  werden  (322,  12). 
rieh  an  freuden,  rieh  an  aller  seclikeit  (397,  2).  trösl  für  iriiren, 
trösl  und  rät  für  senediu  leil  (397,  4). 

Dreigliedrig  :  si  reine,  si  scelic,  si  höre  —  st  guole,  si 
liebe,  si  reine  mit  si  liebe,  si  guole  —  st  liebe,  si  süeze  —  si 
scheene ,    si  cldre  respondierend  als  integrierender  bestandteil  von  xn. 


74  BRFXHT 

so  süeziu  not,  so  senfliu  sucere,  so  lieplich  twanc  (134,24).  Min 
tröst ,  min  wünne,  miner  sirlden  keiserin  (322,  26).  Für  sin 
stürmen,  für  sin  suchen,  für  sin  ungefüege  drö  (446,  17). 

Asyndetische  anaphorische  synonymenpaare:  den 
minnet,  den  meinet,  mit  herzen,  mit  muole  (404,  27). 

Viergliedrige  anaphorische  asyndeta  von  syno- 
nyme n : 

vrowe  schoene,  frotoe  reine, 

frowe  S(BÜc,  frovoe  guot  —  (434,  19). 

Wibes  schoene,  wibes  ere, 

wibes  (jüete,  wibes  zuht  —  (437,  9). 

—  miner  freuden  wunne, 
mines  herzen  spilndiu  meyen  sunne, 
min  freuden  geb,  min  stelden  wer  (513,  24). 

Folgerichtig  überträgt  Ulrich  die  stilform  vom  einzelausdruck 
auf  den  satz.  es  entstehen  die  rhetorisch  oft  sehr  würksamen 
kurzen  parallelsätze  mit  anapher  und  synonymen. 

ich  wünsche,  ich  dinge  (395,  9).  si  ist  schoene,  si  ist  guot 
(546,  7).  diust  min  wunne,  diust  min  frouwe  (449,  14).  Wil  si 
guole,  wil  si  reine,  wil  si  süeze  —  (410,  12).  si  git  freude,  si 
git  ere,  si  luot  höher  lugende  rieh  (435,  22).  Si  hat  schoene,  si 
hat  ere,  sist  ein  reine  süeze  wip  (441,  21).  Ich  hdn  von  ir  ere, 
ich  hdn  von  ir  höhen  muot.  dannoch  hdn  ich  mere  von  ir 
(525,  15 f.).  —  Ich  hdn  von  der  guolen  —  (525,  21).  Ich  dähte 
dort,  ich   ddhle  hie,  Ich  ddhl  an  dise,  ich  ddht  an  die  (439,  22). 

Beliebt  ist  die  art,  asyndetisch  gehäufte  parallelsätze  inhaltlich 
im  letzten  parallelsatz  zusammenzufassen: 

Herre,  kan  diu  minne  swenden 

Irüren   und  ouch  senediu  leit, 

höchgemüel  in  herze  senden 

füegen  zuht  und  werdekeil, 

hat  si  alles  des  gewall  —  (435,  13  f.). 
Aus  solchem  material  zimmert  Ulrich  seine  parallelstrophen, 
deren  bedeutung  für  die  composition  im  zweiten  capitel  besprochen 
worden  ist.  die  Vorstufe  zu  ihnen  bilden  die  häufigen  parallel- 
sätze aus  scheinbar  ganz  gleichwertigen  synonymen  zusammen- 
gesetzt, die  aber  doch  allmählich  bestimmter  oder  nachdrücklicher 
werden,  und  so  den  gedanken  oder  das  gefühl  weiterführen, 
womöglich  noch  anaphorisch: 

Daz  diu  vreude  lange  wer, 

daz  ich  weinenl  iht  erwache, 

daz  ich  gegen  dem  tröste  lache, 

des  ich  von  ir  hulden  ger  (98,  1 — 4). 


ULHICI1  Vi»  LICHTENSTEIN  7:. 

Und  also  grüt 

ilnz  ir  gebasre  min  swaere  mir  büexe, 
duz  si  mich  scheide  von  leide,  ri  liebe, 
Wenne  hunU  mir  freuden  schin? 

wenne  wil  du,  soßlic  frowe,  gefreun  duz  sende  herzt  min? 

(397,  17). 

/Uyndetische    bäufung  liebt  Ulrich  endlich  beim  attributiven 

adjectiv,    besonders    bei   epithetis   für   sein»'   dame   oder    ihre 

enschaften.     die    hierfür    traditionelle  zweigliedrigkeit   genügt 

ihm  nicht. 

ir  reinen  süezen  lip  (445,  22),  mit  linden  nizen  armen 
(449,  1).  Wil  SO  reinem  süezen  trihe  (449,  17,  d.'iss.  580.21). 
guot  wipllch  irip  (537,3).  dise  liebe  süeze  unmuose  (516,  15). 
iwer  minneclichen  süexiu  wart  (550, 17).  diu  eil  siiezer  minneclicher 
lip  (518,23),  ir  ril  liepllch,  güellich  lösen  (533,  27).  ir  Hehlen 
spunden  süexen  ougen  (525,  2).  ir  ril  liepltch  güellich  lossllch 
grüexen  (511b,  6).  durch  die  reinen  süezen  guoten  herxenlieben 
werden  vrowen  min  (556,  16). 

Substantivierte  adjeetive  als  träger  dieser  häufung  sind  ganz  ge- 
wöhnlich, zb.  diu  süexe  minnecUche  (513,  10),  diu  ril  reine  süeze 
(520,  29),   diu  reine  süeze  guote  (554,  25). 

Die  neigung  nimmt  gegen  ende  mit  der  wachsenden  künst- 
lichkeit  der  lieder  zu. 

Polysyndeta  kommen  bei  Ulrich  kaum  vor.  über  drei 
glieder,  deren  drittes  er  auch  hier  beschwert,  geht  er  nicht 
hinaus   :    Erge   und   unfuoge    um!  unfuore  diu  wilde    (404,  18)  l. 

Mit  den  zuletzt  besprochenen  erscheiuungen  nahe  verwant 
ist  der  syntaktische  parallelism  us;  aucli  er  ist  bei  Ulrich 
nicht  selten,  sehr  häufig  tritt  er  als  congruenz  auf.  irgend- 
welche regel  für  die  beschwerung  der  glieder  (vgl.  Joseph  Klage 
der  Kunst  s.  43  und  bes.  44)  lässt  sich  nicht  finden. 

Co ngrue u  z  :  Erdenken  und  erwünschen  (417,  11).  unfuoget 
und  gewaldel  (419,  20).  wunne  und  freude  (5S1,  24).  ir  mimte 
—  und  ir  gruox  (457,  29).  ir  sil  unde  ir  muol  (572,  3).  min 
tröst  l"ur  (raren  und  min  freuden  gebe  (585,  12),  für  klagendiu 
teil  und  ouch  für  senede  not  (403,  15).  min  heil  und  ouch  min 
wünne  (423,  23).  mit  hohem  muote  und  ouch  mit  ritterlichem 
leben  (429,  6).     ir  urloup  und  ouch  ir  grüezen  (534.  7). 

Incongruenz  :  daz  herze  und  aller  min  gedanc  (399,  12). 
scelde  und  al  der  vreuden  min   (399,  17,   beides  xiv).     eines  werden 

1  in  der  lelirdichtung  kennt  er  dies  stilmittel  :  3S  verse  langes  Poly- 
syndeton im  relativsatz  FB  637,  5  bis  638,  10.  ein  noch  längeres  642,  2  his 
643,  28  (59  verse). 


76  BRECHT 

wibes  hulde  —  und  ir  minne  (553,  22).  werdes  uibes  minne  und 
ouch  ir  friundes  gruoz  (42S,  20).  Iruren  und  ouch  senediu  leil 
(435,  14).     in  hohem  muote  und  ouch  bi  freuden  (445,  12). 

Breite. 
Verschiedene  der  behandelten  redeformen  führten  schon  ein 
elemeut  der  breite  mit  sich,  das  häufig  zur  äufseren  Zierlichkeit 
der  lieder  ungemein  beitrug,  ihren  iuhalt  aber  verdünnte;  so  die 
verschiedeneu  formen  deranapher,  die  synonyme,  die  parallelismen. 
noch  andere  redeformen  haben  diese  würkuug,  die,  weniger 
zierlich,  häufig  nicht  auf  künstlerischer  absieht,  sondern  auf 
lässiger  gewohuheit  beruhen. 

Künstlerische  geltung  haben  am  ersten  noch  die  spielen- 
den Variationen  von  vorhergehndem.  so  überflüssig  sie 
meist  für  den  inhalt  im  grofsen  sind,  ganz  still  steht  der  gedanke 
in  ihnen  doch  nicht  (s.  o.) 

Hier  ist  ein  hauptgebiet  des  chiasmus,  zb.  419,  17 — 21 
(swer —  swer),  der  auch  manchmal  zur  schlusspointieruug  dient: 
509,  2 — 5  {Ir  lip  —  —  ir  rot  wiz  prnner  schin). 

Die  Variation  bringt  ein  notwendiges  moment  in  den 
gedanken;  statt  vieler  beispiele: 

swer  mil  zühlen  Ireil  der  freuden  kränz, 
und  dem  sin  muol  stäl  von  wiben  ho  —  (536,  11). 
In    das    letzte    glied    der   Variation    kommt  das  im  folgenden 
weiterführende  motiv: 

holten  lop   erwirbel  höher  muol. 

guolen   wiben  höchmuot  wol  behagl: 

du  ton  wil  ich  immer  mere  sin 

höchgemuol  durch  dich,  guot  vrowe  min. 

Yreude  gibt  mir  di  n  wol  redender  munl  etc. (536, 17 — 20). 

Ganz  dasselbe  am  Übergang  der  vierten  zur  fünften  Strophe 
desselben  variationenreichen  gedichts  xlvi,  aufserdem  mit  breiter 
widerholung  (537,  3.  4).  sehr  instrucliv  für  die  technik  ist 
schließlich  das  beispiel  der  letzten  Strophe,  in  der  die  Variation 
(537,  6.  7)  des  vorhergehnden  (537,  4.  5)  an  ihrem  ende  das 
Stichwort  himel  bringt,  das  dann  den  betonten  gedichtschluss 
herbeiführt,  und  in  xlv  der  Übergang  von  Strophe  2  zu  3  (zwei 
Variationen,  Stichwort  rösen),  von  Strophe  3  zu  4  (drei  Variationen, 
Stichwort  zinhet). 

Eine  eigentümliche  art  der  Variation  zeigen  die  verse  520,29. 
30,  die  520,  25—28;  521,  5.  6,  die  521,  1—4;  521,  11.  12,  die 


ULRICH   VON   LICHTENSTI  IN  77 

.Vi l,  7— 10;    521,17.   18,    die  521,  13— 16;   521,  >.   die 

521,25 — 2s  in  bewustem  parallelismus  variierend  zusammenfassen; 
521,21  variiert  521,21.  zwei  drittel  der  Btrophe  werden  im 
letzten  drittel  repetiert,  das  ganze  lied  (.xlmi)  ist  daraufhin  an- 
gelegt; nur  der  pointierende  schlug«  macht  eine,  wol berechnetet 
ausnähme. 

Für  il  i  e  composition  wichtig  sind  die  Variationen 
im  xliv  liede,  wo  sie  den  hauplteil  <lrs  gedichtes,  Strophe  3 — 5, 
wQrkung  des  wortes  der  dame,  formieren;  in  den  anfangs-  und 
Bchlussstrophen  (schema  :  2  +  3  +  2)  fehlen  sie. 

Variationen  ohne  wert  für  den  gedankengang  bieten 
dagegen  die  Strophen  i  in  7  im  Verhältnis  zu  6,  lvi  3  zu  2,  5 
zu  4;  die  verse  572,3—5  in  bezug  auf  571,  28.  29.  21.  22. 
11 — 13.  7 — S:  im  liede  liv,  dessen  Variationen  von  Strophe  zu 
Strophe  sonst  geradezu  paradigmatisch  >ind  für  die  unvermerkte 
weiterführung  durch  scheinbar  absichtslosen  Stichwortwechsel.  — 

l»ie  eigentliche  tautologie  dient  -eilen  der  prachl  der  rede : 
Salden  ich   wäre    vil  rieh  und  au  ireuden  der  fruote  — 

(394,  21), 
oder  ihrem  nachdruck : 

je  und  unfuoge  und  unfuore  diu  wilde] 
geximl  nilit  dem  helnn  und  toue  nihl  dem  schilde  (104,  19), 

ist  vielmehr  meist  zwecklos: 

daz   tuot  herzenlichen   icol  und  machet  vrö  (516.  24). 
Wol  ir  kleinvelrötem  mundet 
immer  scelic  si  ir  süezer  munl  (563,  19). 
Der  letzte  fall  ist  wie  563,  7  und  13  durch  die  grammatischen 
reime  des  gedichtes  (ui)  hervorgerufen. 

Besonders  lieht  es  Ulrich,  einen  gedanken  erst  affirmativ, 
dann   negativ  auszudrücken,  auch  wol  umgekehrt: 

vreude  bringen  und  unfreude  scheiden  dan  (417,  4). 

den   muot  durch  iueh  höhe  tragen 

und  an  freuden  nihl  verzagen    (443,  18). 

ich    verlribe 

(Türen  mit  ir  minem  libe. 

höhen  muot  ich  da  zir  hol 
(449,  13  f.    Variation    davon    an    entsprechender    stelle    «ler    nächsten 
strophe    449,  2S  f.)-    —    über    eine    ganze    strophe    ausgedehnt  :  liii 
slrophe  5.  — 

Zu  pleonasmen,  füllworten  und  flickversen  kommt 
es  leicht  unter  dem  zwange  des  künstlichen  metrums  oder  des  reims. 


78  BRECHT 

st  kan  troeslen  sere  (404,  10,  ere  :  lere),  bequemsten  reim  bringender 
versscliluss  :  —  daz  weis  ich  wol  (561,  7  :  sol);  dest  also  (577,  13: 
vrö).  fast  traditionelle  pleonasmen  als  notwendige  verschen  im  leicli, 
423,  13.  425,  17;  und  sonst,  567,  3.  abrundende  zusätze  am 
strophenschluss  435,12.26.  566,30.  567,12;  als  notwendige 
Überleitung  zur  folgenden  strophe  567,  5  (guote,  obwol  eben  vorher 
schon  beste  l).  es  ist  bezeichnend  für  den  Charakter  der  zweiten 
minne,  dass  gerade  in  dem  persönlichen  schlussteil  dieser  letzten  lieder 
solche  füllsei  gedeihen. 

Zur  breite  der  rede  tragen  schliefslich  die  anknüpfungen 
mit  ouch  (30,5),  die  bekräftigungen  mit  Jd  (111,  1.  126,  19. 
135,  4;  zur  einleitung  des  Wunsches  :  Jd  herre  —  401,  9;  zum 
betonten  gedichtschluss  401, 12;  bei  der  Zusammenfassung  553,24), 

die   erklärungen  bei  (Jd  mein  ich  406,  15; ich  meine 

576,11).  ganz  vereinzelte  constructioneu  äitö  y.oivov  (404,  21. 
424,11.  521,22 — 24  lachen)  kommen  mit  ihrer  raumersparnis 
dagegen  nicht  auf. 

A  llitteration  und  assonanz. 

Es  wird  aufgefallen  sein,  dass  manche  der  mitgeteilten  stil- 
beispiele  aufser  durch  die  eigenheit  der  repräsentierten  figur 
auch  durch  eine  lautliche  Übereinstimmung  gekennzeichnet  waren, 
nämlich  durch  die  allitteration ;  schon  durch  die  anapher 
kommt  ein  starkes  alliterierendes  dement  in  Ulrichs  verse. 
aber  auch  die  würkliche  allitteration  verschiedener  Wörter  ist 
ihm  ein  vertrautes  hilfsmittel  der  eleganten  rede,  dabei  zeigt 
er  eine  eigentümliche  Vorliebe  für  die  weichen,  schmeichelnden 
anlaute  w  und  l. 

wünschen  unde  wol  gedenken  (98,  5). 

—  so  daz  si  mit  willen  günne 

mir  von  ir  so  werder  wünne  —  (98,  10). 

ivolgemuotes  werdes  wibes  sirme(576, 19,  ähnlich  576, 17.21), 
xiv  strophe  5  (400,  20  f.)  :  14  mal  w-anlaut  in  acht  versen, 
derselbe  in  kleinerem  mafsstabe  403,  22 — 24.  ferner  406,  23. 
428,  20.  513,  17  f. 

—  lieben  wdn  und  leiden  wanc  (421,  28). 
so  si  mit  der  liebe  lose 

ist  nach  ir  vil  süezen  sit  (581,  19). 

freude  ist  süeze,  sorge  ist  süre  (421,  7). 

ir  höchgemuotes  herzen  rdt  (428,  17).  — 

Lvni  str.  6  :  liehten  —  liebe  —  liep  —  lieber  —  lip 
str.  7  :  lieber  —  lip  —  lere  —  lebe  (585,  lf.) 
beide    Strophen    werden    so    durch   l   für   die   Stimmung    gleichmäfsig 
gefärbt,  die  letzte  aufserdem  durch  widerkehrenden  tc-anlaut  weiz  — 


ILIUCH  VON   LICHTENSTEIN  79 

wenden  —  volle;  der  Bchlussvers  erhält  seinen  Charakter  durch  eine 
hüriere  lautgruppe  :  trösl  für  frtfren.  die  stimmungmalende  allitteralions- 
kunsi  des  xvii  Jahrhunderts  war  nichts  neues. 

Von  Dblichen  allitterierenden  form  ein  trifft  man  aufser 
der  eben  erwähnten  tröst  für  trüren  (zb.  401,  9.  585,  12),  leit 
mich  liebe,  Ziep  nach  leide  (105,  1),  min»  unde  meine  (394,  20. 
UH,  27),  wol  und  we  (435, 11),  mm  unde  so  (zl>.  513,  15.  582,21). 

Die  assonanz  spielt  eine  weit  geringere  rolle,  gelegentlich 
unterstützt  sie  die  allitteration  :  der  nähen  bi  hl  liehe  lieplich  Ut 
(104,29),  lief  Hebe  Ut  (433,  10).  ein  beispiel  wie  Diu  inioi 
an  den  iciben,  diu  tuot  mich  so  frö  (408,  13)  leitet  über  zu  den 
eigentlichen  bi  n  u  eurei  men,  die  aus  Ulrichs  verskunst  nicht 
wegzudenken  sind  und  zb.  das  zierliche  lied  xu  wesentlich  ge- 
stallet  haben  (vgl.  auch  423,  27;  ungenau  567,  7).  nicht  selten 
trelen  sie  in  der  form  der  schlagreime  auf;  zb.  zecjlkh  muot 
muoz  sin  dem  schilde  wilde  (457,  22).  als  ungenaue  schlagreime 
sind  falle  wie  in  ir  munde  wunder  Ut  (5S1,  16),  e'ren  lere 
(zb.  5S5,  9)  aufzufassen. 

Lebhaftigkeit  der  rede. 
Ist  Lichtensteins  lyrik  vielfach  breit  und  manchmal  leer,  so 
ist  sie  doch  last  nie  schleppend  monoton,  einschläfernd  gleich- 
mafsig,  wie  die  manches  Zeitgenossen,  der  auch  nur  ein  thema, 
die  minue,  kennt,  dies  ligt  an  der  lebhaftigkeit  seiner  rede,  die 
vorwiegend  durch  den  reichlichen  gebrauch  einiger  Stilmittel 
bewilikt  wird  :  voranstellung,  ausruf,  frage  und  anrede,  durch 
ihre  betrachtung  muss  der  eindruck  blofsen  wortreichtums 
corrigiert  werden. 

Voranstellung  und  parenthese. 

Ulrichs  naturell  ist  so  lebhaft,  dass  es  mit  der  hauptsache 
nicht  warten  kann,  sondern  sie  so  rasch  als  es  irgend  geht, 
vorbringt,  diesen  eindruck  empfangt  man  von  den  zahlreichen 
voraustellungen,  die  seine  gedichte  von  allen  andern  unter- 
scheiden, dies  mittel  der  heraushebung  erscheint  in  den  ver- 
schiedensten  formen. 

Unterstreichende  voranstellung  des  subjects  im  absoluten 
nominativ,  wider  aufgenommen  durch  ein  pronomen  in  irgend- 
welchem casus,     an  beispielen  herscht  überfluss: 

5t  reine  guot 

swie  si  mir  luot  —  (136,  11). 


80  BRECHT 

St  rouberinne,  si  hat  —  (412,  14). 

diu    huol  an  den  wiben,    diu  luot  mich  so  frö  (408,  13). 

freude  und  mine  besten  tage 

die  sinl  hin  mit  seilender  klage  (414,  6). 

Das  vorweggenommene  subject  wird  als  subject  eines  folgen- 
den relativsatzes  oder  verallgemeinernden  relativsatzes  recapitnliert: 
Nideriu  minne,  an  freuden  tot 
ist  er  dem  si  an  gesigl  (59,  1). 
Guoliu  wip  süez  unde  reine, 
derst  noch  wunder,  swd  si  sin  (421,  31). 

Es  wird    mit  dem  Possessivpronomen  eines  folgenden  frage- 
satzes  aufgenommen: 

Si  vil  minneclichiu  guole  —  —  —  —  — , 
wd  hat  mir  ir  güete  vor  verborgen  sich? 
(401,  5;  ähnlich  399,  17,  in  demselben  Hede  xiv). 
Es  besteht  aus  parallelen  infinitiven: 

ir  merken,  ir  hüelen,  daz  trosstet  noch  baz  (408,  l  ähnl.  6). 
Ellipse  des  subjectinfinitivs: 

mit  zühten  vrö  [seil,  sin],    daz  ist  ein  leben  —  (428,  5). 
Auffallend     nachdrückliche      recapitulation     des     mit     ver- 
allgemeinerndem relativsatz  eingeführten  subjeets  zu  überdeutlicher 
Strophenanknüpfung  560,  19  f.  :  Swelch  wip  güetlich  lachen  kan,  — 
hdt  diu  röten  munt  — . 

Zwecklos  gewordene  manier  der  recapitulation: 

Min  lip  der  lac  niulich  eine  —  (582,  11). 
Betonende  voranstellung  des  objeets: 
Im  absoluten  nominativ  (?): 

schdeh  unde  roup,  diu  beidiu  klage  ich  —  (412,  9). 
In  dem  vom  folgenden  verbum  regierten  casus : 
lieben  wdn  und  leiden  xcanc, 
swaz  si  des  ein  ander  tcelen  —  (421,  28). 

Voranstellung  des  logischen  objeets: 
Mit  relativsatz  umschrieben: 

Daz  si  heizent  klagende  not, 

solde  ich  dd  mit  immer  ringen  —  (409,  23). 
In  dem  vom  folgenden  verbum  regierten  casus: 

Rehler  freuden,  swer  der  waldel  —  (421,  3). 
In  zweieinhalb  langen  versen  :  400,  12  f. 

Voranstellung    des    entfernteren   objeets   im    absoluten 

nominaliv: 

Alle  die  in  hohem  muote  wellen  sin, 
den  wil  ich  daz  raten  —  (426,  12). 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  81 

Dasselbe  mit  Umschreibung  des  entfernteren  objects  durch  ver- 
allgemeinernden relalivsatz,  zu  dispositiontmifsiger  strophenanknüpfung, 
wie  oben  :  Steeleh  man  rieh  —  hdi  behuot  —  -  .  m>4  ein  wip 
sich  an  den  hii  - —  der  lip  darf  etc. ,  eine  recapitulatioo  in  die 
andere  geschachtelt  (561,  3  1'.,  u;  vgl.  560,  1 9 f.). 

Voranstelluog  des  prädicatsnomens  im  absoluten  oomi- 
nativ,  um  anfang  der  Strophe: 

Ein  höhe  mt'nne  gernder  man 
mit  slatem  muote,  das  piu  ich  (131,  13). 
S.lii    eindrucksvoll  am  liedschluss: 
Trost  miner  jdre, 
daz   ist  ir  scliouwe,  st    rrouwe,   zewdre  —  (395,  llj. 

Voranstellung  der  apposition  (absol.  nomin.)  am  gedieht- 
anfang: 

Der  iverlde  iröst  und  al  ir  werdikeit, 
ir  guolen   reiitiu  xcip  —  (402,  17). 

Vorziehen  des  abhängigen  s  atz  es,  sehr  beliebt: 
Daz  ieman  die  lugende  scheide, 
des  teil  rehtiu  minne  niht  —  (419,  8). 
Wie  si  si  gevar,  diu   wol  gemtiote, 
da:  wil  ich   iueh  wixzen  lau  (50S,  22).  — 

Zur  eigentlichen  prolepsis  mit  ihrem  constructiouspreugendeu 
ungestüm  kommt  es  also  nicht. 

Der    gleichen    momentanen    Unfähigkeit  des  abwartens  wie 

die  voranstelluog  entspringt  die  pareuthese,  von  der  ich  jedoch 
bei  dem  correcten  Ulrich    nur  ein   beispiel  finde  :  546,  13. 

Ausruf. 
Schon  die  voranstellung  des  subjeets  nähert  sich  manchmal 
dem  ausruf  (zb.  136,  4;  412,  14)  :  zum  ausruf  drängt  Ulrichs 
ganze  persönlichkeit,  trotzdem  sind  epitheta,  im  ausruf  appositioneil 
an  personalpronomina  angeschlossen,  oder  ausrufe  in  ganzen 
Sätzen  ohne  interjeetion  nicht  so  häufig,  als  man  erwarten  sollte. 

Er  töre  vil  Lumber  —  (407,  27). 

Neiz  waz  ich  singe 

von   der  naht  :  —   (30,  1). 

Zur  bezeichnung  des  Wunsches: 
Wer  weer  ich  dan, 
ich  scelic  man  1     (31,  5). 

Jd  herre,   fünde  ich  iender  iröst  für  Irüren  anderswd, 
e  daz  ich  verdürbe  miner  freuden,  miner  besten  zit!  (401,9). 
min  Up  si  vrö  :  —  (403,  7). 
Immer  müeze  scelic  sin 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  6 


82  BRECHT 

ir  vil  eren  rieher  werder  lip  (406,  13). 

Die  ganze  Strophe  xvu  5  (406,  25  f.). 

het  ich  doch  noch  wdn  als  e  —  (414,  20). 

Desto    häufiger    ist    die    anknüpfung   eines   satzes,    Satzteils 
oder  wortes  an  eine  interjection. 
Wie  kanstu,  Minne, 
mit  sorgen  die  sinne, 

den  muot  betouben  mit  sender  clage!  (anf.  x). 
wol  dir  tac,  vil  scelic  si  din  nam     (30,  21). 
Wol  dir,  sumer,  diner  süezen  —  —  zil  (anf.  xxxi). 
wol  dem  manne,  wol  dem  tvibe!     (583,  8). 
Wol  her,  danket  —  (anf.  xxn).  —   Wol  her  alle  —  (anf.  lu). 
Wol  ir  kleinvelrötem  munde!     (563,  19). 
wol  ir  —  (508,  16;  534,  13;  560,  24  u.  ö.). 
wol  im  —  (113,  17).   —   doch  wol  im,  der  —  (59,  3) 
wol  uns  des  —  (445,  5), 
Wol  ufl  ez  taget     (512,  9). 

Nicht  selten  ist  die  selbstbeglückwünschuug: 

Wol  mich  der  sinne  —  (anf.  xu). 

Wol  mich,  ez  ist  ergangen  —     (auf.  vui). 

wol  mich,  wol  mich  —     (441,  3) 

Wol  mich,  wol  mich,  wol  mich  des  —     (anf.  lv). 

wol  mich,  wol  —     (515,  23). 
Als  respondierende  Strophenanfangsanapher: 

Wol  mich  immer!  —  ^ 

Wol  mich,  wol  mich  iemer  mere  —  >  xxxvn,  alle  str. 

Wol  wol  wol  mich  —  J 

Fast  ebenso  häufig  we: 

we  daz  mirs  diu  guote  niht  engan!     (schluss  u,   31,  7) 

We  daz  mir  diu  guote 

verret  so  ir  minne!     (anf.  vi,  110,  5). 

We  warumbe  sul  wir  sorgen?     (anf.  vu,  113,  13). 

Owe  owe  frowe  Minne  —     (114,  9). 

Owe  daz  ich  —  —  muoz  —     (anf.  xiv,  399,  9). 

Owe  sold  ich  —  (400,  4,  xiv). 

Owe  des  —     (412,  21). 

Owe  des  —  414,  3,  anf.  xxi,  widerholt  ach  oice    414,  8, 

we  der  klage  und  owe  414,  18.  19  :  klimax. 
Owe  der  so  sceUc  wcere  —     (420,  16). 

Anderes: 

heg  fünd  ich  der  guolen  eine!     (422,  1) i. 
heg  waz  lieber  dinge  bringent  mir  —  —  die  wünsche  min! 

(400,  1). 

1  vgl.  Roethe  s.  326  mit  anm.  361.     Borchling  Der  jTiturel  s.  122. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 

hey  was  im  sin  dienest  salden  bringet  l 
wie  fraltchen  endet  sielt  sin  tednl     (117. 

Waffen     über    dir    gar    unyuolen    —      (auf.    xlv,    533t    13, 
wiilciliull:    iv äffen   über  si   immer   mrrr     :,:<3,  17). 
Frage. 
Ziemlich  Bellen  ist  die  echte  frage: 

Vroioe,    liebin    i  rmve   min, 

U>ar    uinhe   bislu    mir  geliaz't      (105,  8). 

ui   durch  welch   wunder 

nimpl   si   des    nihl    war?      (135,   11,    \,    ilialog). 

Mar  si  ril  reine 

besunder  duz   eine 

um    tut  bescheiden,  was  ir  uille  sl?     (135,  25,  x). 

—  sage,  wie  teil  du  treesten  mich?     (397,  6,  xin). 

W'enne   huml    mir   freuden   schin? 

wenne   wil  du,  scelic  frowe,  gefreun  daz  sende  herze  m/n? 

(397,  17,  xiii). 
Ferner  im  n  dialog,  Strophe  2  und  ü,  zh.  434,26: 

Herre,  saget  mir,  waz  ist  minne? 

ist  ez   wip   odr   ist   es  man?  — 

waz  hat  si  dar  zuo   betwungen, 

daz  in  wip  noch  jugent  freude  yii?     (556,  6). 
Schüchterne    frage    als  vorsichtiger  ausdruck  des  Wunsches: 

Was  obe  si  daz  wünschen  lieze  lihle  sunder  haz?    (400,  8). 
Frage  mit  sogleich  erfolgender  antworl: 

Sol  ich   da   bi  In'iric  sin? 
neind,  frowe,    treu   mich  —      (397,  9). 
Ob  ich  des  iht  innerclichen  wünsche?    jd  —     (400,  14). 
Formelhafte  frage  des  volksepischen  Stils,  mit  antwort: 
Wie  pflac  sin  den  tac  diu  süeze  minnecliche? 
so   daz  er  wart  hohes  muotes  riche. 
so  kurzen   lac  gewan  er  nie      (513,  10  f,  u  tagelied). — 

Sehr  gewöhnlich  sind  auch  hei  Ulrich  rhetorische  fragen. 
Wie  möhl  ir  mir  vreude  geben 
dne  die  vil  lieben  guolen?     (98,  17). 
uä  hdl  freude  sich  verborgen?     (420,  21). 
ifo:  danne  ob  mir  ir  einiu  hat 
Erzeigel  höhe  misseldl?     (424,  8). 
swd  ein  vrowe  unwiplich  la?le, 
wer  möhl  der  gelrouwen?     (566,  19). 

Als  gedichtanfang: 

W4  war   umbe  sul  wir  sorgen?     (vu). 
Was  darumbe,  ist  verswunden 
uns  der  sumerl  —  (l). 

6* 


84  BRECHT 

Zum  anfang  des  leichschlusses: 

Nu  waz   bedarf  min  seneder  lip  —  tuot?   (425,  11 — 15). 
Als  Übergang  zum  hauplteil  eines  liedes  (typus  C): 

Zwiu  sol  mir  des  winders  zit 

und  ouch  dar  zuo  sin  langiu  naht?     (104,  23). 

Als  gedichtschluss: 

Wd  von  sold  ich  wesen  vrö, 
swenne  von  ir  mine  sinne 
noch  min  muot  niht  stüende  hö?     (410,  23). 
Beim  Strophenanfang : 

Si  vil  ungencedic  wip  — 

waz  mac   ir  gewall  mir    liebes    mer   benemen?     (399,  17, 
ebenso  401,  5   in  dem  fragenreiclien  liede  xiv). 

Als  strophenschluss: 

waz   bedarf  der  lugende  mere, 

swer  die  lugende  beide  hdl?     (419,  6). 

Sehr  beliebt  sind  gehäufte  parallelfragen,  deren 
nachdrücklich-  oder  Zudringlichkeit  zu  Ulrichs  ungestümem  werben 
sehr  gut  passt. 

Vier  derartige  fragen,  von  denen  die  dreiletzten,  anaphorisch 
mit  wd  beginnend,  unmittelbar  auf  einander  folgen,  als  klimax: 
58,22 — 27;  zugleich  als  Strophenübergang. 

Ebenfalls  ununterbrochen,  als  würkungsvoller  strophen- 
schluss: 

waz  bedarf  ich  scelden  mere? 

wie  kan  mir  gelingen  baz?     (421,  1). 

Durch  kurzen  zwischenvers  gegliedert,  um  Jibn  herum 
symmetrisch  zu  einer  Strophe  ausgedehnt: 

viii  Strophe  6:  126,  26—28.  30—32. 

An  entsprechenden  stellen  zweier  aufeinanderfolgender,  eine 
klimax  darstellender  Strophen  (nicht  in  genauer  responsion): 

—  ob  da  iht 
ougen  lihl 

lieplich  sehen  ein  ander  an?     (433,  12 f). 

—  ob  da  niht 

mer  geschiht?     (433,  30), 
beide  male  mit  unerwarteter,  schalkhaft  verhüllender  antwort. 

Dasselbe  Stilmittel,  nur  sehr  verstärkt,  bei  aufeinander 
folgenden  parallelfragen : 

Sol    ab    ich  si  minnen    diu  mich   hazzet?     sol   mir  lieben 
diu  mir  also  leide  tuot? 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  85 

Jedermann  halt  dies  für  rhetorische  fragen  mit  der  selbst- 
verständlichen stillschweigenden  antwort  :  nein  —  es  folgt  aber: 
jd,  so  teil  daz  herze  und  aller  min  gedanc     (399,  11,  xiv). 

Ulrich  nimmt  also  plötzlich  die  rhetorische  frage  als  echte, 
und  beantwortet  sie  mit  überraschender  paradoxie. 

Apostrophe. 

Die  haupterscheinung  in  Ulrichs  Stil,  sowol  ihrer  ausdehnung 
als  ihrer  charakteristischen  bedeutung  nach,  ist  die  anrede 
(apostrophe). 

Sie  ist  so  sehr  ein  integrierender  bestandteil  seiner  lyrik, 
dass  es  nicht  genügen  würde,  nur  einzelne  beispiele  mitzuteilen, 
die  entwicklung  —  denn  eine  solche  ist  vorhanden  —  muss 
vollständig  überschaut  werden. 

Menschen  und  dinge  redet  Ulrich  an,  auch  personiiicierte 
abstracta  :  den  tag  (n) ,  den  mai  (iv) ,  den  sommer  (xxxi) ,  den 
winter  (v);  die  männer  (xvn,  xxv,  xxvn),  die  frauen  (xi,  xiv,  xv, 
xvi,  xx,  xxv),  die  ritter  (xxxviu),  den  knappen  (xxxvm),  jung  und 
alt(xxxv);  frau  Minne  (vir,  ix),  den  'hohen  mut*  (in,  xxxn),  sorge 
und  angst  (xxxiv),  weibesgüte  (xlvii),  truren  (liii);  am  häufigsten 
aber  seine  dame  (i,  in,  v,  vi,  ix,  xm,  xi.i,  xi.n,  xlvi,  xlyiii)  und 
das  zuhörende  publicum  (vii,  ix,  xvm,  xxii,  xxxix,  xlv,  lii,  liv, 
lv,  lvi).  als  entwickelte  apostrophensvsteme  können  die  dialoge 
gelten;  in  x  reden  der  dichter  und  frau  Minne,  in  xxx  uud  xxxm 
herr  und  dame,  in  xxxvi  und  xl  ritter  und  dame,  zofe  und 
herrin ,  zofe  und  liebespaar  einander  an.  unter  diesen  adressen 
ist  kaum  eine  durch  irgendwelche  besonderheit  auffallend,  nur 
ihre  menge  erscheint  bemerkenswert,  sie  zeugt  von  lebhaftigkeit 
des  geistes  und  von  technischer  gewantheit.  sich  selbst  redet 
er  niemals  au,  so  oft  er  auch  von  sich  spricht. 

Hinsichtlich  ihrer  Verteilung  auf  die  entstehungszeiten  der 
lieder  ist  es  wol  nicht  zufällig,  dass  die  anreden  an  die  er- 
scheinuugen  der  natur  und  an  die  frau  Minne  dem  anfang  und 
rund  der  ersten  hälfte  des  gesamtwerkes,  die  an  die  männer  und 
frauen  der  kritischen  zeit  seiner  ersten  minne  und  den  wdnwisen, 
die  an  die  personificierten  höfischen  abstracta  wesentlich  der 
zweiten  hälfte  der  lyrischen  production  angehören,  während  die 
anreden  au  die  geliebte  und  an  das  publicum  durchgehends  an- 
zutreffen sind. 


86  BRECHT 

Da  sich  Ulrich  stets  als  meuschen  unter  menschen  fühlt, 
so  ist  der  trieb  zur  apostrophe  immer  bei  ihm  vorhanden,  unter 
umständen  bleibt  er  latent,  aber  doch  spürbar,  dies  ist  überall 
da  der  fall,  wo  er  sich  mit  bericht,  erlaubnis,  Vorschrift,  rat  an 
eine  bestimmte  adresse  wendet,  ohne  dass  die  innere  Spannung 
stark  genug  wäre,  um  sich  geradezu  in  der  rhetorischen  form 
der  apostrophe  zu  entladen,  zb.  im  beginn  des  zweiten  leichteiles 
(424,  12f. ,  parallel  mit  der  ausgesprochenen  apostrophe  an  die 
männer  im  ersten  teil,  423,  1): 

daz  wil  ich  gerne  wizzen  Idn 

mit  zühten,  als  ich  beste  kan, 

tif  gendde  guoliu  wip. 

in  der  ersten   Strophe  von  xl\i,  die  bestimmt,  wer  im  publicum 

das  lied  'Frauentanz'  siugen  dürfe  (536,  9  f,  bes.  12.  13): 

—  dem  sin  muol  sldt  von  iciben  ho, 
dem  erloube  ich  si  ze  singen  wol  — . 

das    ganze    xvi   lied    (i   iizreise),    mit    ausnähme    höchstens    der 

fünften    Strophe,   ist  von   einem    ritter   an  ritter  gerichtet;   dass 

sie   nicht   ausdrücklich  angeredet  werden  —  wie  im  beginn  der 

ii  üzreise,  xxxvm  —  ist  zufall;  vgl.  FD  405,  15.  16. 

Zu    anfaug    des    den    frauen    geltenden    liedes  u    heilst    es 

(str.  1,  560,  7f): 

Ich  wil  durch  die  vrowen  min 

guoten  wiben  rdlen  einen  rat  —     usw. 

entsprechend  xxvi  strophe  1  (426,  12  f.),  an  die  männer: 
Alle  die  in  hohem  muole  wellen  sin, 
den  wil  ich  daz  raten  bi  den  triuwen  min  —    usw. 
fälle    wie    diese    beiden    könnte    man    geradezu   als   verdeckte 
apostrophe  bezeichnen. 

Unvergleichlich  häufiger  kommt  es  zur  ausgesprochenen 
apostrophe.  diese  hat  verschiedenen  Ursprung  und  dient  den 
verschiedensten  zwecken. 

In  manchen  fällen  dient  sie  würklich  einer  echten  gemüts- 
bewegung,  die  sich  mit  der  objectiven  rede  in  der  dritten  person 
nicht  mehr  begnügen  zu  können  meint,  dahin  gehört  der  Über- 
gang aus  der  dritten  person  in  die  zweite  in  der  zweiten  hälfte 
des  i  liedes,  das  ganz  seiner  dame  gilt  {Diner  reine  trcest  ich 
mich  —  IS,  19  ff.),  oder  lied  xx,  das  erste  scheltlied,  in  dem 
echte  erregung  über  die  untreue  der  dame  in  erbitterte  klagen 
an   das   ganze   geschlecht   ausbricht  (411,  27);    die   eindringliche 


ULRICH  VON  LICUTENSTEIN  s; 

lehre    an    dieselbe    adresse,    mitten    in    der  rede  au>  der  3   perg, 

heraus  :  guoliu    wip,    geloubet    daz  —  (41 S,  5.    xxu);    der    sehr 

begreifliche,  wenn  auch  über  die  nalur  hinaus  künstlich  gesteigerte 

freudenausbruch   im  ersten  liede  der  zweiten  minne  (xxxn): 

Höher  muut,  nu  wis  empfangen 
in  min  herze  tusenl  stunt. 

weit    überwiegen   jedoch    die  lalle,    in  denen  apostrophe  nur  als 

litterarisch    überkommene    Stilverzierung    angewant    wird,      nicht 

mehr    als    dies    bedeuten    zb.    die    anreden    am    Strophenanfang 

Guotiu  wip  xiv,  Strophe  5  (mutmafslicher  grund  siehe  oben  s.  7), 

Höchgemuote  frowen  xvi,   strophe  5,    oder   am   strophenschluss: 

wol  dir  tac,  vil  scelic  si  din  nam  (30,  21). 

Am  meisten  liebt  Ulrich  apostrophe  als  gedieh  tan  fang 

(meist  durch  die  erste  strophe  durchgeführt),    dies  ist  eine-  seiner 

charakteristischsten  eigentümlichkeiten.   26  lieder  von  5S,  also  fast 

die  hälfte,  beginnt  er  mit  apostrophe,  desgl.  seine  drei  büchlein. 

Apostrophe  nur  am  aufaug:  Freut  iueh,  minnegernde 
man  (xvn).  Wol  her,  danket  allen  guoten  wiben  —  —  des  freut 
iueh,  ir  freuden  geraden  man  (xxu,  str.  1  v.  1  u.  5).  Nu  freut 
iueh,  minnegernde  man  (xxvu,  vgl.  xvn;  nebenbei  wideniufgenonunen 
in  str.  4,  vers  428,  23).  Wol  dir,  sumer  —  (xxxi).  Wichet  umbe 
balde,  sorge  und  angest  —  (xxxiv).  Warnet  iueh  gar,  junge  und 
aide  (xxw,  apostr.  durch  zwei  str.).  dreifache  anfangsapostrophe  an 
die  Minne,  die  geliebte,  die  frauen  in  strophe  l  und  2  von  xi.  Nu 
hilf  ic/bes  güete  (xlvii)  ;  das  Stichwort  wibes  güete  wird  im  siebenten 
vers,  gegen  ende  der  ersten  strophe,  widerholt;  so  grenzt  Ulrich  die 
eingangsslrophe  mit  apostrophe  ab  (ähnlich  z.  b.  in  v,  104,  20).  vliueh, 
vliueh,   truren,  von  uns  verre  (lui). 

Apostrophe  ausdrücklich  nur  am  an  fang,  aber  für 
das  ganze  lied  gellend:  Wol  her  alle,  helfet  singen  (lh). 
Wichet  umbe,  lät  der  guoten  nigen  mich  —  (lv0-  wideraufnahme 
der  apostrophe  in  der  mittelsten  strophe  (572,  1.  2  nach  571,  7  f)  : 
Wizzel  alle,  daz  ich  kan  guoten  wiben  in  diu  herzen  sehen  (liv). 

Apostrophe  nur  amschluss  ist  selten,  sie  erfüllt  die 
ganze  schlussstrophe  des  berühmten  iv  liedes  :  Scelic  meie,  du  alleine 
troeslesl  al  die  weide  gar  — .  analog,  zu  ähnlicher  wilrkung,  die 
schlussstrophe  von  lied  vi  :  Jd  man  ich  vil  sere,  vrowe,  dine  güete  — 
— ;  der  letzte  vers  bringt  noch  einmal  die  kurze  apostrophische  pointe: 
guol  wip,  wende  daz  (111,  12).  zur  einführuug  eines  bildes  am  aufang 
der  schlussstrophe  :  Schouwet  wie  der  hüsen  an  der  Tuonouw  gründe 
lebt  des  tröres  süeze  gar  (lv). 

Apostrophe  am  an  fang  und  am  schluss,  die  ent- 
wickeltere form,  zeigen  mehrere  lieder.    sie  kann  an  beiden  stellen 


BRECHT 

derselben,  sie  kann  verschiedenen  personen  gelten,  das  in.  lied  : 
Vrowe,  liebiu  vroive  min  (57,  25)  —  —  Frowe  (58,  2)  —  geht 
in  der  zweiten  Strophe  recht  unnatürlich  in  die  3  pers.  der  herrin 
über,  kehrt  aber  in  den  zwei  letzten  versen  zur  anrede  :  frowe  —  zu- 
rück, gegen  ende  eine  Zwischenapostrophe  :  Höher  muot  —  (58,  30); 
die  handhahung  der  figur  ist  noch  unsicher. 

Am  schluss  des  zweistrophigen  einleitungsteiles  von  v  (siehe  unter 
'responsion')  abgrenzende  apostrophe  an  den  Winder  nebst  lob  der 
sumerivunne  (104,  20  f);  sumer  und  winder  waren  die  stichworte 
des  ersten  teiles.  am  beginn  des  liedschlusses  zweimalige  eindringliche 
anrede  an  die  geliebte  (105,  5  f.  8f). 

Am  liedanfang  apostrophe  an  das  publicum,  am  schluss  ebenfalls 
zweimalige  anrede  an  die  vrowe,  und  zwar  wiilerum  bereits  in  der 
mitte  der  vorletzten  Strophe,  zeigt  das  zwei  jähre  nach  v  entstandene 
ix  lied  (vgl.  den  parallelen  einzelausdruck  131,  17  und  105,  5, 
131,  22  und   105,  8). 

xxxviu  richtet  sich  am  aufang  an  die  ritter  :  Erengernde  riller, 
1dl  iuch  schouwen  —  (456,  25),  zu  beginn  und  ende  des  Schlusses 
zweimal  an  den  knappen  :  Tuo  her  schilt  —  (457,  27),  nu  tuo  her 
sperd  sper!     (458,  4.  5). 

Mehr  oder  minder  durch gehnde  apostrophe,  wo- 
möglich an  dieselbe  person  gerichtet,  ist  natürlich  das  ziel  der 
entwicklung,  entsprechend  einem  tief  in  Ulrichs  natur  gegründeten 
wesenszuge.  diese  Verwendung  der  figur  ist  daher  die  häufigste 
bei  ihm,  und  die  am  bevvustesten  und  kunstreichsten  ausgebildete. 

So  wenden  sich  alle  fünf  Strophen  des  xni  liedes  mit  ausge- 
sprochener, zt.  respondierender  (slr.  2,  3)  apostrophe  an  seine  vrowe. 
häufig  widerholte  dringende  anrede  der  dame  lag  nahe  in  dem  erregten 
xli  liede,  dem  ausdruck  seiner  Sehnsucht,  in  ihr  herz  zu  kommen  : 
Guot  wip,  miner  fr  enden  lere  (anfang,  desgleichen  apostrophe  in  jeder 
Strophe;  besonders  lebhaft  in  der  dritten,  vierten  und  sechsten;  ge- 
häufte imperative  am  Strophen-  und  versanfang  515,  24 — 26).  ähn- 
lich XLviii  :  anrede  an  die  herrin  durch  das  ganze  lied,  stark  betont 
zu  anfang  mit  dreifacher  apostrophe  :  Vrowe,  miner  freuden  vrowe, 
vrowe  min  usw.,  der  am  anfang  der  zweiten  Strophe  noch  einmal 
Wiplich  wip  folgt. 

Allen  guten  frauen  gilt  das  xv  (402,  18,  anfang,  403,  7.  13) 
und  das  lange  xx  lied  (411,  27  f,  anfang,  412,  4.  25.  413,  1).  den 
höhen  muot  begrüfst  das  xxxn  im  beginn  aller  Strophen  (responsion), 
zu   des  dichters  eigner  befricdigung  (FD   442,  8). 

Hierher  gehören  auch  die  anreden  an  das  publicum, 
obwol  sie  niemals  ein  gauzes  gedieht  durchziehen,  vielmehr  stets 
nur  vereinzelt,  manchmal  sogar  nur  wie  gelegentlich,  vorkommen, 
aber    gerade    die   nebensächlichkeit,    in    der   sie   nicht   selten  er- 


l'LHICll  VON   LICHTENSTEIN 

scheinen,  lässl  erkennen,  wie  sehr  das  ganze  lied  apostrophisch 
gedacht  ist;  das  isl  so  selbstverständlich,  dass  es  nur  beiher  an« 

gedeutet  wird.  so  das  beidiu  wir  sint  diu  mare,  ir  hcBret  m 
etc.  (114,  1—8),  unmittelbar  vor  der  grofeen  schlussstrophen- 
apostropbe  an  vruwe  minne  (vu).  ebenso  verräterisch  isl  das 
unscheinbare  seht,  das  dun  mitten  in  dem  liebesdialektischeo 
prachtgedicbt  xvin  entschlüpft  (408,  6)  :  wir  seilen  jetzt,  es  i-t 
eine  Vorführung  vor  geladenem  publicum,  charakteristisch  in 
dieser  hinsieht  ist  ferner  das  ein  wenig  mehr  rhetorische :  daz 
teil  ich  iueh  wizzen  län  508,  23  (xxxix),  das  man  kaum  als 
gegensatz  zu  dem  vielen  wir  und  uns  des  liedes  empfindet,  weil 
Ulrich  sich  seihst  mit  dem  publicum  ins  wir  so  gänzlich  ein- 
bezieht, dass  man  die  bei  ihm  so  häufigen  wir  und  uns  beinahe 
auch  als  apostrophen  auffassen  könnte,  ja,  er  ist  so  dramatisch- 
lebendig, dass  dem  leser  die  vielen  Wol  mich  und  dergl.  fast 
wie  selbstanreden  vorkommen.  —  ähnlich  zei^t  das  ganz  ge- 
legentliche Schouwet,  wie  diu  pie  ir  süeze  etc.  (534,  3),  dass  xi.v 
durchgehends  auf  zuhOrer  berechnet  war.  auch  im  lii  liede  hat 
man  es  mit  beständiger  anrede  ans  publicum  zu  tun,  obwol  die 
feierliche  allocutio  nur  die  erste  Strophe  formiert;  ebenso  im 
Hl,  in  dem  aufser  dem  anlang  nur  das  Gerne  ich  von  dem  seihen 
spräche  (581,  23 1   verrät,  dass  es  sich   um  einen  Vortrag   handelt. 

Zwei  lieder  endlich  lassen  erkennen,  wie  auch  die  apostrophe, 
gleich  der  anapher  und  andern  figuren,  von  Ulrich  herangezogen 
wird,  um  die   gliederung  der  gedieh  te  zu  unterstützen. 

Das  lied  xlh  (typ us  B)  beginnt  mit  der  apostrophe  Vrowe 
min,  got  gebe  dir  guoten  morgen,  die  anrede  geht  durch  das 
ganze  lied.  die  specielle  apostrophe  aber  erscheint  wider  im 
vorletzten  verse  der  zweiten  Strophe  (anfaugsanapher): 

vrowe,  mines  herzen  hüneginne, 
dh.  am  schluss  der  einleituug  und  der  eng  zu  ihr  gehörigen 
zweiten  Strophe,  in  der  der  gedanke  des  liedes  zuerst,  und  in 
einfachster  form,  angekündigt  wird,  die  folgende  zweite  stufe 
der  gedichtklimax ,  Strophe  3  und  4,  die  mit  dem  bisherigen 
gedauken  spielen,  wirdwiderum  durch  grofse  apostrophe  eingeleitet: 

Liebiu  vrowe,  liebest  aller  wibe, 
der  in  der  gleichstehenden  vierten  Strophe  nur  ein  kurzes  vrowe 
am  ende  des  ersten  verses  zu  entsprechen  braucht,    die  schluss- 
strophe   aber    beginnt    wider  mit  Guot  wip  und  schliefst  im  vor- 


90  BRECHT 

letzten  verse  (abgesehen  vom  envoi)  mit  vrouwe.  —  so  markiert 
apostrophe  die  gedichteinschnilte. 

Ähnlich  steht  es  mit  xlvi  (typus  C  2  +  3).  der  sentenziöse 
allgemeine  teil  (str.  1 — 2)  ist  apostrophenlos  bis  auf  die  letzten 
worte : 

höchgemuot  durch  dich,  guol  vrowe  min. 

von  hier  an  herscht  anrede  an  die  vrowe  durch  deu  ganzen 
speciellen  teil  (str.  3 — 5).  innerhalb  seiner  ist  die  seelen-  und 
körperschilderung  (str.  3 — 4)  nochmals  nach  dem  Schlüsse  hin 
abgegrenzt,  und  zwar  widerum  durch  apostrophe  am  ende  des 
letzten  Strophenverses: 

lugende  hdslu  vü,  guot  wiplich  wip. 

dann  erst  folgt  die  ausdrücklich  hieran  anknüpfende  schluss- 
strophe.  die  composition  wird  durch  apostrophen  gewant  ver- 
deutlicht, und  mit  vortrefflicher  würkung.  — 

Von  den  58  liedern  Ulrichs  sind  nur  17,  also  weniger  als 
ein  drittel,  ganz  ohne  apostrophe;  und  bei  allen  kann  mau 
sagen,  warum  es  in  ihnen  nicht  zur  apostrophe  gekommen  ist. 
es  sind  nämlich,  mit  nur  drei  ausnahmen,  sämtlich  auffallend 
ruhige  lieder  gröfserer  austlehuung,  die  einen  gedanken  ohne 
leidenschaft  ausführen,  oder  minnedidaktische  überleguogeu  an- 
stellen; mit  einem  worte  :  persönlich  gefärbte  reflexionspoesie. 
der  unterschied  ist  so  handgreiflich,  dass  man  Ulrichs  gesamte 
lyrik  danach  einteilen  konnte,  diese  lieder  führen  mit  kokettem 
ausmalen  einen  einfall  durch  (vra,  lviii),  erwägen  eine  paradoxe 
(xix),  predigen  erfahrungssatte  minnelehre  (xxm,  xxvi,  xxvm, 
xlix,  li),  preisen  in  ausführlichem  panegyrikus  das  lachen  oder 
einen  ausspruch  der  geliebten  (xliii,  xliv),  drücken  sicheres 
glücksgefühl  (l)  oder  gehaltene  trauer  und  hoffnung  aus  (xxiv); 
sie  geben  ein  freudenreiches  Selbstgespräch  wider  (xxxvn),  und 
sie  erzählen  redselig  einen  glückstraum  (lvii).  von  den  drei 
lebhaften  liedern  aber  schliefst  sich  xn  eng  an  das  m  büchlein 
an,  das  mit  absichtlicher  bescheidenheit  von  der  geliebten  nur 
in  der  3  pers.  zu  sprechen  wagt;  xxi,  das  zweite  scheltlied,  ver- 
schmäht es,  wie  alle  scheltlieder,  sich  an  die  treulose  dame  selbst 
zu  richten;  xxix,  der  reie,  stellt  ganz  objectiv,  ohne  jede  persön- 
liche beziehung  auf  den  dichter,  jauchzende  liebeslust  dar  :  zur 
anrede  bieten  sie  alle  keiue  gelegenheit. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  9] 

Person  ificatio  n. 
Die   apostrophe   setzt   eine  person  oder  ein  für  den  augen- 
blicklichen zweck  personificiertes  abstractum  voraus.    ;ils  momentan 

peraonißciert  erschienen   durch   sie  :  der  tag  m),   der  höhe  muot 

(ii,  xwiii,  der  meie  (i\),  der  winder  (v),  frowe  minne  (vu,  x,  m; 
vgl.  Roethe  s.  265),  der  sumer  (xxxi),  sorge  und  äugest  (uxiv), 
icibes  güete  (xlvii),  das  traten  (liii). 

Alier  auch  aufserhalb  der  anrede  kommt  es  bei  Ulrich  zur 
personificierung.     solche  ecbten  personificationen  sind: 

Minne  hei  mich  ir  gebunden  —     (420,  1). 

Zuo  uns  kam  diu   werde  Minne 

unde  slöt   uns  beide  vaste  in  ein  —     (582,  25). 

swa:   diu   Minne   mir  mit   dringen  tuot   —      (5S4,  5). 

—  der  Minnen   rose     (581,  1 7  f). 

Iied  xli  str.  3 — 7  :  zwei  männer  klopfen  ans  herzeustor: 
bi  mir  hie  ist  höher  muot, 
der  auch  gerne  dienet   dir: 
erst   dir  holt  mit  tri  wen ,    da:    geloube   mir      (515,  2711). 

ähnlich   565,  27    Hoher  muot,    diu  rehler  herre,    dei 

Limit   mit  gewalde   (liii,   str.   1 — 2). 

zweifeln   kann   man  aus  formalen  gründen  bei  xxxvi,  str.  4  (448,  13llj: 
Ir   vil   liiter   liebe  sh'tz   diu   minne 
mit  der  iriw  e   vaste  ze  einem  sinne, 
innerhalp   ir  herzen    lür  : 
dd  rigelt  sich   diu  State  für. 

In    mimt  e  n  parad/sr 
ir  beider  lip   mit   vreuden  lac  — . 

noch  mehr  im  xvi  liede  (i   üzreise) : 

Erge   und   unfuoge  und  unfuore  diu   wilde 

geziml   niht  dem  helme  —     (404,  18 f), 
und   kurz  vorher  : 

—  diu  «7  werde  minne. 

diu  git  freud  und  vre     (404,  7). 

im  letzten  falle  könnte  die  analogie  diu  werde  Minne  (582,  25,  s.o.) 
zur  annähme  der  personificalion  (die  Bartsch  setzt)  führen ;  dies  ist 
jedoch  durchaus  nicht  notwendig;  und  die  kurz  darauf  folgenden  Erge 
und  unfuoge  und  unfuore  diu  wilde  halt  ich  mit  Bechstein  und  Lach- 
mann bestimmt  für  keine  personificationen.  sodsI  müste  man  auch 
404,  12  schänden  (statt  schand)  erwarten  (vgl.  Benecke  zum  [wein 
v.  1579,  und  Bechstein  z.  st.). 

Das  gebiet,  aus  dem  die  wenigen  personificationen  genommen 
siud,  ist  das  ganz  obligate,  ritterlich- minnigliche;  auch  die 
persoDiticierende  apostrophe  von   xxxiv: 


92  BRECHT 

Wichet  umbe  balde,    sorge  und  angest,  von  der  slrdze  — 
strichet  von  dein   lande,  sam  der  winder,  von  uns  hin: 

ist  wol  nicht  auf  die  Vorstellung  fahrenden  volkes  (dringet  an 
der  lür  445,  1),  sondern  auf  ungebetenen  ritterlichen  besuch 
auf  der  bürg  zu  beziehen. 

Personilication  ist  Ulrichs  starke  seite  nicht,  an  Walthers 
anschaulichkeit  *,  an  die  fülle  und  kraft  Reinmars  von  Zweier2, 
die  Originalität  und  den  reichlum  Wolframs3  darf  man  nicht  denken. 

Bilder. 
Auf    der    vermenschlichung     der    natur    beruht,    wie     die 
personification,  die  bildliche  redeweise,  das  dement  der  poesie4. 
Den   Übergang  von  der  personilication  zum  bilde  zeigt  noch 
ein  ausdruck  wie  des  herzen  ougen  (5S2,  17),  den  Bock  (aao.  s.  35 
nebst  aum.)   in   der   geistlichen  bildersprache,   bei  Otfrid,   dann 
im    miunesange,    bei   Wolfram    und   Walther    nachweist,      diese 
personilication    des    herzeus,     die    bei    Lichtensteiu    eine    grofse 
rolle  spielt,  führt  dann  zu  so  entsprechenden  metaphern  wie  der 
schon  von  Uhland  (Schriften  v  236)  gerühmten: 
duz  herze  sihl  mich  weinent  an, 
und  giht  ez  si  vil  ungesunt  —     (131,  10). 

aus  der  geistlichen  Sphäre  stammt  wol  auch  die  Triwe  —  slöz 
ob  aller  werdikeü  (419,4),  und  die  State  als  kam  flieh  gewate 
(405,  12),  von  der  Vorstellung  des  miles  christianus. 

Die  bilder  Ulrichs  hat  Knorr  (Zu  UvL.  cap.  in)  gesammelt 
und  besprochen,  und  zwar  nicht  nur  die  der  lieder,  sondern 
auch  die  des  märes;  darauf  sei  hier  verwiesen.  Knorr  stellt,  in 
Übereinstimmung  mit  meinen  ergebnissen  bei  der  personification, 
fest,  dass  riltertum  und  minne  die  einzigen  gebiete  sind,  die 
Ulrichs  bildsinn  anregen;  dass  seine  bilder  einfach  und  ungelehrt 
sind  (das  einzige  bild ,  bei  dem  er  s.  76  zweifelt  :  Schouwet  wie 
der  husen  an  der  Tuonouw  gründe  lebt  des  tröres  süeze  gar,  also 

1  vgl.  zb.  Wilmanns  Leben  s.  197. 

2  Roethe  s.  271. 

3  Bock  Bilder  und  Wörter  Wolframs,  abschn.  i,  §§  1 — 2. 

4  auch  Knorr  (aao.  s.  72 ff)  hat  noch  die  alte  mechanische  auffassung 
von  der  bildlichen  rede,  als  ob  es  etwas  sei,  das  der  wirkliche  dichter  tun 
oder  lassen  könnte;  er  spricht  von  den  gründen,  weshalb  jener  'einen  ver- 
gleich nimmt',  vom  'bildlichen  schmucke',  mit  dem  er  'die  dinge  umkleide' 
udglm.  gegenüber  solchen  schulmeisterten  beherzige  man  den  protest 
Hugo  vHofmannsthals  in  den  Blättern  f.  d.  kunst  (auswahl,  Berlin  1899,  s.  91). 


ULRICH  VOiN  LICHTENSTEIN 

lebt  ich  uol  des  htftes  von  ir  munde  (T>77,  15)  enthält  gewig 
kein  gelehrtes  element,  Bondetn  mir  allgemeine  anschauung); 
dass  seine  metaphern  'selbstschöpferischer  Willkür*  entbehren. 

Erstaunlich  ist  in  der  tat  die  'verritterung'  der  weit,  <l ie 
auch  aus  Ulrichs  bildern  Bpricht;  allein  fast  ebenso  grofs  dabei 
sein  mangel  an  ursprünglichkeit,  gegenüber  der  beliebten  art, 
einzelne  originelle  bilder  Dlrichs  (zb.  bei  Uliland  aao.)  wie  andrer 
mini,  dichter  auszuheben,  muss  betont  werden,  dass  er  Originalität 
gewöhnlich  nur  auf  dem  wege  der  geschmacklosigkeil  erreicht, 
bezeichnenderweise  aber  mehr  im  märe,  wo  er  manchmal  an 
den  rücksichtslosen  Wolfram  (Scherer,  Litteraturgesch.3  s.  172) 
erinnert,  als  in  den  liedern;  hier  band  eine  festere  Bliltradition 
seine  in  geschmacksdingen  nicht* immer  sichere  phantasie.  bilder, 
die  ihm  ausgiebige  molive  liefern,  liebt  er  freilieb  auch  in  den 
liedern  zu  tode  zu  hetzen  (zb.  vm,  xi.i,  liv). 

Neben  so  überzeugenden  vergleichen,  wie  dem  viel  angeführten 
vom  an  fang  des  iv  liedes: 

In  dem  walde  süeze  dame 
singent  cleiniu  vogelin, 
neben  so  starken  bildern,  wie  am  schluss  von  vn: 

Ali  grif  her,  wie  sdre  ich   brinne. 
haller  i 

Müesle  von  der  hilze  brinnen, 
diu  mir  an  dem  herzen  l/t  — 

stehn  so  trockene  wie  das  bild  vom  spiel  408,  33;  so  un- 
anschauliche wie  Küsseii  ist  der  minnen  rose  usw.  (581,  17  f.); 
so  schiefe  wie  das  bild  von  der  biene  534,  3  f.,  bei  dem  im 
tertium  comparationis  zwei  contradictorische  gegensätze,  trüren 
und  süeze,  stecken;  so  geschmacklos  deutliche  wie  alle  die 
bilder  vom  herzen,  das  aus  dem  leibe  zur  geliebten  springen 
will  (xlii,  lv,  lvii;  s.  cap.  ii  schluss).  hier  sehen  wir  wider 
eine  grenze,  die  den  alternden  Lichtenstein  vom  jungen  scheidet: 
die  Vorstufe  zu  diesen  letzten  bildern  :  das  herz  stöfst  mit  un- 
gestümem klopfen  an  die  brüst,  vor  der  liebe,  die  in  ihm  pocht 
(xxxn;  1233),  ist  für  die  anschauung  noch  nicht  verletzend, 
die  bilder  seiner  Jugend  sind  durchweg  besser,  wenn  auch 
weniger  originell,  als  die  seiner  spätzeit.  Uhlands  gesamturteil  : 
'niemals  ist  er  gezwungen  oder  geschmacklos'  ist  jedesfalls  viel 
zu  günstig. 


94  BRECHT 

Weitaus  die  meisten  seiner  bilder  sind  litterarisch  über- 
lieferte, im  minnesang  übliche,  neu  sind  wol  nur  der  wegen 
seiner  zarten  Schönheit  so  berühmt  gewordene  vergleich: 

—  —  ir  güele, 
diu  mir  richet  min  gemüele, 
sam  der  troum  den  armen  luot     (97,  14  f), 

der  erwähnte  husen  auf  der  Tuonouw  gründe,   und  allenfalls  der 
vielleicht  heimatlicher  anschauung  entsprungene  vergleich: 
Nu  vert  enwer  ir  habedanc 

—  als  ein  mar  der,  den  man  hat 
in  eine  lin  gebunden     (424,  25). 

der  einzige  vergleich,  der  unzweifelhaft  den  gebirgsmenschen,  den 

Steirer  verrät,  steht  nicht  in  den  liedern,  sondern  im  märe: 

—  daz  sd  uf  sligel  mir  der  muol, 
reht  als  diu  Hellte  sunne  tuot, 

so  si  uf  den  bergen  gdl     (519,  26). 

Den  epigonen  merkt  man  an  den  vielen  bildern,  die,  ur- 
sprünglich schlagkräftig  oder  gar  'sonderbar',  jetzt  gar  nicht 
mehr  als  bilder  empfunden  werden,  hierhin  gehören  viele,  die 
Knorr  (s.  90.  91.  96.  98)  noch  als  bewuste  metaphern  rechnet, 
so  wird  küneginne  zwar  noch  als  ein  vergleichsweise  starkes 
wort  empfunden  (doch  nicht  mehr  so  stark,  dass  es  nicht  noch 
ein  synonymes  epitheton  brauchte),  sonst  würde  es  nicht  den 
pointierten  schluss  von  xliv  bilden: 

sist  gewallic  küneginne  immer  über  mich; 
ebenso    wie    keiserin,    das    gegen    schluss   von   xi    (322,  26)   an 
höchster  stelle   einer   anaphorischen ,    asyndetischen   synonymen- 
klimax  steht: 

min  tröst,  min  wünne,  miner  scelden  keiserin  — , 
aber  gewis  nicht  mehr  als  bild.    518,  13  heifst  es  ganz  phrasenhaft: 

vrowe,  mines  herzen  küneginne  — . 
noch  abgegriffener  sind  kröne  und  lercenen  (zb.  521,  21;  Tgl. 
die  stellen  bei  Knorr  s.  90).  dass  tou  eigentlich  eine  metapher 
für  'tränen'  war,  ist  vergessen ;  Ulrich  braucht  das  wort  ständig 
als  poetischeres  synonym  :  als  ir  ougen  touwes  vol  werdent  üz  ir 
reines  herzen  grünt  (521,  22);  noch  deutlicher: 

vreuden  tou  mir  iaz  des  herzen  grünt 

kuml  von  dir  in  elliu  miniu  lil     (536,  23). 

hier  ist  das  gesamtbild  deshalb  für  unser  gefühl  so  verunglückt, 
weil   das   vom    dichter   nicht   mehr  empfundene  bild  vom  tou  in 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 

ein  neues  bild,  das  vom  herzen  in  die  glieder  Bteigende  kraft- 
behagen, einbezogen  werden  sollte.  Lichtenslein  freilich  wird 
vreuden    tou    einfach    als    vreude    gefohlt    und    darum    die   bild- 

\ermenguug  garniclit  bemerkt  haben. 


Dies  sind  die  wesentlichen  formen  des  poetischen  ausdrucke 
in  Ulrichs  liedern.  erwagt  mau  die  nicht  übergroße  zahl  seiner 
gedichte,  so  wird  man  linden,  dass  die  anzahl  der  redeflguren 
in  ihnen,  der  arten  ihres  gehrauches,  ferner  die  geschmeidigkeil, 
mit  der  sie  sich  dem  wechselnden  gedanken  der  jeweilig  ver- 
schiedenen composilion  anschmiegen,  respectabel  gtmug  isl. 
dank  ihnen  isl  die  uüance  nicht  der  letzte  vorzug  seiner  lyrik. 

Das  wird  erreicht,  ohwol  Ulrich  die  bemerkenswerte  neigung 
zeigt,  ein  kunstmittel,  wenn  er  es  einmal  verwant  hat,  in 
demselben  gedieht  gleich  noch  ein  oder  mehrere  male  anzubringen, 
daher  zb.  im  xvi  liede  die  vielen  Synonyma,  der  grund  ligt 
hier  im  Strophen-  und  reimschema ,  wie  man  überhaupt  bei 
Ulrich  noch  auffallend  gut  sehen  kann,  wie  der  reim  zunächst 
den  verwanten  begriff  hervorlockt1. 

Nicht  minder  charakteristisch  als  die  vorhandenen  redeformen 
sind  für  einen  dichter  die  fehlenden,  bei  Ulrich  sucht  man 
vergebens  alle  stilmittel  gewollter  oder  ungewollter  incorreclheit: 
anakoluth,  aposiopese,  formlose  polysyndeta.  für  indirecte  rede 
ist  er  zu  lebhaft,  für  die  revocatio  zu  unbekümmert2,  hyperbeln 
(eine  ganz  obligate  447,  19)  würden  sicher  mehr  hervortreten, 
wäre  der  höfisch-lyrische  stil  ihnen  überhaupt  günstiger;  sie 
gehören  mehr  in  die  spruchdichtung  und  ins  volksepos.  am 
markantesten  bezeichnet  den  sentimentalen  pathetiker  der  gänz- 
liche mangel  an  ironie  und  humor. 

Weitere  ergebnisse  verspar  ich  bis  zur  endgiltigen 
Charakteristik. 

1  andere  fülle  auffälliger  widerholung  de9  Btilmittels  :  in  xvm  die 
recapitulation  mit  dem  demonstrativpronomen,  mit  dem  die  vielen  relaliv- 
pronomina  und  die  conjunetion  daz  effectvoll  zusammenklingen,  in  xxxvn 
die  affirmation  und  negation  und  die  anrufung  Gottes  in  jeder  der  beiden 
ersten  Strophen,  das  spielen  mit  verschiedenen  ableitungcn  gleichen  Stammes 
in  XXXU. 

2  einziges  beispiel  401,  9 f.  beliebte  form  der  revocatio  (neind,  frowe) 
ohne  ihren  sinn  397,  10. 


96  BRECHT 


VIERTES    CAP1TEL. 

ULRICHS    LITTERARGESCHICHTLICHE  STELLUNG 
UND  SEIN  DICHTERISCHER  CHARAKTER. 

Bevor  die  gewonnenen  ergebnisse  zu  einer  Charakteristik 
des  dichters  zusammengefasst  werden,  erscheint  es  vorteilhaft, 
ihn  zur  vorläufigen  Orientierung  mit  den  hauptsächlichen  seiner 
dichtenden  Zeitgenossen  kurz  zu  vergleichen. 

Einzelne  stellen  in  Ulrichs  liedern  und  im  FD  überhaupt 
sind  oft  mit  stellen  anderer  dichter  parallelisiert  worden.  Erich 
Schmidt  hat  Ulrich  mit  Reinmar  dem  Alten  und  Walther  ver- 
glichen, daneben  einige  parallelen  mit  Morungen,  Hausen,  Rugge 
angemerkt  (Reinmar  von  Hagenau  und  Heinrich  von  Rugge 
s.  116 ff.),  Knorr  seine  bekanntschaft  mit  lyrikern  und  besonders 
mit  epikern  und  didaktikern,  wie  den  Verfassern  des  König  Tirol 
und  des  Winsbeken,  mit  Walther,  Spervogel,  Thomasin,  Eilhart1, 
Wolfram,  Hartmann,  Ulrich  von  Zatzikhoven  festzustellen  gesucht 
(s.  21 — 48).  Wilmanns  hat  Ulrichs  lieder  häufig  zur  erklärung 
Walthers  herangezogen,  sowol  in  seinem  'Leben  Walthers'  als  in 
seiner  ausgäbe,  Roethe  gegenseitige  anspielungen  bei  Ulrich  und 
Reinmar  von  Zweter  (s.  112.  168.  217.  231.  579.  583),  Burdach 
nachahmung  Reinmars  des  Alten  durch  Ulrich  (Reinmar  d.  A.  und 
Walther  v.  d.  Vogelweide  s.  74)  constatiert. 

Blofse  parallelstellen  —  und  manches  angeführte  namentlich 
bei  Knorr  ist  nicht  mehr  —  liefsen  sich  beliebig  häufen,  aber 
wenn  es  nicht  besonders  viele  und  ähnliche  sind,  die  den  dichter 
einem  andern  nähern,  was  würden  sie,  bei  der  bekannten  natur 
des  minnesingerlichen  motivschatzes,  besagen?2 

1  mit  recht  stellt  Knorr  (s.  28 — 32)  fest,  dass  die  art,  wie  U.  Tristramen 
und  Ysalde  394,  27  nennt,  auf  bekanntschaft  mit  der  Eilhartschen  fassung 
der  sage  schliefsen  lässt.  —  394,  27  hat  JY1  Tristramen  (so  Lachmann), 
AC*  iristranden,  G  tristanden,  465,  24  haben  alle  hss.  Tristram;  an  beiden 
stellen  im  innern  des  verses.  488,  2.  20;  489,  27  bieten  alle  hss.  Tristram 
in  unreinen  reimen  (:  Gdwdn,  :  län,  :  gewan),  503,1  aber  Tristran :  man. 
da  unreine  reime  jedoch  im  FD  ganz  gewöhnlich  sind,  glaub  ich  503,  1  an 
reimbesserung  nur  durch  den  Schreiber,  und  halte  488,  2.  20  und  489,  27 
an  Tristram  fest,  da  endlich  die  Gottfriedische  namensform  Tristan  nur 
in  jener  vereinzelten  la.  von  C  vorkommt,  halt  ich  eine  bekanntschaft  U.s 
mit  dem  gedichte  Gottfrieds  nur  aus  den  namensformen  nicht  für  erweislich. 

5  vgl.  Rurdach  s.  54. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN                       97 

Man  vergleiche  zb: 

Utiniicli  von  ftforungen  Ulrich  von  Lichtenstein 

MFr.  130, l.  Ml  FD  412,  Uli 

Sin  hiez  mir  nie  widersagen,  — da*  «  mich  höhet  mmtet  äne 

-  —  —   —    —  —   —  —  widersagen  beheri 


trau  »i  wil  ie  uodi  —    —    —    —   —   —  —  — 

eliiit  lant  beheren  als  ein  roubwrin.     Si  rouberinne  usw. 

ich  gl.mbe  nicht,  dass  ans  diesem  zusammentreffen  topisch  ge- 
wordener Wendungen  irgend  welcher  einlluss  .Morungens  auf 
Ulrich  zu  erschließen  ist.  am  eude  einer  lyrischen  hlilteperiode 
ligt  dergleichen  in  der  lull. 

Ich  unterlasse  daher  die  mitteilung  weilerer  parallelstelleu 
und  suche  nur  das  Verhältnis  L.s  zu  seinen  unbezweifellen  haupl- 
meisteru,  Heinmar  dem  Allen  und  Walther,  klarer  zu  macheu. 

An  folgenden  stellen  hat  ESchmidt  einlluss  Reinmars  auf 
Ulrich  festgestellt: 

Reinmar:  19S,  351  =  Lichtenstein  113,  13  f,   428,  2f 
15S,  31     =  54,22 

17«),  15  f  =  56,  15  1 

17<i.21     =  56,23 

i    61,  20 
199,  20fT  =^  J  121,  30 

l<»57,  4 
176,  5      =  383,  15 

176,  11     =  105,  10 

159.  37     =  387.  15 

179,  16    =  55,  10 

179,  181T  =  55,  15 

178,  2S    =  3S7,  12 

162,  34     =  105,  1  f 

178.1       =  47,  171  ,b;.chle> 

ditecte 


178,  14    =  50 


",  171" 
.2  /ö 


bernalmi> 


Wechselredeu  zwischen  d.  mannl         136,20;    136,27;   324,7;   350,8; 
oder  der  frau  und  dem  boten  j  357,  18.  20   U.  a. 

169,11     —  555,21 

155,5      =  30,8 

Knorr  (s.  44)  hat  hinzugefügt: 

194,  22    =  281,  21 

199,  8      =  432,  2 11 

199,  11     —  429,  21 

164,  1  fvgl.  177,  21)  =  227,  21  {  ^gj^1«  ' 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVI).  7 


98  BRECHT 

Meiner  naehprüfung  haben  sich  folgende  ähnlichkeiten  im 
einzelnen  ergeben. 

Das  schwanken  Reinmars,  ob  er  seine  dame  verlassen  solle, 
nebst  der  folgenden  selbstbeglückwünschung  zu  seinem  ausharren 
159,  19  ff  erinnert  im  gedankengang  an  die  gleichen  reflexionen 
Ulrichs  401,  9;  403,6  und  das  dreifache  wol  mich  406,  19  f  (zb. 
wol  mich  daz  ich  nie  gebrach  mine  stcete  an  ir!  daz  tuot  mir  wol). 
die  Versicherung  des  dienstes,  zu  dem  er  geboren  sei,  159,251, 
findet  sich  ähnlich  oft  bei  L.,  zb.  58,  8.  15;  105,  10 ff. 

Reinmar  :  159,  37  und  ist    daz   mirs   min    scelde    gan    vgl. 
Lichtenstein  387,  15    (in  Büchlein)  :  —   des    ich,    ob  mirs    min 
celde  gan.  — 

Reinmars  hastig  unterdrückter  wünsch  sich  eine  andere 
dame  zu  suchen  160,  35  f  erinnert  lebhaft  an  den  gleichen  Vor- 
gang bei  L.  401,  9  f.  beide  male  ein  optativischer  ausruf  in  zwei 
versen,  dessen  inhalt  durch  den  folgenden  vers  schroff  abgelehnt 
wird.  R.s  —  jö  ist  si  so  guot  hat  aufserdem  bei  anderer,  ähn- 
licher gelegenheit  L.  im  ohr  gelegen  :  —  ir  sit  doch  guot  32*2,  7. 

R.  161,  38  f  :  innerhalb  der  tür  hdt  [fehlt  synonym  für  gendde 
161,  32]  leider  sich  verborgen  —  vgl.  L.  bei  ähnlicher  gelegen- 
heit der  minneallegorie  448,  13  f  :  ir  vil  luter  liebe  slöz  diu 
minne  etc.  —  innerhalp  ir  herzen  tür  :  dd  rigelt  sich  diu 
stcete  für. 

R.  162,  16  f  :  War  umbe  vüeget  diu  mir  leit,  von  der  ich  höhe 
solde  tragen  den  muot?  vgl.  L.  399,  13  (u.  ö.)  :  Si  nimt  mir 
vreude,  diu  mich  sorgen  solde  machen  vri. 

R.  163,  23  :  Mich  hoehet  — ,  daz  ich  nie  wip  mit  rede  ver- 
los, sprach  in  anders  ieman  danne  wol,  daz  was  ein  schult  diech 
nie  verkös  —  vgl.  L.  571,  25  Hdn  ich  iender  missetdn  gegen  den 
guoten  [seil,  vrowen],  de'st  mir  leit  etc. 

Reinmars  selbstvorwürfe,  dass  ihm  in  der  langersehnten 
gegenwart  seiner  dame  der  mund  verschlossen  geblieben  sei  (im 
liede  164,  3 ff,  bes.  164,  21  f),  erinnern  an  das  würkliche  be- 
nehmen Ulrichs  bei  gleichem  anlass,  und  seine  klagen  über  sich 
selbst  FD  36,  17—39,  17. 

Güete  und  gebeerde  der  dame  (R.  167,  3)  spielen  überall 
auch  bei  Ulrich  eine  grofse  rolle,  ein  beispiel  statt  vieler  :  guot 
gebeerde  vrowen  schöne  stdt.  wol  ir  diu  bi  scheene  güete  hdt 
560,  23. 


ULRICH  VON  LICHTK.NSTEIN  99 

R.  168,  35:  —  hoher  muot,  der  mich  niht  innen  Idt  — 
diese  gegendberstellung  dos  höhen  muotea  mit  dem  truren  ist 
vollends  in  allen  möglichen  formen  des  ausdrucks  so  gewöhnlich 
bei  L. ,  dass  citate  wol  unnötig  sind,  vgl,  .uicli  ir  guet  mich 
zürnen  niht  enldt  429,  10. 

Der  schlagenden  parallele  im  natureingang  R,  169,  911= 
L.  555,  21  (beiden  ist  der  herbst  gleichgiltig  :  Waz  dar  umbe?) 
schliefs  ich  noch  L.  507,  Hfl'  an  :  auch  hier,  im  eingang  von 
\xxix,  tröstet  er  sich  über  den  schwindenden  sommer  —  der 
nächste  mai  bringt  ihn  wider  (507,  16  f  vgl.  555,23). 

R.  169,  27  :  Wol  den  ougen  dm  so  welen  künden  und  dem 
herzen  duz  mi>-  riet  —  vgl.  L.  406,  19  f:  Wol  mich  daz  ichs  ie 
gesach  etc.,  ferner  besonders: 

Wol  mich  der  sinne,  die  mir  ie  gerieten  die  lere, 
daz  ich  si  minne  —  (394,  16 f) 
und  Min   herze  gibt    mir   wisen   rät  —  58,  5,    dö   riet    mir   daz 
herze  min  58,  13  u.  o. 

R,  172,  15  :  ir  gewaltes  wird  ich  grd  —  vgl.  L.  395,  9  :  Ich 
wünsche,  ich  dinge,  des  einen  daz  vor  grdwem  hdre  mir  da  ge- 
linge baz  dann  ir  gen d de  gebdre  — . 

lt.  172,  3<»  ff :  Swer  dienet  dd  mans  niht  verstdt,  der  verliuset 
al  sin  arebeit  —  ein  gedanke,  der  oft  bei  L.  widerkehrt  :  412,  17, 
xxi  427,  1.  arebeit  bei  L.  im  gleichen  specialsinne  zb.  58,  27. 

Der  verbissene  vorsatz,  der  berrin  trotz  aller  abweisung  un- 
beirrt treu  zu  bleiben,  R.  zb.  173,  9  f,  findet  sich  bei  L.  überall 
in  den  liedern  der  ersten  minne. 

R.  175,  16  wan  des  einen  dd  man  lönen  sol  —  vgl.  L.  581,  22 
wan  daz  eine  des  man  nennen  niht  ensol. 

R.  175,  24  we  war  umbe  —  vgl.  L,  113,  13  We  war  umbe 
sul  wir  sorgen? 

R.  175,  33  si  was  endelichen  guot  —  vgl.  L.  415,  15  Si  was 
endelichen  guot  — . 

R.  182,  14:  Höhe  alsam  diu  sunne  stet  daz  herze  min  — 
vgl.  L.  437,  18  :  des   muot   muoz  geliche   stdn   Hoch  der  sunne. 

R.  184,  38:  Ich  wil  bi  den  wolgemuoten  sin  —  vgl.  L.  399,  9: 
Oice  daz  ich  bi  den  wol  gemuolen  also  lange  muoz  beliben  un- 
gemuot  — . 

Reinmar  werden  vorwürfe  gemacht  wegen  seines  beständigen 
trauerns  :  si   sagent    mir    alle,    trüren   ste   mir   jeemerlichen   an 


100  BRECHT 

185,  32;  ebenso  geht  es  L.  :  Ich  hdn  geklaget  so  sere  miniu  leit, 
daz  manic  tumber  lip  die  langen  klage  mir  ze  guot  niht  gar 
vertat  etc.  (402,  20,  xv).  R.  will  sich  selben  guoten  tröst  geben 
185,  29.  L.  vermisst  mehrfach  den  tröst  seiner  dame  und  spricht 
mit  den  frauen  von  dem  rat,  den  ich  mir  selben  hdn  gegeben 
403,  13  (xv). 

si  hat  tugent  und  e're  R.  190,  18  :  das  gleiche  rühmt  L.  von 
seiner  zweiten  dame  ;  Wol  mich,  wol  mich  iemer  mere  des  daz  si  hdt 
tugent  und  ere  —  449,21 ;  erenbernde  spü  mit  den  tugenden  515,21. 

Das  hausen  im  herzen  des  anderen,  als  Reinmarsches  bild 
194,  18  ff  von  Burdach  s.  113  ff  ausführlich  besprochen,  hat  sich 
bei  L.,  wie  oben  mehrfach  gezeigt  worden,  reich  und  zuletzt  ins 
absurde  entwickelt;  vgl.  die  vielen  von  Rnorr  s.  95  aufgezählten 
stellen  (auch  Burdach  s.  116).  besonders  in  den  zwei  auf- 
einanderfolgenden liedern  xli  und  xlii  hat  L.  das  motiv  verwertet, 
der  von  Burdach  citierten  parallelstelle  Parz.  433,  1  tuot  uf  etc. 
vergleicht  sich  L.  515,  24  ff  (xli)  Tuo  uf :  ich  klopf  an  etc.  das 
motiv  B.s  194,  31  f  min  herze  —  ez  sohle  sin  bi  mir;  nust  ez 
bi  dir  wird  von  L.  518,  29  ff  (xlii,  vgl.  lvi)  nur  als  hoffnung 
ausgesprochen,  xlii  zeigt  die  ergänzende  Situation  zu  R.s  gedicbt: 
R.  wehrt  sich  vers  26  f  nur  noch  schwach  gegen  den  einfall  der 
herrin  in  sein  herz;  von  dieser  besitzergreifung  geht  Ulrich  be- 
reits aus.  die  behaudlung  des  motivs  ist  bei  ihm  noch  spinti- 
sierender als  bei  R.  zeigt  dies  schon  den  epigonenhaften  zug  L.s, 
so  noch  mehr  die  talsache,  dass  das  bild  bei  ihm  schon  so  zur 
phrase  geworden  ist,  dass  die  ursprünglich  sehr  notwendig  hinein 
gehörenden  ougen,  durch  die  die  geliebte  in  sein  herz  dringt, 
ganz  in  Vergessenheit  geraten  sind,  die  enge  des  herzens  (R.  u. 
'»Yolfram,  vgl.  Burdach  aao.)  fehlt  übrigens  auch  bei  ihm.  — 
ein  minneclichez  wunder  dö  geschach  R.  194,  21  :  ein  solches 
lounder  hat  auch  L.,  582,  15;  ein  minnewunder  mir  geschach 
FD  119,  22. 

Reinmars   Strophe    195,  3ff  mag    Ulrich    im   ohr   geklungen 
haben,  als  er  die  erste  Strophe  seines  vn  liedes  dichtete: 
R.  195,  3ff  L.  113,  13ff 

Swem   von   wiben    liep   ge-     We  war  umbe  sul  wir  sorgen? 
schiht,  vreud  ist  guot. 

der    hat    aller   scelde   wol    den      Von  den  wiben  sol  man  borgen 
besten  teil.  höhen  muot. 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  101 

!!.  195,  3  IT  L.  113,  130 

wd  sack  ie  man  so  guotes  ihtl     Wol  im  der  in  Man  ge- 
a n  in  lit  iler  wer l de  wunne  und  w  innen 

ouch  ir  heil.  von  in!    der  st  ein  scelir 

wol  im,  erst  ein  swlic  man  man. 

der  wol  an  in  erwirb  et  p/liht      fr  ende  sol  man  durch  si 

der  fr  ö  i d e  n  minnen : 

der  ir  gürte  wunder  geben  kan.     wan  dd  lit  vil  eren  an. 

Einen  ähnlichen  anfaog  wie  dies  R.sche  lied  :  Der  mir  gäbe 
sinen  rät!  hat  Ulrichs  xxi\ : 

0  ue  der  so  scvlic  wcere,  der  uns  künde  geben  rät .' 

R.  (doch  vgl.  die   mini.  MFr.«  313)  201,  16:   dd  ich 

herzeswcne  trage,  mere  denne  ich  ieman  sage  —   vgl.  L.  412,  19 
Xoch  lide  ich  von  ir  leides  mere  dan  ich  iemen  sage.  — . 

R.  202,  6  :  ich  hoere  sagen  daz  si  [seil,  diu  wip]  niht  alle 
haben  einen  muot  bat  vielleicht  riehen  Walther  5S,  35  f  L.s  lied 
xxn,  das  die  guoten  wip  von  den  Ixxsen  scheidet  (der  ausilruck 
418,1),  heeinflusst.  directe  Übernahme  im  Frauenhuch(Fß)615,26: 
j'l  hob  wir  all  niht  einen  muot,  sagt  die  dame. 

Desgleichen  uia,-  der  bei  L.  so  häufige  gedanke  :  der  dichter 
will  alle  guten  frauen  der  seinen  wegen  ehren,  zb.  515,27  durch 
si  e're  ich  elliu  wip  etc.,  durch  ähnliche  äufserungen  R.s,  wie  zb. 
202,  35  und  e're  gerne  guoliu  wip,  durch  die  einen  etc.  mit  be- 
stimmt worden  sein.   — 

Ich  glaube  nun  nicht,  dass  Ulrich  irgend  eine  der  ange- 
rührten stellen  bewust  kopiert  hat.  vielmehr  hat  er  oll'eubar 
gerade  Reinmars,  des  im  Südosten  bekannten  dichters,  lieder  so 
im  gedächtnis  gehabt,  dass  er  unwillkürlich  auf  Wendungen  in 
ihnen  verfiel,  oder  sie  doch  streifte,  auch  ausdrücke,  die  im 
minnesang  allgemein  üblich  waren,  —  absichtlich  hab  ich  solche 
mit  notiert  —  mögen  ihm  vorzugsweise  aus  dieser  hauptquelle 
höfischer  kunstsprache,  vielleicht  schon  in  früher  Jugend  (vgl. 
FD  3,  5  IV;  Schönbach  Biogr.  blätler  n  17),  zugeflossen  sein,  leider 
erzählt  Ulrich  nicht,  nach  welchen  muslern  ihn  markgraf  Heinrich 
von  Istrien  in  der  dichtkunst  unterrichtete  (FD  9,13  ff  j  ;  auch 
von  dem  lehrer  selbst  ist  nichts  erhallen. 

Reinmars  einwürkung  auf  Ulrich  kann  mit  äufseren  eiuzel- 
parallelen  nicht  eingeholt  werden,  auch  wenn  man  die  Unter- 
suchung,  was  sehr  nötig  wäre,   auf   composition,    syntax,    vers- 


102  BRECHT 

kunst  ausdehnte,  von  Reinmar  stammt  Ulrichs  ga.nze  miune- 
auffassung,  sie  beherscht  die  lieder  und  namentlich  die  büchlein 
seines  ersten  minneverhältnisses  :  aber  nicht  ohne  beträchtlich 
umgeformt  zu  werden. 

Die  elemente  in  Ulrichs  natur,  die  hierzu  beitrugen,  liegen 
nach  derselben  seite,  die  der  kunst  Walthers  einfluss  auf  ihn 
gestaltete,  auch  hier  reicht  es  nicht  aus,  einzelne  stellen  zu 
vergleichen. 

Parallelen  Ulrichs  und  Walthers  hat  widerum  Schmidt  ge- 
sammelt; er  betont  mit  recht,  wieviel  geringer  hier  der  nach- 
weisbare einfluss  ist. 

FD  240,  17  ff :  Ir  sült  sprechen  willekomen  (citat  von  6  versen). 
Walther  42,  6  :  ohne  negation  FD  51,  29  (Wilmanns) 

8,  12  vgl.  FD  587,  27  fT 

8,  15  vgl.  .    FD  587,  31 

Knorr  fügte  folgendes  hinzu: 
Walther  20,  25  ff  vgl.  FD  589,  3  ff 

46,  10—12  | 

46,  15— 17(27, 17ff)/  T«L  L'  18'  S~ ll"  16-  1T 

.         26,  10  vgl.  L.  399,  11       taber ,mÜ  ^^7- 

gesetzter  antwonj 

42,  31  ff  vgl.  L.  556,  4  ff 

-         fzlll]  'gl-  L.418,lff(vgl.FB615,24;616,5f.8f) 

47,  1  ff  [bes.  5]  vgl.  L.  59,  1  ff 

48,  38 ff  vgl.  L.  566,  10-23   (FD  564,  17— 

565,  20) 

Knorr  bemerkt  selbst,  nicht  überall  sei  entlehnung  sicher,  ich 
möchte  auch  hier  am  liebsten  unbewuste  eriunerung  annehmen, 
die  'entlehnung'  wird  überhaupt  bei  einem  dichter,  der  nicht 
lesen  kann  (FD  60,  lf),  meist  auf  dem  wege  des  gedächtnisses 
vor  sich  gehn,  besonders  bei  einem  lyriker,  der  unter  umständen 
auch  im  sattel  dichtete. 

Von  solchen  anklängen  an  Wallher  hat  eine  sorgfältige  nach- 
lese folgende  ergeben: 

Wallher  63,  20: 

Friundin  unde  frowen  in  einer  wate 
wolle  ich  an  dir  einer  gerne  sehen  — 


UL11K  II  V(»N  LICHTENSTEIN  L03 

vgl.  566,  17: 

Wip  und  frowen  in  einer  wate 

sol  man  gerne  schouwen  — 

Schon  Wilmanns  (Wallher1   159)   bat  die  parallel«  _•  in  . 

W.  69,  I  ••  Saget  mir  ieman,  wetz  ist  minne?  mit  L.  134,26: 
Rerre,  saget  mir,  waz  ist  minne?  ohne  bei  der  'beliebtheil  des 
ihemas'  direclen  eiofluss  anzuDebmeo. 

Aoaphorische  Spielereien  gerade  mit  stiete,  wie  sie  Walther 
'.»7.  1—11  enthalt,  liebt  auch  L.,  zb.  430,7—13. 

Die  ougen  des  herzen  5S2,  17  (s.  o.)  bat  Ulrich  vielleicht 
von  W.  99,  '22  mtnes  herzen  ougen  und  99,  27.  —  die  stelle 
Wolframs  5,  18  (Bock  s.  35  aiim.  1)  bietet  nicht  die  charakte- 
ristische kürzeste  form  der  metapher. 

Walther  102,  12  iuwer  minneclichez  ja  =  L.  401,  2  ir  vil 
minneclichez  jd. 

Walthers,  nach  Wilmanns1  125  vielleicht  von  Hartmann  MFr. 
215,  14  beeinflusster,  liedanfang  :  Wol  mich  der  stunde,  daz  ich 
si  erkande  110,  13  mag  L.s  liedanfang  Wol  mich  der  sinne,  die 
mir  ie  gerieteji  die  lere,  daz  ich  si  minne  394,  16  mit  hervor- 
gerufen haben. 

Das  gleiche  gilt  von  einein  andern  liedanfang  Walthers: 
Got  gebe  ir  iemer  guoten  tac  (119,  17), 
der  mit  L.s  liedanfang  518,  1   zu  vergleichen  ist: 

Vroioe  min,  got  gebe  dir  guoten  morgen, 
guoten  tac,  vil  freude  riche  naht. 

zeigt  die  hybride  ausgestaltung  mit  ihren  auf  einmal  eigentlich 
sinnlosen  drei  wünschen  den  nachahmer? 

Nachahmung,  absichtliche  oder  unabsichtliche,  lit:t  jedes- 
falls  vor  gegenüber  einem  der  bekanntesten  motive  Walthers: 
W.  53,  35  IT: 

got  hat  ir  wengel  höhen  ßiz, 

er  streich  so  tiure  varwe  dar  (rot  und  weifs)  — 

vgl.  L.  536,  25: 

got  hat  sinen  vliz  an  dich  geleit  — 
u.  a.  die  färben  weifs,  braun,  rot  (536,  27  f). 

Eine  ähnliche  Vorstellung  zeigt  576,  20  :  an   daz  herze  hdt 
geleit  got  so  minneclichen  lip  (Wilmanns1  s.  141,  anm.  z.  st.  \ 
gleicht    die    früher    Heinzelin    zugeschriebene   Minnelehre  639  ff). 


104  BRECHT 

Dagegen  ist  wol  nur  zufällige  berührung  bei  ähnlichem  au- 
lass  die  gedankenparallele: 

W.  53,  17  ff:  L.  397,  19 ff  (vgl.  oben  s.7): 

Miner  frowen  darf  niht  wesen  leit,     Ob  ich  niht  geniezen  kan 
daz  ich  rite  und  frage  in  frömediu     diner  güete  und  der  langen  stcete 

lant  min, 

von  den  wiben  die  mit  werdekeit     So  Id  mich  vil  senenden  man 
lebent.    der  ist  vil  mengiu  mir     der  geniezen,  den  ich  durch  den 
erkant  —  willen  din 

Vgl.  auch  W.  49,  16  ff:  Sol  und  muoz  gedienen  vil. 

Swd  ich  niht  verdienen  kan  daz  sint  elliu  guotiu  wip  — . 

einen  gruoz  mit  mime  sänge  etc. 
Allerdings  ist  die  vergleichung 
insofern  nicht  genau,  als  er  hier 
nicht  von  seiner  dame  spricht, 
sondern  von  allen  spröden  frauen. 

Einen  vollbewusten  anschluss  Ulrichs  an  Walther  erblicke 
ich  nur  in  seinen  dialogen.  es  handelt  sich  um  Walthers 
dialoge  100,  24ff  und  85,  34ff,  mit  denen  Ulrichs  x,  xxx, 
xxxiii  lied  zu  vergleichen  ist. 

Alle  drei  dialoge  Ulrichs  schneiden  die  letzte  Strophe  in  zwei 
teile  für  die  gesprächspartner,  während  sie  ihnen  vorher  Strophe 
um  Strophe  abwechselnd  zuteilen  :  ganz  ebenso  macht  es  W.  in 
den  angeführten  liedern  (vgl.  auch  Wilmanns1  144  anm.  zu  v.  37). 

Walthers  lied  100,  24  ff  ist  ein  gespräch  des  dichters  mit 
Frö  Welt,  Ulrichs  134,  5 ff  (x)  eines  mit  der  frau  Minne,  in 
beiden  beklagt  sich  der  dichter,  die  angeredete  sucht  ihn  mit 
gründen  zu  beschwichtigen,  der  ausgang  freilich  ist  verschieden: 
Walther  sagt  mistrauisch  der  frau  gutenacht  und  vert  ze  herberge, 
Ulrich  lässt  sich  zu  neuer  begeisterung  entflammen. 

Viel  weiter  geht  die  Übereinstimmung  zwischen  W.  85,3411 
und  L.  434,  19  ff  (xxx).  beide  male  ein  gespräch  zwischen  dem 
dichter  und  einer  dame.  beide  male  verhält  sich  die  dame  spröde, 
und  der  dichter  gibt  minnigliche  lehre,  in  beiden  liedern  von  der 
dritten  Strophe  an,  auf  ersuchen  der  dame  (W.  86,  13  lert  mich 
—  Frowe,  daz  wil  ich  iuch  leren  86,  15,  L.  435,  2  saget  an  — 
Vrowe,  ich  wil  iu  von  ir  me're  Sagen  —  435,  20).  bei  Ulrich 
ist  von  vornherein  von  minne  die  rede,  bei  Walther  gibt  erst  der 
herr  dem  thema  die  verfängliche  spitze,     dafür  geht  W.  sogleich 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  LOS 

in  der  mionelehre  der  dritte d  Btrophe,  der  Ulriche  dritte  Strophe 
im  inhalt  entspricht,  stärker  aufs  persönliche  los  und  bringt  schon 

hier  den  effect,  den  Ulrichs  raffinierterer  Bpätlingsverstand  Ins 
zum  sclduss  aufspart  :  der  herr  bezeichnet  sich  selbst  als  ge- 
eignetes object  für  die   soeben    vorgetragenen   minnevorschriften : 

froice,  wollet  ir  den   mtnen, 

den  gceb  ich  um  ein  so  schiene  wtp, 

worauf  die  dame  ihn  nur  als  redegesellen  gelten  lassen  will,  der 
herr  wagt  noch  einen  vorstofs  und  wird  erst  dann  von  der  dame 
zierlich  und  schnippisch  abgefertigt,  wahrend  W,  so  mit  uider- 
holungsmotiv  und  klimax  wilikl,  sucht  Ulrich  seine  stärke  in  der 
ausdehnung  des  immer  verfänglicher  werdenden  gesprächs,  das 
bei  ihm  noch  doppelt  so  viele  (kürzere)  Strophen  zählt  als  bei  W. 
hei  ihm  kommt  der  herr  erst  zu  beginn  der  letzten  Strophe,  von 
der  dame  fast  provociert,  mit  seinem  antrage  heraus,  dann  aller- 
dings kurz  und  bestimmt:  Vrowe,  da  soltu  mich  meinen  etc. 
noch  kürzer,  dabei  schnippischer  als  hei  W.  und  schärfer,  ist  die 
antwort.  —  bei  Ulrich  ist  alles  logischer,  pointierter,  eleganter, 
weniger  gutmütig  :  in  dieser  üherschärfung  des  tones  glaub  ich, 
wie  in  der  der  motive,  wider  den  copisten  zu  erkennen,  pedan- 
terie  des  uachahmers  ist  wol  auch  die  ergänzung  der  bei  vV. 
fehlenden  Herre  zu  beginn  der  frauenstrophen.  bei  W.  gehl  die 
dame  im  scherz  auf  die  befürchlung  ein,  ihre  minne  werde  den 
ritter  toten  (86,  29);  bei  Ulrich  fürchtet  sie  sich  selbst  vor  dem 
minnekummer  (435, 27f),  ebenso  schalkhaft,  aber  mit  erkünstelterer 
naivetät.  die  gesellschaftliche  haltung,  der  leicht  frivole  salonton, 
ansteigen  und  abbrechen  des  gesprächs  ist  in  beiden  liedern 
ganz  gleich. 

Die   Ähnlichkeit   des  Waltherschen    liedes   mit   dem  xxx  des 

Lichtensteiners  besteht  in  der  gleichen  anläge,  die  hier  auch  die- 
selbe strophenzahl  hervorgebracht  hat,  und  in  der  parallehtät 
der  eingänge.  Strophe  1  bei  \V.  entspricht  durchaus  der  ersten 
Strophe    bei    L.  443,  1  ff,    ankündigung   der    neigung   des    ritters 

(Frowe'n    lät   iuch    niht   verdriezen   Miner   rede Wizzet 

daz  ir  schaene  sit  —  vgl.  Wizzet,  frowe  wolgetdn,  etc.).  was  W.s 
dame  schon  in  ihrer  ersten  rede  ausspricht  (86,  7  f ) : 

Ich  wil  iu  ze  redenne  gunnen, 

(sprechent  swaz  ir  xceli),  obe  ich  niht  tobe. 


106  BRECHT 

daz  hat  ir  mir  an  gewunnen 

mit  dem  iuwern  mitinec/ichen  lobe, 

dies  uiotiv  hat  L.  wider  zum  pointierten  abschluss  aufgehoben, 
verschärft  und  negiert,  seine  dame  verbittet  sich  gerade  die 
übertriebenen  complimenle  (443,  26),  und  als  der  ritter  uoeb 
nicht  aufbort,  wird  sie  empfindlich  und  bricht  das  gespräch  ab 
(444,  5-7). 

Affinitäten  im  ton  begegnen  häufig,  so  klingen  das  xxviii 
und  das  xxxi  lied  Ulrichs  sehr  waltheriscb  iu  ihrer  einfachen 
natürlichkeit  und  frische,  mit  ihrer  klaren  naluranschauung,  ihrer 
leicht  sentenziösen  spräche,  ihrem  sich  dem  metrum  anschmiegen- 
den satzbau  (vgl.  zb.  W.  51,  13  ff),  xxxi  schliefst  mit  einem 
bildchen,  wie  Walther  es  liebt: 

Swd  ein  werdez  wip  anlachet 

einen  minnegernden  man 

Und  ir  munt  ze  küssen  machd  — . 

kurz  vorher  (437,  14)  steht:  alles  guotes  Überguide,  vgl.  W.  8,  17: 
der  zweier  Überguide;  lieblingsworte  \Y.s,  wie  gedinge,  gern,  sind 
auch  bei  Ulrich  nicht  selten,  unter  Walthers  liedern  erinnern 
109,  1  ff;  110,  13ff;  110,  26  ff  am  meisten  an  Lichtenstein.  — 
Geschichtlich  folgt  Ulrich  auf  Walther,  den 
schüler  Reinmars,  in  seiner  kunst  steht  er  zwischen 
beiden,  auch  er  ist  nicht  bei  R.s  ton  geblieben,  aber  er  war 
weit  entfernt  von  Walthers  bewuster  und  radicaler  abkehr.  die 
wendung  zur  natur,  zur  'niederen  minne',  war  bei  ihm  undenkbar, 
der  Reinmarische  ausschnitt  W.s  bleibt  seine  Sphäre, 
i  Die  dialektische  disposition,  den  gespreizten  ernst,  die  humor- 

,  losigkeit  teilt  Ulrich  mit  Reinmar,  aber  nicht  seine  schwere  und 
seine  oft  zaghafte  baltung.  er  könne  von  wiben  niht  übel  reden, 
erklärt  Reinmar  (171,  3);  so  weit  versteigt  sich  Ulrich  nicht:  er 
verstand  sich  auch  auf  scheltlieder. 

Ulrich  hat  mehr  natur,  mehr  sinne  als  Reinmar,  er  schaut 
nicht  nur  in  sich,  auch  in  die  ritterliche  weit,  er  zeigt  sich  als 
unverbesserlichen  Sanguiniker,  als  ein  kind  das  nur  im  augen- 
blicke  lebt  :  in  all  dem  erinnert  er  lebhaft  an  Walther.  nur  dass 
die  natur  bei  ihm  eine  viel  geringere  rolle  spielt;  Reinmar  igno- 
riert sie,  Ulrich  sieht  mehr  den  ritter,  Walther  sind  natur  und 
mensch  gleich  vertraut. 


ULRICH   VON  LICHTENSTEIN  107 

Ulrichs  naturell  mag  Walther  ähnlicher  gewesen  Bein; 
vielleicht  gerade  darum  hat  Reinmar  spürbarer,  wenn  auch  nicht 
tiefer,  aul  ihn  gewttrkt.  wie  reinmarisch  sind  die  wdnwl 
;ils  conception,  aber  wie  gani  unreinmarisch,  in  ihr«  r  vorwiegen 
den  munterkeit,  isl  die  ausführungl  bei  ihnen  wird  es  am 
klarsten  :  der  einfiuss  Reinmars  aul  Ulrich  war  Urin  mensch- 
licher, vielmehr  nur  ein  litterarischer,  gerade  wie  er  es  bei 
Wallher  gewesen  war. 

Irgendwie  beträchtliche  einwürkungen  anderer  erscheinen 
ausgeschlossen,  geringfügige  reminiscenzen  ;ms  Wolframs  dich- 
lungen  —  »leren  liefe  Ulrich  sicher  nicht  verstand  —  hat  Knorr 
s.  13  notiert,  ich  halte  nur  die  erste  von  ihnen  für  erwiesen: 
und  müht  ich  dich  bergen  in  den  ougen  min  512,  21  (n  tagelied) 
vgl.  Wolfram  8,  4.  die  stark  sinnlichen  tagelieder  (wxvi,  xi.) 
stehen  natürlich  auf  der  von  Wolfram  ausgehnden  linie.  im 
einzelnen  hat  Roelhe  (Anz.  xvi  96)  14S,  3«>  :  mit  armen  und 
leinen  lac  geflöhten  usw.  als  'wttrkliche  nachahmung'  W.s  (4,  1  f ) 
angesprochen;  vielleicht  ist  auch  näher  unde  näher,  bazundabei 
haz  -Km),  1 1  ixiv),  vgl.  Wolfr.  5,  11  urloup  nah  und  näher  baz  — . 
hierher  zu  rechnen,     endlich  der  anfang  des  xi.wi  liedes: 

Nu  hilf,  ic i hes  gilete. 
mir  ist  not  der  helfe  din. 
lässt  an  Wolfr.  7,  24  denken  :  —  güetlich  wip  :  nu  hilf,    sit  helfe 
ist  worden  not.     aber  der  ausdruck  ligt  allgemein  nahe.  — 

Überall  folgt  Ulrich  der  strengen  höfischen  tradition.  natur 
und  leben  legten  ihm  dies  nahe,  sein  meister  Reinmar  ist  höfisch 
par  excelleuce;  und  die  andersartigen  demente  Walthers  ver- 
schmäht er.  nur  an  zwei  stellen  scheint  mir  ein  unhöfischer 
ton  leise  anzuklingen  :  in  zwei  tanzweisen,  dem  frühlingsliede 
xxxiv  und  namentlich  in  dem  winterliede  xxxv  (beide  nach  12: 

Der  eingang  des  ersten  liedes  weist  sorge  und  angest  von 
der  strdze  :  strichet  von  dem  lande,  sam  der  winder,  von  uns  hin 
—  er  spricht  im  uamen  aller,  auch  noch  in  der  nächsten  Strophe: 
es  klingt  wie  Neidharts  nalureiugänge  vor  seinen  sommer- 
liedern.  sie  haben  dieselbe  tendenz,  häufig  auch  zwei  Strophen 
läuüe.  strichen  isl  ein,  nicht  ilbermäfsig  höfisches,  lieblingswort 
.Neidharts  (vgl.  12,  18;  13,  21;   IS,  15;  19,  1;  22,  20). 

Sehr  viel  grofser  ist  die  Ähnlichkeit  im  zweiten  liede.  Warnet 
iuch  gar,  Junge  und  aide,  gegen  dem  winder  —  (44i>,  l  f).   junge 


108  BRECHT 

und  alte  (bei  Ulrich  aufserdem  555,  28 ;  565,  29)  :  der  typische 
gegensatz  bei  Neidhart;  in  derselben  Zusammenfassung  8,  12; 
41,  34,  beide  male  ebenfalls  im  liedanfang.  —  am  ende  der  ersten 
und  in  der  zweiten  Strophe  gibt  Ulrich  vorsichtsmafsregeln  gegen 
den  wiuter  :  Sit  iu  selben  kleider  milde  —  weit  ir  vor  im  sin 
behuot,  so  sult  ir  diu  hiuser  spisen  — .  ratschlage  gegen  die 
winterkälte  gibt  auch  Neidhart  iu  einem  winterliede  :  beidiu  vinger 
unde  zehen  sol  ein  ieslich  man  vor  disen  winden  wol  bewarn  etc-, 
(76,  21  f).    —   in    der    dritten    Strophe    kommt   Ulrich   auf   seine 

pauacee  :  Für  sin   stürmen sul  wir  in   die  Stuben  wichen, 

da  mit  wiben  wesen  vrö  —  vgl.  Neidhart  zb.  wir  müezen  in  die 
stuben  60,  9;  Winder,  uns  wil  din  gewalt  in  die  Stuben  dringen 
35,  1,  vgl.  auch  35,  20.  es  ist  die  den  winterliedern  zu  gründe 
liegende  Situation;  und  das  vrö  wesen  mit  iciben  ist  auch  hier  die 
hauptsache,  wenn  auch  in  anderer  form. 

Auch  ein  singulärer  liedanfang,  wie  Ulrichs 
Alle  die  in  hohem  muote  wellen  sin, 
den  %dü  ich  daz  rdten  bi  den  triwen  min  —  (426,  12) 
stammt    wol    aus    neidhartscher   Sphäre.     Neidharts   lied    16,  38 
beginnt: 

Alle  die  den  sumer  lobeliche  weint  enphdhen, 
die  Idzen  in  ze  guote  mine  lere  niht  versmdhen. 
ich  rate  daz  — . 
Natürlich  mein  ich  nicht,  dass  Ulrich  sich  gerade  au  die 
angeführten  stellen  angeschlossen  habe,  aber  dass  er  Neidhartsche 
lieder  gekannt  hat,  ist  sicher,  hielt  sich  doch  Neidhart  selbst  einige 
zeit  in  der  Steiermark  auf;  war  er  doch  der  bevorzugte  dichter 
am  Wiener  hofe  unter  herzog  Friedrich  dem  Streitbaren,  Ulrichs 
lehnsherrn.  bei  Ulrichs  aufenthalte  in  Wien,  im  winler  1227 
auf  28  —  damals  regierte  noch  Leopold  vn  —  war  Neidhart  zwar 
schwerlich  schon  dort  (HMS  iv  437  f) ;  aber  dass  er  ihn  später 
nicht  kennen  gelernt  haben  sollte,  ist  kaum  denkbar  (vgl.  Roethe 
s.  35  und  36).  wie  dem  auch  sei,  ein  leichter  anflug  Neid- 
hartscher drastik  kann  den  Verehrer  des  hohen  stils  damals  sehr 
wol  betroffen  haben,  die  tendenz  zum  realismus  lag  iu  der 
luft,  im  märe  zeigt  Ulrich  sie  selbst  deutlich  genug,  niemand 
kann  sich  seiner  zeit  ganz  entziehen  *.  — 

1  die   gleichheit    eines    tones    bei   Ulrich  (xxvi)    und   Rubin  (xiii),    bei 
Ulrich  ixxx)  und  Walther  (im   kreuzlied  14,  35  ff),    halt  ich  mit   Bechslein 


ULRICH  VON  LICHTENSTEIN  109 

Von  [einer  Qachwürkung  Lichtenstein  s  kann  man  nur 
in  seiner    engeren  beimat   reden.     Kummer  (Die   poetischen  Er- 
zählungen  des    Herrand    von   Wildonie    und  die   kleinen   inner- 
Österreichischen  minnesingei  i  hat  zahlreich  elemente  Ulrichscher 

lynk  bei  dem  ihm  eng  befreundeten  Wildonie  (vgl.  s.  23 f. 
47 — 52.  99f)  m  hinsieht  auf  metrik  und  Wortschatz  festgestellt, 
Um  dem  von  Suneck  (s.  1 05 f)  in  einzelnen  ausdrucksparallelen, 
bei  dem  von  S  lad  eck  auch  im  metrischen  hau  eines  liedes 
(Stadeck  m  =  Ulrich  v;  s.  1101).  die  meiste  Ähnlichkeit  mit 
Lichtenstein,  mich  syntaktisch,  zeigen  die  drei  lieder  Sunecks. 

Eines  der  schönsten  bilder  Ulrichs,  vom  herzen,  das  wie  ein 
kleines  kind  weint  nach  der  huhl  Aev  geliebten  (149,  7,  ir  büch- 
lein),  hat  Hadamar  von  Laber  nachgeahmt  (str.  2:5,3;  Bur- 
dach s.  26). 

Eine  gewisse  Ähnlichkeit  mancher  Sittenschilderungen  des  sogen. 
Seifried  Helblrng  mit  Ulrichs  frauenbuch  und  den  schluss- 
partieen  des  FD,  die  Knorr  auffiel  (s.  21  anm.),  beruht  wol  nur 
auf  der  verwantschaft  des  slofTes  und  der  örtlichen  und  zeitlichen 
nähe.  Seemüller  (Studien  zum  kleinen  Lucidarius,  Wiener  sitziu 
berichte  cu  661  f,  Seifr.  Helhl.  xxxiii)  hat  'keine  deutliche  spur' 
gefunden. 

Die  lieder  Hugos  von  Moni  (ort  und  Oswalds  von 
Wolkenstein  hab  ich  auf  Lichtensteinische  einflösse  hin  unter- 
sucht, jedoch  vergeblich. 

In  den  ersten  drei  capiteln  hatte  die  Untersuchung  folgen- 
des ergehen,  die  motive  der  lyrik  Ulrichs  waren  an  zahl  gering. 
uur  sehr  wenige  von  ihnen  entnahm  er  dem  leben,  die  meisten 
der  hofischen  tradition,  die  er  zt.  durch  übersteigern,  combi- 
nieren,  rationalistische  neuerungen l  epigonenhaft  weiterbildete, 
sein  produetiver  kunstverstand  entfaltete  sich  vorzüglich  in  der 
composition ,  in  der  vielfach  eine  dialektische  Veranlagung  des 
geistes  zu  tage  trat,  sein  formsinn  im  einzelnen  bewies  seine 
kraft  hauptsächlich  in  kunstvollen  widerholungen,  parallelismen, 
synonymen,  Variationen;  vorwaltende  Orientierung  seiner  phan- 
lasie  nach  aufsen  verriet  die  ausgeprägte   neigung  zur  anrede. 

s.  xvf  für  zufall.  zum  daenediep  war  Ulrich  zu  reich  an  erfindung.  vgl. 
Lachmann  zu  Waltbei  IG,  35,  Liliencron  Zs.  6,  86,  Kummer  s.  74  anm.,  Bei  b- 
slein  s.  147  anm.  und  s.  156  anm.  '  vgl.  auch  Burdach  s.  116. 


HO  BRECHT 

Als  was  lassen  diese  eigeuschaften  den  dichter  erkennen? 
der  geringe  gedankengehalt;  das  vorwiegen  der  form;  die  Sicher- 
heit in  allem  technischen  des  aufbaus  und  der  ausführung;  die 
liebe  zu  Stilmitteln,  die  mehr  als  alle  andern  geläufige  kenntnis 
des  wortreichtums,  heherschung  aller  ausdrucksmöglichkeiten  einer 
gehildeten  dichtersprache  voraussetzen  :  alles  erweist  den  vir^ 
tuosen  am  ende  einer  lyrischen  blüteperiode. 

Einen  virtuosen,  dessen  lehhaftigkeit  zuhörer  nicht  entbehren 
kann,  apostrophe  ist  die  seele  seiner  dichtung.  er  ist  nie  mit 
sich  allein,  das  unterscheidet  ihn  am  meisten  von  Reinmar.  er 
steht  immer  vor  leuten,  denen  er  vorsingt,  seine  lyrik  ist  laut, 
es  ist  immer  geslus  dahinter. 

Der  vortragende  hört  sich  reden,  man  merkt  Ulrichs  Worten 
au,  dass  sie  alle  ajiljwi^rkung  hin  ausgewählt  sind,  namentlich 
am  anfang  der  lieder1.  ostentative  mitteilung,  die  imponieren 
soll,   ist   seine    ganze   poesie.     er   ist  eitel  auf  sein  Seelenleben. 

Er  weils,  dass  es  adelich  ist.  nicht  umsonst  reizt  ihn  immer 
wider  die  Vorstellung  des  hohen2,  erfüllen  ihn  hochgespannte 
ideale  von  e're,  werdekeit,  tugent  und  dergleichen,  darum  ist  es 
ein  kleiner  kreis,  au  den  er  sich  wendet;  der  aristokrat  weifs, 
dass  er  nur  von  seinesgleichen  verstanden  wird 3. 

Als  mitglied  der  ritterlichen  gesellschaft  fühlt  sich  Lichten- 
siein  vor  allem,  in  der  dichtung  nicht  anders  als  auf  dem  turnier- 

1  die  anfange  sind  ausnahmslos  gut,  voller  elan;  die  schlösse,  auf  die 
der  moderne  virtuose  besondern  wert  legen  würde,  fast  durchgängig  matt. 

2  hoher  muot,  hochgeniiiete  überall,  hohgedinge  zb.  30,  3.  diu 
hohe  minne  59,  3.  minnet  ho  457,  7.  min  gemüete  stdl  ho  400,  3 ;  556,  21, 
desgl.  410,  25;  566,  13  (muot).  diu  herze  stigent  ho  423,  12.  stet  min 
herze  unho  110,  16.  junge  und  aide  hebt  unhohe  566,  1.  mir  muoz  ho 
an  ir  gelingen  425,  25.  des  muoz  min  muot  hohe  sweben  534,  12.  des 
muot  muoz  geliche  stdn    Hoch   der  sunne  437,  18,    und  vieles  andre  dgl. 

3  dass  ritterlich  höfische  art  die  einzige  ist,  die  in  betracht  kommt, 
ist  L.  überall  selbstverständlich,  bei  seinem  aufenthalte  als  trau  Venus  in 
Wien  1227  sind  die  bürger  gut  genug,  um  die  ritler  in  quartier  zu  nehmen 
(charakteristischer  ausdruck  250,  28);  die  Wienerinnen  werden  als  deco- 
ratives  strafsenpublicum  angenehm  empfunden  (251,  26).  —  unterschied 
zwischen  edeler  art  und  geburen  art  509,  26  ff,  bes.  510,  5  f.  —  andere 
charakteristische  lieblingsworte  :  herze,  minne,  dienen,  dienest,  freude, 
Irüren,  wünsch,  wdn,  wip,  vrowe,  rät,  wunder,  enget,  rose,  vro,  guol, 
sueze,  fruole,  lachen  und  munl  der  geliebten,  das  absonderliche  kleinvel- 
hitzeröl  (vgl.  Knorr  s.  82).  an  der  geliebten  sieht  er,  wie  wol  die  meisten 
mhd.  lyriker,  ausschliefslich  die  färbe,  nicht  die  form. 


ULRICB  VON  LICHTENSTEIN  111 

platz,  vornehmer  sport  ist  das  eine  wie  das  andere,  dass  ihm 
der  sport  des  minnedienstes  zum  notwendigen  pbantasiebedQrfnis 
uird,  ist  das  Verhängnis  Beines  cbaraktei 

Den  forderungen  der  höfischen  Gesellschaft  ist  sein  stil 
völlig  angemessen,  als  gesellschaftlichen  dichter  zeigl  ihn 
Bchon  die  grofse  neigung  zur  apostrophe.  wesentlich  von  ihr 
stammt  der  eindruck  der  lebbaftigkeit,  den  seine  poesie  von  jeher 
gemacht  bat  (zb.  Uhland  b.  236).  seine  natur  ist  nicht  übermäfeig 
ursprünglich ;  hergebrachte  minnedialeklik  hat  er  genug  —  trotzdem 
wflrkl  er  lebendig  und  Irisch,  die  apostrophe  macht  alles  mindestens 
erträglich,  neben  der  pointierten  diction,  dem  reichtum  an  rede- 
ßguren,  »lern  öberlegten  satzbau  trägt  sie  das  meiste  bei  zu  dem 
declamatoriscben  Charakter  seiner  lyrik. 

Wer  sich  immer  an  die  gesellscbaft  wendet,  bei  dem  isi 
ungewöhnliche  tiefe  der  empfindung  und  des  gedankens  von  vorn- 
herein ausgeschlossen,  aber  reichtum  an  abwechselung  und  eine 
gewisse  Urbanität,  eleganzund  geistreiche  einfalle  werden  geradezu 
verlaugt,     mit  alledem   konnte   Ulrich  dienen. 

Die  gesellscbaft  verlangt  mafsvolle  munterkeit  :  er  dichtet 
muntere  Lieder '.  die  gesellschaft  kokettiert  im  stillen  mit  der 
leidenschaft  :  er  dichtet  leidenschaftliche  lieder.  ein  wenig  Sinn- 
lichkeit erlaubt  sie  :  er  macht  sinnliche,  die  er  gerade  au  der 
grenze  desseD  halten  lässt,  was  erlaubt  ist  —  und  gefällt2,  sie  hat 
Verständnis  für  schwierige  kunstgedichte  :  er  verfertigt  prunk- 
stflcke3.  schmachtende  Sentimentalität  ist  ihr  interessant:  davon 
hat  er  überfluss.  und  die  minnigliche  verstiegenheit  wird,  solange 
sie  nicht  lästig  fällt,  von  dem  mafsgebenden,  weiblichen  teile  der 
Gesellschaft  nur  als  schmeichelhafte  consequenz  empfunden. 

Gelegentlich  verrät  Ulrich  den  her  gang  bei  seinem 
dichten  oder  äufsert  sich  in  einer  art  von  räsonnement  über 
poetische  fragen,  psychologisch  lässt  sich  manches  aus  diesen 
bemerkungen  gewinnen,  die  naiv  bleiben,  auch  wo  sie  rationa- 
listisch werden. 

Die  antriebe  zum  dichten  sind  bei  ihm  sehr  verschieden. 
manchmal  folgt  er  sichtlich  dem  augenblicklichen  bedürfnis,  er 
dichtet  im  sattel  (109,  29  f),  auf  dem  wege  (131,  29),  in  der  nol 

1    zb.    IV.    VIII.    XII.    XIX.    XXVIII.    XXXI.    XXXV.    XLVIII.    L. 

1    Zb.    XXIX.    XXXVI.    XL.     XLI.    LVI.    LVII.       / 

S    Zb.    XIV.     XVIII.     XXV.    XXX.    XXXII.    XXXIII.    XXXIV.    XI.II.     M.III.    LI. 


112  BRECHT 

des  kerkers  (545,  1).  viel  häufiger  setzt  er  sich  in  positur.  aber 
bereit  ist  er  immer  :  der  virtuose  versagt  nie.  er  kann  auch 
würklich  sehr  viel,  das  zeigt  sich  glänzend,  als  er  krank  in  Bozen 
ligt,  und  eine  dame  ihm  eine  welsche  melodie  schickt,  mit  der 
bitte,  ihr  einen  deutschen  text  unterzulegen  (1225,  FD  112,  22  ff), 
er  willfahrt  sofort;  und  gerade  dieses  lied  ist  vortrefflich  :  sehr 
lebendig,  feurig,  im  ausdruck  das  schwierige  metrum  der  drei- 
teiligen Strophe  aufs  gewanteste  verwertend. 

Ein  innerlich  wahrer  ausdruck  für  den  unmittelbaren  drang 
zu  dichten,  äufserungen  wie  Zehant  ich  tihten  dö  began,  als  mir 
min  senedez  herze  riet  (104,  6)  —  min  zornic  herze  mir  dö  riet, 
ze  singen  disiu  sioinden  liet  (416,  26)  —  in  dirre  not  min  herze 
riet  mir  ze  singen  disiu  liet  (545,  1)  sind  dem  entsprechend  selten, 
der  virtuos  ist  gewöhnt,  die  poesie  zu  commandieren.  die  Situation 
lässt  es  ihm  einmal  vorteilhaft  erscheinen,  seiner  ersten  herrin 
möglichst  bald  wider  ein  lied  zu  senden,  er  sagt  dies  seinem 
boten.  Alzehant  dö  huob  ich  an,  von  herzen  tihten  ich  began  liet 
sd  von  der  vrowen  min  (318,  5  f).  unterdessen  wartet  der  böte, 
kaum  ist  das  lied  aufgeschrieben,  reitet  er  mit  ihm  ab.  und 
dies  lied  (xi)  ist  nicht  schlecht,  es  hat  keinen  leichten  strophen- 
bau,  doppelte  eingangsapostrophe,  anaphern,  parallelismen. 

Ähnlich  ad  hoc  dichtet  er  bald  darauf  das  xii,  überaus  kunst- 
volle lied  und  das  m  büchlein. 

Da  mit  ich  von  dem  boten  schiet 

und  tiht  zehant  guot  niuwiu  liet 

und  ouch  ein  kleinez  büechelin  —  — 
diu  liet  und  büechel  wart  bereit, 

al  zehant  min  böte  reit  — .  (381,  5) 

Leistet  Ulrich  in  der  tat  viel,  so  ist  er  auch  stolz  auf  seine 
geschicklichkeit : 

nie  buoch  so  tninneclichen  wart 

getihtet  so  daz  büechelin, 

daz  ich  dö  tiht  —  (381,  10). 

schon  der  junge  dichter  betont  die  Originalität  der  melodie,  die 
Schönheit  und  gefühlswahrheit  des  textes: 

diu  wise  ist  niuwe  und  höchgemuot, 

diu  wort  sint  süeze  und  dar  zuo  wir  (98,  24), 
und  das  letzte  empfinden  wir  bei  diesem  liede  (iv)  heute  noch. 
'■diu   wort  sint  guot,   diu   wise  niu  ,    lässt   er   seinen   boten   von 


ULRICH  Vi».\  LICHTENSTEIN  ll ., 

seinem  vir:  liede  sagen  (125,  13) '.  dies  Bind  nur  «* i 1 1 1 _ . -  proben 
seines  selbslbewustseins.  virtuosen  pflegen  ruhmredig  eu  sein. 
Nicht  selten  misversteht  der  auf  die  tecbnik  eingeschworene 
routinier  den  Klassischen  Stil,  und  wähnt  ihn  durch  kleinliche 
Schnörkel  zu  verbessern,  so  negiert  Lichtenstein  in  seiner  ein- 
zigen gröTseren  ästhetischen  argumenlation  509,  6  IT  den  bisherigen 
stil  «les  tageliedes  mit  naturalistischen  gründen,  wie  sie  dem 
epigonen  naheliegen,  nur  um  diese  theoretische  erwägung  zu 
illustrieren,  dichtet  er,  nach  seiner  angäbe,  seine  beiden  tage- 
lieder.  der  blofse  vorsatz,  wider  einmal  etwas  effectvoll-origi- 
nelles  zu  machen,  ist  das  primäre. 

—  min  herze  mir  <I6  riet 
singen  aber  niuwen  sin. 
ich  ddhte  her,  ich  ddhte  hin: 
ich  (Iaht  an  der  minncBre  klage  — 
damit  leitet  er  seioe  rationalistischen  erwägungen  ein. 

Wäre  die  gesellschaft,  für  die  Lichtenstein  sang,  noch  so 
gewesen,  wie  er  sie  sich  vorstellte,  noch  dieselbe,  dereu  letzte 
blute  er  in  seiner  ersten  Jugend  noch  miterlebt  hatte,  so  halle 
er  viel  mehr  beifall  linden  müssen,  als  es  geschehen  zu  seiu 
scheint'2.  denn  er  erfüllte  in  seiner  dichtuug  eigentlich  alle 
ausprilche,  die  man  an  das  ideal  des  rein  höfischen  miunesanges 
stellen  konnte,  ohne  dass  er  irgend  welche  ausprilche  stellte, 
die  über  das  geistige  vermögen  des  guten  durchschnitts  hinaus- 
gingen, was  Gottfried  als  epiker,  bedeutete  er  als  lyriker  :  das 
getreue  Spiegelbild  der  anschauungen  seiner  kreise. 

Das  ritterliche  elemen  t  im  höfischen  ideal  tritt  so  mächtig 
bei  ihm  hervor,  dass  man  nur  darauf  hinzuweisen  braucht,  die 
ethik  des  schildesamtes  ist  die  einzige,  die  er  kennt,  das  turnier 
ist  fast  eine  heilige  angelegenheit  (vgl.  die  beiden  üzreisen).  im 
übrigen  ist  er  der  mann  der  Convention,  der  Verehrer  der  zuht 
(xx),    der  es  fertig  bringt,    sogar  die  huote   und   die   merker  zu 

1  die  musikalische  composition  scheint  seine  starke  seite  gewesen  zu 
sein,  auch  ohne  bemerkungen  wie  die  erwähnten  könnten  wir  dies  aus 
dem  kunstvollen  bau  seiner  sehr  verschiedenen  Strophen  udgl.  schliefsen. 
vgl.  Scherer  Deutsche  Studien  i  48  anm.  1. 

2  und  doch  war  gerade  die  Steiermark  schon  sehr  früh  der  nährboden 
einer  ausgebildeten  ritterlichen  gesellschaft  gewesen,  vgl.  Schönbach  Die 
anfange  des  deutschen  minnesanges  s.  SO  ff. 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  S 


114  BRECHT 

preisen  *.  verlieren  diese  begriffe  bei  seiner  spielenden  Um- 
formung auch  ihren  alten  sinn,  so  ist  der  neue,  den  er  ihnen 
unterlegt,  erst  recht  ein  Zugeständnis  an  die  zuht,  und,  wie  man 
zugeben  muss,  eine  art  Vertiefung  der  tbeorie  von  der  huote 
(xvm).  praktisch  verhält  er  sich  gelegentlich  ganz  anders, 
ohne  sich  aber  irgendwie  eines  Widerspruchs  bewust  zu  werden, 
prachtvoll  naiv  wie  er  ist.  äufserlich  von  mehr  als  standes- 
gemäßer frömmigkeit,  macht  es  ihm  doch  gar  nichts  aus,  in 
seiner  frauenverkleidung  mit  dem  friedenskuss  bei  der  messe 
schnödes  spiel  zu  treiben  (179,  1  f).  er  preist  allen  segen  der 
kreuzfahrt  —  und  bleibt  zu  hause. 

Das  element  des  frauendien  stes  war  im  höfischen 
ideal  dem  ritterlichen  so  eng  verbunden,  dass  es  praktisch  kaum 
zu  scheiden  war.  nach  dieser  seite  hin  ist  erst  recht  nichts  zu 
denken,  was  über  Ulrichs  leistung  hätte  hinausgehn  können, 
die  fraueuverehrung  als  sittliche  tat  war  so  oft  von  den  dichtem 
empfohlen,  die  idealgestalten  der  heldenromane  so  nachdrücklich 
als  muster  aufgestellt  worden  2,  dass  man  sich  gar  nicht  wundern 
kann,  wenn  endlich  einem  phantastischen  köpfe  die  grenzen 
zwischen  poesie  uud  würklichkeit  verschwammen;  zumal  wenn 
er  wie  Ulrich  von  klein  auf  die  luft  der  chevalerie  geatmet 
hatte  3. 

"Wie  weit  hatte  doch  die  deutsche  lyrik  weggeführt  von  jener 
naiv-gesunden  auffassung  der  geschlechter,  wie  sie  beim  Küren- 
berger  begegnet  1  jener  hatte  lieber  'das  land  räumen'  wollen, 
als  sich  von  der  vrouwe  minnen  lassen,    jetzt  erklärt  der  Lichten- 

steiner: 

Der  diene  ich  also  miniu  j'dr  — 

swaz  so  ir  an  mir  missehaget, 

dem  ist  von  mir  gar  widersaget. 

geviel  ir  niht  min  zeswiu  hant, 

ich  slüeg  si  ab  bi  got  zehant. 

ich  wil  davon  niht  sprechen  vil  —  (27,  13f). 

Was  er  in  würklichkeit  ihretwegen  abschneidet,  ist  der  kleine 
finger  der   linken  hand,    der   doch    unbrauchbar    geworden    war. 

1  vgl.  Scherer  Littgesch.  s.  211. 

2  zb.  Thomasin  Welscher  gast  1041.  773.  1029.  6325.  vgl.  Scherer 
aao.  s.  223. 

3  vgl.  Schönbach  in  den  Biograph.  Blättern  u  33  ff. 


L'LHICll  VON  LICHTENSTEIN  US 

auch  dies  ist  schon  verstiegen  genug.     m)  selben  Btil  Bind  Be 

übrigen  Laien  für  seine  dame. 

Man  kann  deutlich  erkennen,  wie  die  kokett  abweisende 
baltung  der  dame ,  der  widerstand  der  anders  gewordeoea  w  «U 
ihn  auf  der  betretenen  bahn  nur  um  so  energischer  vorwärta- 
treibt.  ein  normaler  mensch  wäre  er  nur  im  reiche  des  kön 
Artus  gewesen;  in  einer  noch  ganz  höfischen  gesellschaft  wl 
er  immerhin  nicht  so  unterscheidend  aufgefallen;  der  umstand, 
dass  er  zwei,  drei  Jahrzehnte  zu  spät  auf  die  weit  gekommen, 
macht  ihn  zum  rom antiker,  zwar  hat  er,  wie  sich  aus  seiner 
aufserdichlerischeu  täligkeit  ergibt,  das  handelnde  leben  nie  aus 
deu  äugen  verloren;  im  privalleben  aber  wird  der  naive  versuch 
gemacht,  poesie  und  würklichkeit  zu  verschmelzen. 

Hierbei  kommt  es  in  der  tat  zu  einer  argen  verbiegung  der 
psyclie.  die  germanische  mafslosigkeil  macht  den  minneapostel 
zum  pedantischen  doctrinär.  der  rein  egoistische  kern  seiner 
minne  indessen  und  sein  doch  nicht  zu  ertötender  gesunder 
menschenverstand  bewahren  ihu  vor  dem  blindesten  fanatismus: 
von  der  versprochenen  kreuzfahrt,  durch  die  ihn  seine  dame  nur 
los  werden  will,  weifs  er  sich  in  der  artigsten  weise  zu  drücken, 
winkt  aber  nur  die  leiseste  hoffnung  auf  erfolg,  so  fasst  er  die 
abenteuerlichsten  entschlösse  ohne  weitere  Überlegung,  ohne  jeden 
seelischen  kämpf  (zb.  138,  25  f.  328,  1  t).  das  beständige  be- 
dürfnis  pathetischer  Steigerung  des  lebens  ermöglicht  alles,  schickt 
ihm  die  dame  einen  brief  mit  der  unzweideutigsten  absage,  so 
bringt  ihn  das  nur  zu  noch  trotzigerer  selbstqual :  nu  dar!  nu  dar! 
nu  dar!  swie  mir  diu  reine  süeze  tuot,  daz  muoz  von  rehl  mich 
dünken  guot  (61,  4 ff),  über  das  geringste,  zweifelhafteste  zeichen 
von  huld  gerät  er  in  unnatürliche  freude  (zb.  156,  G IT),  die 
einzige  ideale  lebensmacht,  die  er  kennt,  ersetzt  alles  andere,  er 
bringt  sie  mit  dem  höchsten  in  Verbindung  :  Got  hdt  mich  in  ir 
dienert  brüht,  so  begründet  er  seine  Venusl'ahrt  (156,  29);  Gott 
will  den  minnedienst  (379,  21—  30)  K 

1  die  anrufung  Gottes  spielt  bei  L.  die  gröste  rolle,  von  der  nichts- 
sagenden redensart  angefangen  bis  zum  poetischen  wünsch  und  zur  naiven 
Überzeugung,  nu  helf  mir  got,  daz  ich  ir  tuo  den  dienest  schin  58,  17. 
daz  wetz  got  wol  105,  11;  Got  weiz  wol  585,  7.  got  vor  sorgen  mich 
oehüele  421,  14;  vor  ir  zürnen  mich  behüete  got  446,  27.  Got  füege 
mirz  ze  guole  422,  21.  449,  25.     got  den  grozen   kumber  wende  555,  29. 


116  BRECHT 

Wahres  und  falsches  gefühl  gehen  scliliefslich  ununlerscheid- 
bar  durcheinander,  selten  ist  die  empfindung  so  unzweifelhaft 
echt  wie  bei  der  erzählung,  wie  er  im  kerker  zum  letzten  male 
den  leib  des  herrn  nimmt  (543,  27  f). 

Reminiscenzen  an  Situationen  hotischer  romane  spielen  so 
häufig  auch  an  nebensächlichen  stellen  in  die  erzählung  des  FD 
hinein,  dass  ich  es  für  verfehlt  halte,  überall  absichtliche  fälschung 
zu  wittern,  der  versuch  des  hyperkritischen  Becker,  hier  'Wahr- 
heit und  dichtung'  scheiden  zu  wollen,  war  einer  so  phantasie- 
vollen natur  gegenüber  von  vornherein  aussichtslos,  auch  waren 
die  romane  in  vieler  beziehuug  ja  nur  verklärte  Spiegelbilder  des 
würklichen  ritlerlebens,  das  für  uns  genug  sonderbares  enthält: 
wer  will  da  genaue  grenzen  ziehen?1 

Am  rätselhaftesten  bleibt  für  uns  das  Verhältnis  L.s  zu  seiner 
gatlin.  man  hat  oft  anstofs  daran  genommen,  wie  nebensäch- 
lich er  von  ihrer  existenz  künde  gibt,  indem  er  bei  erzählung 
der  Venusfahrt    auch    den    zweitägigen    besuch    bei    ihr   erwähnt 

got  in  [den  hohen  muot]  uns  behüete  566,  6  ;  got  beMiete  mir  ir  lip  usw. 
567,  10.  Din  er  hab  got  in  siner  pßege  131,  25.  Got  geb  daz  ich  si 
noch  vinde  422,  6f.  got  gehe  dir  guolen  morgen  518,  1.  got  der  hat 
mich  wol  beddht  mit  so  reinem  siiezen  wibe  449,  16.  got  hat  sinen  vliz 
an  dich  geleit  536,  25,  ähnlich  576,  20.  das  stärkste  :  Got  si  mir  als  ich 
ir  s({!)  406,  25  f. 

1  hat  zb.  Ulrich  bei  erzählung  der  lehren,  die  ihm  markgraf  Heinrich 
von  Istrien  gibt  (9,  13 ff),  an  den  edeln  Gurnemanz  gedacht  oder  nicht?  — 
Das  zuverlässigste  sind  immer  die  lieder.  es  lässt  sich  bemerken,  dass  er 
auch  die  Charaktere  der  erzählung  im  sinne  der  lieder  färbt.  374,23(1, 
nach  dem  burgabenteuer,  legt  er  seiner  ersten  dame  seine  eigenste  an- 
schauung  in  den  mund: 

Ich  weiz  daz  wol,  sivie  lump  ich  bin, 

daz  trüriges  rillers  lip 

erwirbet  nimmer  werdez  wip. 

sivelch  wip  ir  Iwt  ertrüren  an 

ir  minn,  dest  vasle  misseldn. 

vgl.  zb.  428,  13  ff  (xxvn): 

Wie  sol  ein  ungemuoler  man 

erwerben  höchgemuoles  wibes  habedanc? 

wil  er  ir  daz  ertrüren  an, 

daz  si  in  minne,  so  ist  sin  lumber  wdn  vil  kraric. 

ir  höchgemuoles  herzen  rät 

sin  trüren  hat  für  misseldt     usw. 


ÜLItlt  II    VMN   LH'in  i:\SH. L\  l  17 

(222,  1 11' j.     nicht   laoge  danach   kommt  er  auf   zeho  tage  wider 

zu  ihr: 

Zuo  der  vil  lieben   honen   min. 

diu  künd  mir  lieber  nilit  yesin, 
swie  ich  doch  hei  ilbr  minen  Up 
ze  vrowen  du  ein  ander  wip  (318,  25  f). 
wie  s.di  es  eigentlich  in  ihm  aus?  es  müssen  zwei  ganz  ver- 
schiedene gefühle  gewesen  sein,  die  er  in  sich  nii^.  denn  wir 
haben  gar  keinen  grund,  der  widerholten  Versicherung  seiner 
galtenliebe  zu  mistrauen  (die  zwei  eisten  verse  schon  bei  dem 
ersten  besuch),  noch  einmal  kommt  er  bei  der  erzählung  seiner 
gefangennebmung  auf  seiner  eignen  bürg  kurz  auf  diu  guote  zu 
sprechen.  Freytag  (Bilder  a.  d.  deutschen  vergangenheil5  u  30) 
hat  ihm  sehr  verdacht,  dass  er  in  der  ludesangst  des  kerk 
an  seine  dame  ein  lied  dichtet,  wahrend  seine  Trau  das  llilcht- 
lingsbrot  verzehren  muss.  in  der  tat  spricht  er  von  ihr  mit 
keinem  worte;  dass  er  ihrer  nicht  gedacht  habe,  wird  dadurch 
iu  keiner  weise  erwiesen,  hier  ist  eine  der  vielen  stellen  des 
Fl»,  wo  die  macht  des  höfischen  Stiles  in  anschlag  ge- 
bracht werden  muss.  die  gedanken  an  die  gattin  sind  unhöGsch; 
darum  hat  er  keinerlei  Veranlassung,  sie  hier  mitzuteilen,  ebenso 
nie  er  überhaupt  von  seinem  eheleben  schweigt,  wie  er  im 
ganzen  FD  nur  die  höfische  seile  seines  reichen  lebens  dar- 
stellt, zu  leicht  ist  moderne  Vorstellung  geneigt,  seine  von 
strengem  Stilgefühl  dictierte  aus  wähl  als  vollständige  memoiren 
aufzufassen. 

Aber  gesetzt  auch,  es  wäre  kein  herzliches  Verhältnis  ge- 
wesen was  er  verschweigt  :  so  ist  es  doch  wider  nur  modern, 
daran  anslofs  zu  nehmen,  auch  Freytag  ist  hier  einer  uu- 
historischen  aulfassuug  erlegen,  er,  der  uns  gerade  das  wesen 
der  mittelalterlichen  ehe  und  ihre  Vertiefung  durch  die  reformatio!» 
so  schon  auseinandergesetzt  hat.  neben  einer  miuniglichen 
Schwärmerei  kann  bei  Ulrich  sehr  wol  eine  ehrliche  neigung 
zu  seiner  hausfrau  hergegangen  sein,  übrigens  ist  seine  theorie 
consequent  genug,  der  frau,  die  sich  schlecht  behandelt  (nicht 
etwa  'ungeliebt')  fühlt,  den  ehebruch  zu  erlauben,  falls  sie  es 
nicht  lieber  um  Gottes  willen   lässl  iFil  623,  5  ff). 

Unter  dem  einflusse  seines  ideals  und  seiner  eignen  dich- 
terischen tätigkeit  entwickelt  sich  Lichtenstein  immer   mehr  zum 


HS  BRECHT 

artisten,  der  erlebt  um  zu  dichten,  er  leistet  alles  was  der 
stil  des  liebesromans  von  ihm  verlangt,  in  der  lyrik  wie  im 
leben,  wahrend  des  ersten  Verhältnisses  singt  er  muntere  und. 
ernste,  hoffende,  schmachtende,  ängstliche  lieder,  alle  mehr  oder 
minder  von  gesellschaftlicher  hallnng.  nachdem  die  dame  ihn 
endgiltig  abgewiesen,  benutzt  er  das  Unglück  gleich  zu  einer 
reihe  obligater  schell-  und  klagelieder;  während  seiner  erotischen 
vacanz  nimmt  er  die  gelegenheit  zu  wdnwisen  wahr,  beim  ein- 
zug  der  neuen  herzenskonigin  darf  das  begrüfsungsgedicht  (xxxn) 
nicht  fehlen,  gespräche  mit  ihr  werden  sofort  lyrisch  verwertet 
(s.  o.).  kleine  huldbeweise  der  dame,  ein  wort  von  ihr,  ihr 
lachen  dürfen  nicht  unbedichtet  bleiben,  das  kerkerlied,  bei  ein- 
fallender gelegenheit,  versieht  sich  fast  von  selbst,  als  im  laufe 
der  jähre  das  neue  Verhältnis  mit  seiner  frische  auch  seine  an- 
regende kraft  allmählich  einbüfst,  muss  es  zu  minnedidaktischen 
belrachtungen  und  litterarischen  experimenten  (tagelieder)  her- 
halten, ihm  verdanken  wir  schliefslich  —  wenn  Ulrich  anders 
keine  fiction  vorbringt  —  die  abfassung  seiner  beiden  bücher. 

Auf  was  es  bei  alledem  schliefslich  ankam,  sagt  er  selbst 
deutlich  genug: 

Min  minne  gernder  höher  muot  — 
er  machet  mir  die  teile  unlanc  (515,  4f). 
die  grundlage  dieser  auffassung  ist  schon  früh  vorhanden,  be- 
reits i.  j.  1225  betont  er,  wie  gleichgiltig  es  ihm  sei,  ob  ihn 
die  herrin  gut  oder  schlecht  behandle  (129,  1  f ).  er  gibt  sich 
damit  den  anschein  uneigennütziger  treue  :  in  würklichkeit  ist 
—  man  denke  an  die  scheltlieder  —  seine  'minne'  durchaus 
egoistisch. 

Denn  von  vornherein  war,  aller  pathetischen  beteuerungen 
ungeachtet,  seine  minne  ein  spiel  gewesen,  ein  sport  der  ritter- 
lichen phantasie.  er  macht  sich  frei,  als  er  die  Unmöglichkeit 
einsieht,  das  recht  sinnlich  gedachte  ziel  zu  erreichen,  unter- 
dessen aber  war  ihm  die  ausfüllung  des  innern  durch  ein  minne- 
verhältnis  —  ob  eingebildet  oder  nicht  —  zum  bedürfnis,  die 
von  der  minnetheorie  fast  geforderte  verstiegenheit  zur  natur  ge- 
worden, er  ist  so  glücklich  eine  zweite  dame  zu  finden,  im 
laufe  des  jahrzehntelangen,  offenbar  ganz  platonischen  Verhält- 
nisses entwickelt  sich  sein  verstiegener  idealismus  allmählich  zur 
harmlosen    schrulle,    die    von    den    unhöfisch    gewordenen    zeit- 


ULB1CU  VON  LICHTENSTEIN 

lossen  gewis  viel  belachl  worden  ist,  wie  schon  seine  Jugend- 
streiche l. 

Ks  ist  leicht,  Ulrich  einen  narren  eu  schelten;  Beine  kraft 
das  leben  zu  stilisieren  ist  bewundernswürdig.  Bein  minne- 
leben ist  recht  ein  beweis  för  den  ungeheuren  culturwerl  der 
mini,  poesie.  auch  in  der  absurden  Qbertreibung  verleugne!  Bich 
die  beneidenswerte  gescblossenheil  der  höfischen  Weltanschauung 
nicht,  wie  unbeschränkt  muste  ihre  macht  sein,  wenn  sie  einen 
formbegabten  menschen  am  ende  ihrer  blötezeil  so  beherrschen 
konnte,  dass  er  wie  selbstverständlich  sein  lebensgeföhl  nach  ihr 
einstellte;  wie  grofs  der  wert,  den  ihre  Vorstellung  vom  vornehmen 
menschen,  <lie  sich  in  <ler  litteratur  ihren  ausdruck  und  ihr  Werk- 
zeug geschaffen,  1'iir  eine  einheitliche  lebensauffassung  besafs2. 

Es  ist  sitte  geworden,  Lichtenstein  den  mittelhochdeutschen 
Don  Quichote  zu  nennen;  aber  der  naheliegende  vergleich  be- 
zeichnet nur  eine  seile  seines  wesens.  seine  hohe  eultur  und 
sein  strenger  stil  kommen  darin    nicht  genügend    zum  ausdruck. 

Noch  viel  weniger  aber  seine  politische  persönlichkeit. 
sein  uns  wolbekanntes  wflrken  zeigt  ihn  als  das  gegenteil  eines  Don 
Quichote,  als  einen  realpolitiker  von  gefährlicher  Verschlagenheit3. 

Wie  ist  das  möglich?  der  rubrer  (\cs  frondierenden  stei- 
rischen ' adels,  tler  landesbauptmann  und  oberste  landriebter  die- 
selbe  persönlichkeit  wie  der  fast  pathologisch  zu  nennende  phan- 
tastische minnesinger?  verschiedene  antworten  auf  diese  fr 
sind  versucht  worden.  Falke  meinte  (aao.  s.  58)  :  'das  phan- 
tastische rilterlum  bildet  die  erste  halfte  seines  lebens,  das  prak- 
tische die  zweite,  und  der  dichter  ligt  allenfalls  dazwischen', 
wie  wenig  diese  erklärung  zutrifft,  hat  Becker  gezeigt,  indem  <t 
(Wahrheit  und  dichtung  etc.  s.  102)  darauf  hinwies,  dass  die  an- 
fange von  Ulrichs  politischer  täligkeit  schon  in  seine  Jugend 
lallen,  ferner  lä'sst  sich  Ulrichs  dichtung  keineswegs  nur  auf 
eine  Zwischenperiode  seines  lebens  beschränken;  die  lieder  der 
/weiten  minne  fallen  grofsenteils  gerade  in  politisch  sehr  be- 
wegte jähre,  ebenso  die  abfassung  seiner  beiden  grofseren  werke. 
Beckers  eigene  erklärung  freilich  bietet  noch   weniger  einen  aus- 

1  vgl.  Roethe  s.  36  nebst  anm.  72.  2    wieviele    dichter   sind   im 

19jh.  bei  un9  am  mangel  solcher  einheitlichen  eultur  zu  gründe  gegangen! 

3  vgl.  vFalke  Geschichte  des  fürstl.  hauses  Liechtenstein  i,  abschn.  ii; 
Schönbach  Biograph.  Blätter  ii;  Walther  vdVogel weide  s.  44. 


120  BRECHT 

weg;  das  'bild  des  überspannten  minnetoren'  einfach  für  eiu 
'reines  phantasiegebilde,  ersonnen  zu  scherzhafter  (!)  Unterhaltung' 
zu  erklären,  heifst  einen  starken  psychologischen  irrtum  begehn. 
wo  bleibt  dabei  allein  das  von  Becker  (s.  95,  96)  selbst  für  un- 
verdächtig erklärte  Zeugnis  der  lieder? 

Ich  glaube,  die  lösung  oder  richtiger  die  aufhebung  des 
problems  ligt  in  zwei  von  mir  bereits  hervorgehobenen  momenten. 

Das  eine  ist  die  intensität  der  litterarischen  cultur, 
die  Ulrich  als  ein  erbe  der  zu  ende  gelinden  blüteperiode  vor- 
fand, ihre  gewaltige  würkung  im  einzelnen  haben  wir  gesehen, 
culturwerte  um  die  der  grofsvater  gerungen,  erleichtern  dem 
eukel  das  leben  ohne  dass  er  es  merkt,  als  Ulrich  zu  dichten 
begann,  lag  die  formenweit  der  höfischen  lyrik  um  ihn  herum 
zum  gebrauch  fertig  da;  war  die  dichtersprache  durch  vielfältige 
Übung  so  ausgebildet,  dass  sie,  ähnlich  wie  am  ende  des  goelhi- 
schen  Zeitalters,  fast  selber  für  den  poeten  dichtete,  war  der 
poet  gar  ein  formtalent  von  der  stärke  Lichlensteins,  so  ist  es 
klar,  dass  zur  hervorbringung  einer  lyrik  wie  der  seinigen  keine 
aufwühlung  des  gesamten  innenlebens  nötig  war,  die  alle  seelen- 
kräfte  absorbierte,    dergleichen  konnte  nebenher  gemacht  werden. 

Hier  greift  als  zweites  der  begriff  des  vornehmen  Sportes 
ein.  dies  ist  nicht  so  zu  verstehn,  als  ob  nicht  ein  teil  von 
Ulrichs  seele  an  diesem  sport  gehangen  hätte;  aber  sport  ist 
nicht  die  haupttätigkeit  im  leben  eines  ernsthaften  manues. 
Lichtenstein  dichtete  seine  verse  —  die  ihm ,  wie  wir  gesehen 
haben,  so  leicht  wurden  — ,  weil  es  vom  höfischen  standpunct 
aus  für  einen  ritter  neben  dem  turuieren  die  standesgemäfs  vor- 
nehmste beschäftigung  war.  wer  es  irgend  vermochte,  für  den 
war  es  nur  anständig. 

Dem  philologen,  der  von  allen  taten  Lichlensteins  nur  noch 
den  Frauendienst  greifbar  vor  sich  sieht,  ligt  die  Versuchung 
nahe,  seinen  Verfasser  ausschliefslich  oder  doch  in  erster  linie 
als  dichter  aufzufassen,  dies  entspricht  aber  keinesfalls  der  würk- 
lichkeit.  unsere  Vorstellung  vom  künstler  der  nur  künstler  ist, 
ist  dem  mittelalter  fremd;  sie  stammt  aus  der  renaissance,  in 
ihrer  modernen  panegyrischen  auspräguug  gar  erst  aus  der  genie- 
zeit1.  Ulrich  war  ein  grand  seigueur,  der  feudale  Standespolitik 
trieb  und    sich    in    ernsten    und    nichtigen    fehdeu    herumschlug 

1  vgl.  auch  Burdach  s.  27  f. 


ULRICH  VON  LICHTEINSTEIIS  121 

wie  jeder  seiner  Bundesgenossen,  von  denen  <■!•  sich  kaum  unter- 
schieden gefühlt  haben  wird;  liehen  den  geschälten  dichtete  er 
seine  zierlichen  lieder,  aus  privater  liebhaberei,  auch  liier  als 
vornehmer  herr,  der  weil  entfernt  ist ,  dergleichen  für  seine  wich- 
tigste  tätigkeit  zu   halten,      dass   er  in   seiner  Jugend   mehr  mufse 

und  Inst  dazu  halte  als  später,  ist  nur  natürlich,  immerhin  kann, 
wer  so  verschiedene  Lätigkeilen  so  lebensvoll  zu  vereinigen  ver- 
stand, kein  unbedeutender  mensch  gewesen  sein. 

Ohne  das  gefilhl  eines  inneren  Zwiespaltes,  freilich  in  ganz 
anderer  richtung,  ist  auch  diese  unbekümmerte  nalur  nicht  ge- 
blieben, schon  den  55 jahrigen  mann  packt,  wie  die  schluss- 
partien  des  FD  (589,  19 — 591,  2,  ähnlich  auch  im  FB)  zeigen, 
die  reue  des  mittelalterlichen  menschen  über  sein  verfehltes 
weltliches  leben,  eine  folge  des  schroffen  dualistischen  supra- 
uaturalismus  der  kirche  l.  die  merkwürdigen  bekenntnisse  kliugen 
zu  überzeugend  in  ihrer  naivetat,  als  dass  sie  nur  für  litterarische 
bescheidenheitsphraseu  gellen  könnten,  er  spricht  von  den  mafs- 
losen,  die  alle  vier  guter  zusammen  haben  wollen,  yotes  hulde, 
ire,  gemach  und  yuot ,  und  damit  nur  das  fünfte  erwerben  — 
daz  versümte  leben  :  derselben  bin  ich  einer  gar.  und  er  klagl 
über  sein  schrankenlos  wünschendes  heiz,  er  halte  wol  recht 
sich  so  zu  beurteilen. 

Aber  er  setzt  auch  das  geständnis  hinzu: 

der  selbe  wdn  mich  triuget  noch, 
und  bin  dd  mit  geeffet  doch, 
er  fühlt,    dass    er   vom    höfischen    ideal    nicht    mehr    loskommen 
wird,     und  in  der  tat  ist  das  zwei  jähre  spater  gedichtete  Frauen- 
buch wider  voll  davon. 

Hier  fällt  uns  wüiklich  Don  Quichole  ein,  aber  als  widerspiel, 
nicht  als  analogou.  den  kastilischen  miuneriller  lässt  Cervantes 
vor  dem  tode,  nach  einer  schweren,  läuternden  krankheit,  die 
nichtigkeit  aller  ideale  einsehen,  denen  er  sein  leben  geweiht  hat. 

1  Freytag  hat  (aao.)  bei  seiner  entgegengesetzten  behauplung  diese 
confessionen  übersehen,  seine  lebendige  Charakteristik  (in  bd  i  u.  n)  wird 
Liehtenstein  überhaupt  nicht  ganz  gerecht,  wenn  sie  auch  längst  nicht  so 
einseitig  ist  wie  die  ganz  verunglückte  von  Gervinus  (Gesch.  d.  poet. 
nationalütt.8  i  342iTj.  —  zu  obigem  vgl.  i.  allg.  vEicken  Gesch.  u.  System 
der  mittelalterlichen  Weltanschauung,  jene  typischen  reuezustände  als  folgen 
des  von  ihm  so  consequent  dargestellten  dualismus  hat  vEicken  übersehen.  — 
Lichtensteins  weltliche  auffassung  der  kreuzfahrt  weist  er  s.  71011'  treffend  nach. 


122  BRECHT  ULRICH  VON  LICHTENSTEIN 

Der  vollkommenste  gegensatz  dazu  ist  Casanova,  der  be- 
rühmte frauenverehrer  des  ancien  regime,  in  rein  erotischer 
sphäre  vielleicht  der  vollkommenste  ausdruck  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  (1725  —  1798).  er  stirbt  als  der  der  er  gewesen. 
völlig  versteint,  verhöhnt  von  den  kindern  einer  von  grund  aus 
veränderten  weit. 

Zwischen  beiden  steht  Ulrich  von  Lichtenstein. 

INHALTSVERZEICHNIS. 

Einleitung 1 

Erstes  capitel  :  motive. 

i  Lieder  der  ersten  minne       2 

II  wdnwisen 13 

in  Lieder  der  zweiten  minne 16 

Gruppen  aufeinanderfolgender  lieder  :  xxxiv — xxxvn  s.  18.  lie- 
beslieder  sinnlicher  färbung  s.  22.  hoher  mwoMieder  s.  23. 
lieder  von  der  gefangenschaft  s.  25.  lieder  über  schaene  — 
giiete  s.  27.     sinnliche  lieder  s.  29. 

Ergebnis 31 

Zweites  capitel  :  composition. 

A.  Lieder  mit  gleichmäßiger  structur 34 

B.  Sich  steigernde  oder  zuspitzende  lieder 35 

C.  Lieder,  die  allgemeines  und  persönliches  zusammenstellen  .     .     36 

a.  Minnelehre  und  Ulrichs  persönliche  minne 37 

b.  Zustand   der  natur  oder  menschenweit  und  Ulrichs  persön- 
licher zustand 40 

D.  Symmetrisch  gebaute  lieder 41 

a.  Dreiteilige  lieder 42 

b.  Vierteilige  lieder 49 

c.  Fünfteilige  lieder 52 

E.  Episch-lyrische  lieder 58 

Ergebnis 60 

Drittes  capitel  :  Stil  des  poetischen  ausdrucks. 

Anapher 64 

Epipher 70 

Antithese 71 

Häufung,  synonyme,  asyndeton 72 

Breite 76 

Allitteration  und  assonanz 78 

Lebhaftigkeit  der  rede 79 

Voranstellung  u.  parenthese  s.  79.  ausruf  s.  81.  frage  s.  83. 
apostrophe  s.  85. 

Personification 91 

Bilder 92 

Ergebnis 95 

Viertes    capitel   :   Ulrichs    litterargeschichtliche    Stellung 
und  sein  dichterischer  character. 
Ulr.s  litterargeschichtl.  Stellung  s.  96,  Verhältnis  insbes.  zu  Reinmar 
s.  97,  zu  Walther  s.  102,  zu  andern  s.  107.     nachwürkung  s.  109. 
Charakteristik 109 

Göttingen,  im  sommer  1906.  WALTHER  BRECHT. 


TÜBINGEN  PARZIVALBRUCHSTUCK. 

i    EINLEITI  NG. 
Unser  bruchstück  füllt  ein  pergamenldoppelblatt.    die  höhe  des 

Itlatles  ist  23'/„  cm,   die   breite  I.V..  cm.     die  seile  ist  zweispaltig 
geschrieben  mit  regelmd/sig  40  abgesetzten  versen  in  der  spalte,    die 

verse  steh»  zwischen  linien.  je  in  der  linken  spulte  siml  die  ini- 
tialen durch  senkrechte  linien  von  den  folgenden  buchstaben  getrennt 
und  hiezu  etwas  abgerückt,  die  initialen  sind  rot  bei  ">7,  29; 
58,  27;  59,  27;  60,  27;  Gl,  29;  62,  29;  63,  27;  64,  27; 
65,  2'.»:  67,  5.  das  fragment  stammt  aus  dem  an  fang  des  \\  j'h.s, 
ist  gut  erhalten  und  deutlich  geschrieben,  es  war  eingehlebt  auf 
die  innenseite  des  hinteren  deckeis  einer  folioausgabe  der  Sermoues 
de  tempore  des  Jacobus  de  Voragine,  s.  I.  e.  a.,  vermutlich  aus  dem 
anfang  des  16  jh.s.  dort  wurde  es  von  stud.  Benz  aufgefunden 
und  sorgfältig  losgelöst,  der  decket  zeigt  noch  reichlichen  al>- 
klatsch.  der  foliant  gehurt  heute  der  bibliothek  des  k.  (kath.  theol.) 
Wilhelmsstifts  in  Tübingen  (Signatur :  Gb  676)  und  war  laut  ver- 
merk auf  dem  titelblatt  früher  im  besitz  des  Carmeliterklosters  in 
Heilbronn,  dessen  bibliothek  muss  einmal  recht  beträchtlich  gewesen 
stin  (s.  Phil.  With.  Gerekens  reisen  durch  Schwaben,  178'!,  i  31). 
ihre  bände  sind  an  mächtigen  schwarz  umrandeten  initialen  auf  dem 
rücken  kenntlich,  teile  der  bibliothek  sind  heute  der  k.  landes- 
bibliothek  in  Stuttgart,  der  Universitätsbibliothek  und  der  bibliothek 
des  Wilhelmsstifts  in  Tübingen  einverleibt,  in  keinem  der  dort 
befindlichen  bände  war  aber  ein  weiteres  stück  unserer  Handschrift 
aufzufinden,  die  blätler  gehören  auch  mit  keinem  der  in  Martins 
ausgäbe   beschriebene)!  bruchstücke  zusammen. 

Da  der  lext  von  einer  hälfte  des  doppelblatts  zur  anderen  fort- 
läuft, so  war  dieses  das  innerste  einer  läge,  waren  die  voraus- 
gehnden  blätler  in  gleicher  iceise  beschrieben,  so  verteilten  sich  die 
vorausgehenden  1684  verse  auf  10  blau  (1600  v.)  -f-  1  volle 
seile  (80  v.)  -4-  1  seile  mit  4  versen,  also  1 1  blatt.  zusammen 
mit  dem  ersten  blatt  des  bruchslücks  ergeben  sich  12  blatt ,  die 
läge  enthielt  somit  8  blatt  =  4  doppelblatt. 

Zur  Orthographie  und  lau  tlehre. 

1)  Zum  rocalismus.    ii  ist  als  a  geschrieben :  harmin  64.29, 

massenie  65,  13  gegen  e  in  hermen  59,  8,    mernere  58,  24.    — 

se  erscheint  durchweg  als  e  :  were  58,  19,   queme   61,  21,  swere 

62,  13,     mere    60,  18.    62,  14   usw.    —    statt   ie   mehrfach  i  : 


124  BOHNENBERGER  UND  BENZ 

iglich  59,  7;  61,  25;  04,  30,  banir  :  fir  59,  7,  wi  59,  21, 
idoch  03,  7,  tloytiren  63,  8,  schire  03,  30,  lichten  04,  4,  tyr  : 
soldir  64,  19,  licht  64,  29,  lichte  65,  14.  umgekehrt  ie  vereinzelt 
für  j,  I :  geziembret  65,  1,  Hardiez  :  fliez  65,  5.  —  statt  üu  regel- 
mäßig oi  :  toifeo  57,  7,  froide  57,  10,  soymer  60,  4;  Gl,  14. 
hierzu  auch  hoibz  03,  22,  zoiber  00,  4.  —  ou  erscheint  als  ou, 
ü,  o  —  uo  ist  in  der  regel  als  ü  oder  mit  weglassung  des  über- 
geschriebenen Zeichens  als  u  geschrieben,  letztere  Schreibung  überwigt 
beträchtlich  (58,  6.  11.  12.  15.  16.  21;  59,  30;  61,  2.  9. 14.  20  usw.). 
umgekehrt  mehrmals  ü  für  u  :  wünders  57,  17,  kümt  02,  26,  Ga- 
uiüret  64,  15,  je  1  mal  üe  und  o  für  uo  :  mtiemen  64,  22,  armote 
62,  24.  ob  beeinßussung  der  ausspräche  durch  den  benachbarten 
nasal  oder  nur  nachlässige  Schreibung  vorligt,  ist  nicht  zu  ent- 
scheidend   üe  als  ue  (64,  27.  28;  66,  14)  häufiger  als  u  (63,  23; 

64,  15.  25;  65,  28;  66,  22),  dafür  ü  :  snüre  61,  17.  —  iu,  alter 
diphthong,  meist  als  iu  (liuteu  59,  17  usw.) ;  u  (du  57,  19,  uch 
59,  26).     auch   der  timlaut   von  ü   einmal  als  u  :  truden  59,  18. 

—  ei  aus  egi  Amol:  geiu  66,  12.  13,  seile  58,  20;  62,  17  {aber 
sagete  02,15;  64,1;  60,21,  legete  63,13.  vgl.  dazu  Zwierzina 
Zs.  44,  355). 

Totale  der  nebensilben,  synhope  und  apokope.  die 
ursprünglichen  Verhältnisse  sind  vielfach  durch  Umbildungen  aus  ana- 
logie  gestört,  darüber  nachher  bei  der  declination.  vortoniges  e  ist 
unterdrückt  in  glich  60,13,  bleip  64,17.  im  verbum  ist  die  apokope 
bewahrt  in  verkur  :  verlur  58,  9,  synkope  in  geuarn  61,  28,  gegen 
gerent  :  werent  67,  3.  fälschlich  steht  e  in  trüge  58,  21.  neben 
ec  erscheint  vielfach  ic,   vorhersehend  in  manic  (manegen  60,  12; 

65,  29),  dagegen  öfter  kuuec  als  kunic  und  durchweg  kunegin. 
adjeelivisches  en  <  in  :  sideu  58,  5,  hermeu  59,  8  gegen  barmio 
64,29.  im  Substantiv  nur  1  mal  kunegeo  61,29  gegen  Amal 
kunegin  57,  19;  60,  9;  62,  25;  64,  12  und  dazu  kuueginue  61,  3; 
67,  10,  kuneginnen  04,  5.  —  vortoniges  i  in  inein  57,  17  und 
irkande  58,  28,  sonst  :  ubir  03,  6,  zobil  63,  24.  an  sonstigen 
vocalen  a  in  btrival  63,  15  und  mit  neuer  anlehnung  an  mau 
nieman  62,  2.    statt  agelsler  wie  auch  anderwärts  ageleisler  57,  27. 

—  mit  ze  wechselt  zu. 

2)  Zum  consonantismus.    t  und  d  sind  in  der  mehrheit 

der  fälle  richtig  geschieden,  aber  auch  mehrfach  verwechselt  :  turtel- 

[r  der  g rund  ist  die  graphische  Jiachbarschaft  eines  nasals!   Seh.] 


TÜBINGER   PARZIVALBRÜCHSTÜI  K 

dube  57,  11,  dateo  58,  4;  60,  23;  61,  7:  irudeü  5'.).  18,  beiden 
05,  20,    dochter  66,  9,    lach  60,  0.    i«./  03,  3,  ton  03.  7.  legen 

63,  13;  04,7;  lach  63,22.  —  I'.  pf,  g,  k  sind  im  «miaut 
und  infaiit  nach  ostfrdnkischer  weise  behandelt,  im  auslaut  ist 
forlis  regel.  «loch  erscheinen  einige  l>  statt  p  ■.  lil»  57,  5;  63,  19; 
65,  3,  gab  63,  24,  wib  00,  8.  unter  <lm  consonantengruppen  wird 
ulirl.  Il  nh  ll  geschrieben,  nt  meist  als  ml,  nur  mantel  63,  23  und 
bei  ursprünglich  doppeltem  i  gante  59,20,  sanier  05,  11.  —  mbr 
aus  mr  :  geziembrel   65,  1.  —  h  zwischen  vocalen  :  frühe  66,  22. 

Zu  den   namen  und  fremd  Wörtern. 

Gabmurel  regelmä/sig  ohne  h  :  Gamuret.  Belacane  mit  ch  -. 
Belachane  58,  S;  Gl,  12.  Brabanl  mit  p  und  u  :  Prauanl  07,  23. 
ili  in  Pathelamunt  04,  17,  Cilhegast  07,  15.  —  au  in  paulun 
regelmdfsig  (59,  25;  02,  18;  05,  10).  —  oi,  oy  in  Logroys  : 
Ponturtoys  07,  15,  tournoy  00,  11,  kurloys  :  franzoys  02,  3, 
avoy  02,  18;  05,  2,  Qoytiren  03,  8.  —  weiter  notier  ich  Fereßez 
57.22,  Kauoleis  59,24,  Razaliges  64,  10,  Britun  05,29,  Nor- 
man 05,  12,  Gawen  66,  15.  in  zost  für  tjost  (57.  24;  05,9) 
könnte  z  für  li  lese/eitler  sein,  es  ist  aber  wahrscheinlicher,  dass 
/n>t   den   anderwärts  belegten  formen   schust,    tsebusehl   entspricht. 

Zur  flexion  sie  Inc. 

Substantiv,  im  nominaliv  des  Singulars  ist  <•  hinter  nach- 
tonigem er  stets  entfernt  (ritter  03,  28;  04,  18.  21  ;  07,  5)  außer 
in  der  correclur  ritlere  05,  24.  neben  herre  59,  29;  63,  11  ein- 
mal her  00,  1.  —  dative  ohne  e  zu  ebensolchen  nominativen  auch 
nach  haupltoniger  silbe  verschiedener  Quantität  beliebigen  auslaut s  : 
got  57,17,  plan  (ace.)  :  wao  (dat.)  59,  20,  Gamuret  04,15, 
iar  :  uorwar  60.  7,  lor  00,  29,  auch  bei  6-stamm  !»et  (:  Gamuret) 

64,  10  gegen  mernere  58,24.  —  genetiv  mit  e  :  speres  59,  12, 
aber  hinter  nachtonigem  er  ohne  e  :  ritters  00,  23;  06,  21,  wumlers 
57,  17,  wazzers  00,  28,  sonst  hoibz  03,  22.  —  im  plural  für 
nominativ  und  aecusativ  hinter  nachtonigem  er  formen  ohne  e  die 
regel  :  anker  59,  S  (acc),  soymer  00,  4  (acc),  61,  14  (nom.),  ritter 
05,27  (nom.),  entsprechend  striual  63,  15  (acc),  aber  mit  e  videlere 
03.  12  (nom.).  genetiv  rilter  05,  28,  dativ  ven Stern  01,  4  und 
unmittelbar  hinter  dem  ton  spern  00,  8  gegen  speren  59,  5;  Gl,  24. 
00,  24.  —  bei  den  femininen  \-st.  die  genetiv-,  dativ-  und  aecusativ- 
formen  zt.  vermengt,  genetiv  mit  e:  botschefte  58,  19;  dativ  mit  e: 
rilterschefte  57,  13;  06,  10,  bende  57,  24,  sigenunfte  58,  2  usw., 


126  BOHNENBERGEB  UND  BENZ 

aber  auch  rilterscbaft  59,  1,  flust  60,  21,  hant  60,  14,  craft 
67,  4  wie  bat  :  slat  (dat.)  60,  2;  67,  9.  accusaliv  mit  e  :  ritter- 
schei'ie  66,  17.  bei  den  femininen  auf  in  :  inne  erscheint  als  nomi- 
nativ  des  Singulars  aufserhalb  des  reims  einmal  kunegiune  67,  10 
wie  kuneginne  :  inne  61,  3,  dreimal  in  :  kunegin  57,  19;  60,  9, 
kunegin:  wirtin  64,12  wie  kunegin  :  drin  62,25.  ebenso  wechselnd 
daliv  kune^innen  64,  5  und  kunegen  61,  29.  zu  frouwe  vor  dem 
eigennamen  als  accusativ  virn  58,  8. 

Pronomen,  diu  ist  in  der  mehrheit  der  fälle  bewahrt,  mehr- 
fach dafür  auch  die  (58,  16;  64,  9  als  nom.  s.  fem.,  67,  5  als 
neutr.  pl.).  sie  stets  in  dieser  form,  nie  siu  oder  si.  —  ir  ist  als 
possessivum  ßectiert  in  im,  acc.  s.  62,  27.  e?  und  es  sind  mehr- 
fach verwechselt  (59,  7.  26;  60,  14.  19;  64,  1;  65,  4;  67,  3). 

Adjectiv.  die  endung  -iu  ist  überall  durch  -e  ersetzt.  — 
Zahlwörter  :  zwo  58,  13,  zwene  63,  5,  zwei  als  masc.  63,  15, 
drie  59,  8  gegen  dri  64,  29. 

Verbum.  1  phir.  vor  pronomen  -e  :  ensule  wir  63, 10,  heize 
wir  66,  27.  —  3  pl.  ind.  praes.  vorhersehend  -ent,  vereinzelt  -en  : 
jenen  62,  11.  zu  komen  praeter  Hol  formen  ausschlief slich  mit  qu  : 
quam  61,  28,  queme  (conj.  praet.)  61,  21.  im  ablaut  u  statt  o 
unvergulten  61,  10.  —  regelmäßig  -ond  statt  -und  in  konde 
(59,19),  begonde  (61,6;  62,29;  64,2).  zu  hän  ind.  praet. 
baten  61,  8  gegen  hete  57,  12;  58,  8;  59,  7  usw.,  zu  wellen, 
3  pl.  ind.  praes.  wollent  66,  28. 

W ort  formen. 

selih  60,  20;  63,  29  —  nit  durchweg  —  oft  do  für  da,  auch 
swo  60,  13. 

Die  heimat  des   bruchstücks. 

Dem  bruchstück  fehlen  alle  oberdeutschen  merkmale.  es  enthält 
auch  keine  ausgesprochen  rheinfränkische  form,  die  Verwechslung 
von  t  und  d  geht  nicht  über  das  im  ost fränkischen  des  14  jh.s 
übliche  mafs  hinaus,  zum  ostfränkischen  und  südlichen 
thüringischen  stimmt  auch  der  übrige  lautbestand  und  die  be- 
handlung  der  flexion.  bemerkenswert  ist  nur  oi  <  öu.  ich  kann 
dies  aus  dem  Hennebergischen  urkundenbuch  und  den  Thüringischen 
geschichtsquellen  fürs  14  jh.  nachweisen,  so  koyfen  1357  (Abt 
vBreitungen  Henn.  ÜB.  m  10),  vorkoyfen,  widerkoyfen  1357  (Herr 
vBreitungen  Henn.  ÜB.  m  8),  verkoifTen,  vorkoitTeu  (mehrmals), 
gekoyft  1352.  1362  (Arnstadt  Thür.  geschichtsquellen  iv  156.  163). 


TÜBINGER  PARZ1VALBRUCHSTÜCK  12/ 

Ahst  ii  in  in  im  ij   und  tex  lij  est  alt. 

Der  texi  gehörl  zur  reich  vertretenen  tippe  (1.  bei  dem  ttand 
unserer  ausgaben  ist  aber  weder  die  Stellung  des  bruchstücks  um 
halb  der  sippe  zu  erweisen  noch  über  die  Herkunft  und  die  Ver- 
wendung der  einzelnen  lesarten  befriedigendes  zu  sagen,  ich  ver- 
zichte darauf  die  Variantenliste,  die  ich  schon  hergestellt  halte,  neben 
dem  text  des  bruchstücks  selbst  auch  nach  ausdrücklich  zum  abdruck 
zu  bringen. 

Tübingen.  K.  BOHNENBERGER. 

ii  TEXT. 

1  seile,    1  spalte. 

.">7,  5  Immer  (wiegen  minen  lib. 

Si nein  gote  ze  eren  sprach  daz  wip 

Gerne  ich  mich  loifen  solle 

Vn  leben   swie  er  wolte. 

Der  iamer  ^ap  ir  herzen  wie 
10  Ir  fluide  uant  den  dürren  /wie 

Alse  noch  die  turteldube  im 

Sie  hete  hie  den  seilten  müt 

Swenne  ir  an  ritterschefte  gebrast 

lr  triwe  kos  den   dunen   ast, 
15  Div   frowe  an  rechter  zit  genas 

Eines  sunes  der  zweier  uarwe'  was. 

An  dem  got  wünders  wart  in  ein 

Wiz  vh  swarz  an   uarwe  er  schein. 

Du  kunegin  kuste  in  suuder  twal 
20  Vil  dicke  an  sine  hlauke  mal. 

Div  müter  hiez  ir  kindelin 

Ferefiez  Anscheuin. 

Der  wart  eiu  walt  swende 

Die  zost  zu  siner  hende 
25  Vil  manic  sper  zehrachen 

Die  schilte  durkel  stachen. 

Als  ein  Ageleisler  wart  geuar 

Sin  har  vu  ouch  sin  uel  vil  gar. 

Nv  was  ez  ouch  über  des  iares  eil 

Daz  Gamuret  gepriset  uil 
58,  1   Was  uon  den  uon  zazamauc 


128  BOHNENBERGER  UND  BENZ 

Sin  haut  ze  sigenunfte  ranc. 

Dannoch  swebeter  uf  dem  se 

Die  snellen  winde  im  daten  we 
5  Einen  siden  segel  sacb  er  roten 

Den  truc  ein  kocke.     vn  boten 

Die  uon  schotten  (Tridebrant 

Virn  Belachanen  hete  gesant. 

Er  bat  sie  daz  sie  nf  in  verkur 
10  Swie  er  den  mac  durch  sie  verlur 

Daz  sie  uon  im  gesuchet  was. 

Do  fürten  sie  den  Adamas 

Ein  swert.  einen  halsperc.  zwo  hosen. 

Hie  muget  ir  groz  wunder  losen 
1  s.,  2  sp.  15  Daz  im  der  kocke  widerfur. 

Als  mir  die  Auentivre  swur 

Sie  gabens  im  do  lop  vn  er. 

Sin  munt  der  botschefte  wer 

Were  er  so  wider  komen  zu  ir. 
20  Sie  schieden  sich  :  man  seite  mir 

Daz  mer  trüge  in  in  eine  habe 

Zu  Sibilien  kerte  er  abe. 

Mit  golde  galt  der  kuene  man 

Sinem  mernere  san 
25  Vil  harte  wol  sin  arbeit 

Sie  schieden  sich  daz  was  dem  leit. 

Zv  Spanie  in  dem  lande  [n  buch] 

Den  kunec  er  irkande 

Daz  was  sin  neue  kaylet 

Nach  dem  kerter  zu  Dolet. 
59,  1  Der  was  nach  ritterschaft  geuarn 

Do  man  nit  schilte  dorfte  sparn. 

Do  hiez  ouch  er  bereiten  sich 

Sus  weret  div  auentivre  mich 
5  Mit  speren  wol   genialen. 

Von  gfuenen  zindalen 

Igliches  hete  ein  banir 

Drie  hermen  anker  so  fir 

Daz  man  ir  iach  vor  riche[rt] 
10  Sie  waren  lanc  vn  breit 


TÜBINGER  PARZIVALBRÜCHSTOCK  120 

Vn  reichten  miste  uf  die  hanl 

So  in. ms  zu  Bperee  isen  baut 

[in  oidertalb  eine  spanne. 

Der  wart  dem  kuenen  manne 
15  Hundert  do  bereitet 

Vü   will  hin   nach  geleitet 

Von  siih's  neuen  livten. 

Eren  vn  truden 

Konden  sie  in  mil  werdekeit 
20  Daz  was  ir  herren  nit  zeleit. 

Er  streich  in  ich  enweiz  wi  lauge  nach 

Ynz  er  geste   herherge  sach 

In  dem  lande  zu  waleis. 

Di»  was  geslageo  uor  Kauoleis 
2  s.,  1  sp.  25  Manie  paulun   uf  den   |dan 

Ich  sages  uch  nit  uo[nJ  wan. 

Gehietet  ir  so  ist  ez  war 

Sin   volc  hiez  uf  halten   gar. 

Der  herre  saute  uor[h]iu   in 

Den  clugen  meister  knappen  sin. 
60,  1    Er  wolte  als  in  sin  her  bat 

Herberge  uemen  inder  stat 

Do  was  im  snelliche  gach 

Man  zoch  im  soymer  nach 
5  Sin  ouge  nirgen  hus  da  sach 

Schilte  waren  sin  ander  tach 

Vn  wende  alsam  behängen. 

Mit  spern  gar  vmbe  uangen 

Div  kunegin  uon  Waleys 
tO  Gesprochen  bete  zu  Kanuoleys 

Einen  turnoy  also  gezilt 

Des  manegen  zagen  noch  beuilt 

Swo  er  dem  glich  werben  siebt 

Von  siner  haut  ez  nit  geschieht. 
15  Sie  was  ein  maget  nit  ein  wip 

Div  bot  zwei  lant  vü  ir  lip 

Swer  den  pris  bezalte. 

.  .  .  mere  manigen  valte 

.  .  .  ders  ors  uf  den  samen. 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXWII.  9 


130  BENZ  UND  BOHNENBERGER 

20  Die  selich   gevelle  namen 

Der  schanz  ze  flust  wart  gesaget 
Des  pflagen  hekle  vnuerzaget 
Si  daten  ritters   eilen  scliin. 
Mit  hurteclicher  rabiu 

25  Wart  do  manic  ors  ersprenget 
Vn  swerte  vil  erclenget. 
Ein  schifbrucke  an  einen  plan 
Gienc  über   eines  wazzers  trän 
Mit  einem  tor  beslozzen 
Ein  knappe  vuuerdrozzen 
61,  1  Tet  ez  uf  als  im  ze  mute  was 
Do  über  stunt  der  palas 
Da  saz  div  kuneginne 
Zu  den  venstern  dar  inne 
2  s„  2  sp.    5  Mit  maniger  werden  frowen. 
Die  begonden  schoweu 
Waz  dise  knappen  daten. 
Sie  baten  sich  beraten 
Vii  slugen  uf  ein  gezelt 

10  Vmbe  vnuergulteu  minnen  gelt 
Wart  ez  ein  kunec  ane 
Des  twanc  in  Beiachane. 
Mit  arbeite  was  uf  geslagen 
Daz  drizec  soymer  musteu  tragen 

15  Ein  gezelt  das  erzeigete  ricbeit 
Do  was  der  plan  wol  so  breit 
Daz  sich  die  snüre  wol  stracten  dran. 
Gamuret  der  werde  man 
Die  selbe  zit  dort  vze  enbeiz 

20  Dar  nach  uil  sere  er  sich  fleiz 
Wie  er  houeliche  queme  geriten 
Des  enwart  do  langer  nit  gebiten. 
Sine  knappen  anden  stunden 
Ir  sper  zesamene  bunden 

25  Iglicher  fivnue  an  ein  bant 
Daz  sechste  furter  ander  hant 
Mit  einer  baniere 
Sus  quam  geuarn  der  fiere. 


TÜBINGER  PARZIVALBRUCHSTÜCK  131 

Von  «1er  kunegea  warl  vernomeo 
Wie  ein  gast  do  solte  komea 

62,  1  Vz  gar  uerrem  lande 

Den  oieman  erkande. 

Sin  uolc  daz  ist  kurtoys 

Beide  lieideD8ch  vfi  rranzoys. 
5  Etlicher  mac  ein  Anscheuin 

Mit  siner  spräche  vil  wol  sin. 

Ir  mut  ist  stolz  ir  wat  ist  dar 

Wol  gesniten  al  nur  war. 

Ich  was  sinen  knappen   bi 
in  Die  sint  non  missewende  fri. 

Vn  ielien  swer  habe  geruche 

Ob  der  ir  berren  suche 

Den  scheide  er  non  swere 

Von   in   Iragete  ich  der  mere 
3  "J.  1  gp.         Do  sageten  sie  mir  sunder  wanc 
16  Ez  were  der  kunic   nun  Zazamaoc 

Dise  mere  seite  ein  garznn. 

Auoy  welch  ein  paulun 

Iwer  crone  vli  iwer  lant 
20  Weren  d[er]fur  nit  balbez  pfant 

Du  solt  mir  ez  so  loben  nicht 

Min  munt  hin  wider  dir  des  gichU 

Ez  mac  wol  sin  eines  werden  man 

Der  nit  mit  armote  kan. 
25   Also  sprach  div  kunegin 

Owe  wanne  körnt  er  drin 

Irn  garzun  sie  des  fragen  bat. 

Houeliche  durch  die  stat 

Der  helt  begonde  treken 

Die  slafenden   wecken.  • 

63,  1   Vil  schilte  sach  er  schinen 

Die  hellen   businen 
Vor  im  mit  crache  gaben  toz. 
Von  würfen  vn  uon  siegen  groz 
5  Zwene  tamburre  gaben  schal 
Der  galm  nbir  al  die  stat  erhal. 
Der  ton   idoch  gemischet  wart 


132  BENZ  UND  BOHNENBERGER 

Mit  floytiren  uf  der  vart. 

Eine  reisen  sie  Miesen. 
10  Kv  ensule  wir  nit  Verliesen 

Wie  ir  herre  komen  si 

Dem  riten  videlere  bi. 

Do  legete  der  legen  wert 

Ein  beiu  für  sich  uf  daz  pfert 
15  Zwei  striual  über  bloze  bein. 

Sin  munt  als  ein  rubin  schein 

Vor  roete  als  ob  er  brunne 

Er  enwas  ze  dicke  noch  zedunne. 

Sin  üb  was  allentalben  clar 
20  Sieht  reitelechte  was  sin  har. 

Swaz  man  uor  dem  hüte  sach 

Daz  was  ein  tivr  hoibz  tach. 

Grüne  samit  was  der  mantel  sin 

Ein  zobil  da  uor  gab  swarzen  schin 
3  s.  2  sp.  25  Ober  einem  hemde  daz  was  blanc 

Von  schowen  wart  da  groz  gedranc. 

AI  dicke  do  gefragei    wart 

Wer  were  der  ritter  ane  bart. 

Er  fürte  al  selich  richeit 

Vil  schire  wart  daz  mere  breit. 
CA,  1   Si  sagetens  im  uor  vngelogen. 

Do  begonden  sie  über  die  bruke  zogen 

Ander  uolc  vrf  daz  sine. 

Von  dem  lichten  schine 
5  Der  uon  der  kuneginnen  schein 

Er  zucte  neben  sich  daz  bein 

Vfrichte  sich  der  tegen  wert. 

Rechte  alse  ein  uederspil  daz  gert. 

Die  herberge  duchte  in  gut 
10  Also  stunt  des  heldes  mut. 

Sie  dolle  ouch  wol   div  wirtin 

Von  waleis  div  kunegin. 

Nv  friesch  der  kunec  uon  Spanie 

Daz  uf  der  Lewe  plauie 
15  Stunt  ein  gezelt  daz  Gamüret 

Durch  des  kuneges  kazaliges  bet 


TÜBINGER  PARZ1VALBRUCUST0CK  133 

Bleip  iini  Patbelamunl 

I),i/.  ict  hu  ein   ritter  kunl. 

Do  lur  er  springende  als  eio  i >  r 
20  Vn  was  der  frowen  Boldir. 

Der  Belbe  rilter  aber  sprach 

Iwer  müemen  sud  ich  sach 

Kornea  als  er  was  fier. 

Ez  miii  hundert  baoier 
25  Zi   einem  6chilte  uf  grüne  uell 

Gestochen  für  sin  hoch  gezell 

Die  sint  ouch  alle  gruene 

Ouch  hat  der  hell  kuene 

Dri  barmin  anker  licht  gemal 

Vi    iglicheu  zimlal 
65,  l   Ist  geziembret  hie. 

Auoy  nu  sol  man  schoweo  wie 

Sin  lib  den  poynder  irrel 

Wie  fers  mit  hurte  wirrel 
1  s,    ;  5  Der  stolze  kunic  Hardiez 

Her  hat  mit  zorne  sinen  Qiez 

Nv  lauge  uaste  an  mich  gewant. 

Den  sol  hie  Gamuretes  bant 

Mit  siner  zu>ii    neigen. 
lo  .AI in  selde  ist  nit  der  ueigen. 

Sine  boten  santer  sau 

Do  Gatschier  der  Norman 

Mit  grozer  massenie  lac 

Vn  der  lichte  Killiriakac 
15  Die  waren  da  durch   sine  bet. 

Zem  paulune  sie  mit  Kaylet 

Füren  mit  geselleschnft 

Do  enpuengen  sie  durli  liebe  craft 

Den  weiden  kunic  uou  Zazamanc 
20  Sie  duchte  ein   beiden  gar  zelanc 

Daz  sie  in  e  nit  sahen 

Des  sie  mit  triwen  iahen. 

Do  fragete  er  sie  der  inere 

Wer  der  ritter(e) '   were. 
1  -e  später  angefügt. 


134  BENZ  UND  BOHNENBERGER 

25  Do  sprach  siner  mümen  kint 
Vz  uerrcn  landen  hie  sint 
Ritter  die  div  minne  iaget. 
Vil  kuuer  ritter  vnuerzaget. 
Sie1  hat  mauegeu  britUD 
Roys  Vterpandraguu. 

66,  1  Ein  mere  in  suchet  als  ein  dorn 

Daz  er  siü  wip  hat  nerlorn 

Div  Artuses  müler  was. 

Ein  pfaffe  der  zoiher  las 
5  Mit  dem  div  frowe  ist  hin  gewant 

Dem  ist  Artus  nach  gerant. 

Ez  ist  in  dem  dritten  iar 

Daz  er  sun  vü  wib  verlos  uorwar. 

Hie  ist  ouch  siner  dochter  man 
10  Der  wol  mit  ritterschefle  kan. 

Lot  uor  Norwege 

Gein  valscheit  der  trege 

Vn  der  snelle  gein  dem  prise. 

Der  kuene  helt  wise 
4  s.,  2  sp.  15  Hie  ist  ouch  Gawen  des  sun 

So  cranc.  daz  er  nit  mac  getuu 

Ritterschefte  deheine. 

Er  was  bi  mir  der  deine 

Vn  gicht  mochter  einen  schaft 
20  Zebrechen.  tröste  in  des  sin  craft 

Er  wurchte  gerne  ritters  tat. 

Vil  frühe  sin  ger  begunnen  hat. 

Hie  hat  der  kunic  Patrigalt 

Von  speren  einen  grozeu  walt 
25  Des  füre  ist  wider  den  ein  wint. 

Die  uon  Portigal  hie  sint 

Die  heize  wir  die  frechen 

Sie  wollent  durch  schilte  siechen. 

Sie2  hant  die  Prouenzale 

Schilte  wol  gemale. 

67,  1  Hie  sint  die  waleise 

1  jüngere  hand  setzt  auf  dem  rande  neben  dem  roten  S  mit  schwarzer 
tinte  bei  :  H  2  wie  bei  65,  2'J. 


II  ULM, Kl;   PARZlVALBRUCHSTl  CK  135 

Daz  sie  behabent  ir  reise 

Durch  den  poynder  >\\a  siz  gerenl 

Vod  der  craft  irlandes  sie  des  werent. 
5  Bie  ist  iii.iiiic  ritter  darcfa  die  \\i|» 

\u>  int  erkennen  mac  min  lip 

W.iii  die  ich  dir  benennet  han. 

Wir  ligeo  mit  warheil  sunder  wan 

Mil  grozen  fureu  in  der  stat 
10  Als  viis  div  kuneginne  bat. 

Ii  li  sage  dir  swer  zu  uelde  liget 

Die  unser  wer  vil  deine  wigel 

Der  werde  kunec  uon  Ascalun 

Vn  der  Freche  uon  Arragun. 
l ;.  Do  ist  Cilhegast  uon  Logroys 

Vn"  der  kunic  uon  Ponturtoys 

Der  heizet  Brandlidelin. 

Do  ist  der  kune  Lehelin 

Da   ist   Moidli  uon   liiani 
20  Der  bricbel  ms  abe  gebe  plant. 

Da  ligent  ul  dem  plaue 

Die  stolzen  Alimane 

Der  herzöge  uon  Prauant 

Der  ist  gestrichen  in  diz  lant. 
Tübingen.  JOS.  BENZ. 

EIN  WINSBEKE-FRAGMENT 

DER  UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK  MÜNSTER. 

Als  wir  im  herbst  d.  j.  mit  der  münsterischen  Universitäts- 
bibliothek in  ein  neues  heim  übersiedelten,  kam  beim  transport 
ausgeschiedener  dubletten  ganz  durch  zufall  ein  alter  quartband 
aus  dem  kluster  W'edinghausen  bei  Arnsberg  in  meine  hände,  gegen 
dessen  vorderdeckel  ein  pergamentblatl  mit  mittelhochdeutschen  versen 
geklebt  icar,  in  denen  ich  an  dem  beginne  sämtlicher  vorliegenden 
Strophen  mit  dem  worte  Suu  auf  den  ersten  blick  ein  fragment 
des  Winsbeken  erkannte,  der  band  selbst  enthält  eine  beliebte 
klosterhclüre,  Jakob  Others  lateinische  ausgäbe  von  Geiler  von 
Kaisersbergs  predigten  über  Sebastian  Brants  JS'arrenschiff  (Navicula 
sive  speculum  fatuomm  Johannis  Geyler  Keysersbergii.  Argentorati 


136  BÖMER 

1511).     auf  dem  oberen  rande  des  titelblaüs  steht  von  alter,  gleich- 
zeitiger   hand    geschrieben:    Liber   Monasterii    Wediochusen.     das 
21  cm   lange   und   14'/2C»t    breite  per gament stück  ist  ein  ausein- 
ander   gefaltetes   octavdoppelblalt ,    von    dessen    zweitem    teile  fast 
die  hälfte   in  senkrechter  richlung  abgeschnitten  ist.     ich  habe  das 
fragment   sorgfältig  vom   decket  abgelöst,   gründlich   gereinigt  und 
mit   gallustinctur  behandelt,    so  dass   die   abgeblasste  schrift  wider 
durchgängig  lesbar  geworden  ist.    die  ränder  der  blätter  sind  stark 
beschnitten,  doch  ist  der  text  hier  unversehrt  geblieben,     die  grö/se 
des  ersten   vollständigen  octavblatts,  wie  es  vorligt,  beträgt  l43/.i: 
13  cm,  die  des  schrift feldes  133/4  :   10 cm;  die  grö'fse  des  zweiten, 
defecten  143/4  :  lil2cm,   die  des  schrift  feldes  133/4  :  6V2  cm.    jede 
seite   weist  28  Zeilen  auf.     die  nicht   besonders  sorgfältige,  kleine 
aber  kräftige  cursivschrift  gehört  der  1  hälfte  des  14  Jahrhunderts 
an.     die   verse  sind  nicht  abgesetzt,    aber  in  üblicher  weise  durch 
puncte   getrennt,     die  anfange   der   Strophen  sind  durch  ein  rotes 
paragraphenzeichen  kenntlich   gemacht,   ihr  erster  buchstabe   zeigt 
strichelung.    von  abkürzungen  hat  der  Schreiber  spärlichen  gebrauch 
gemacht;  sie  beschränken  sich  auf  den  strich  über  einzelnen  bnch- 
staben,    ein   häkchen   für  er  und  hohes  t  für   et.     das   i    hat   in 
gewissen  Verbindungen,  die  es  nötig  erscheinen  liefsen,  einen  strich 
erhalten,    blatt  1  beginnt  mit   dem  9  verse  der  2  Strophe  und  endet 
im  3  verse  der  14  Strophe  des  Hauptschen  textes.    die  Vorderseite  hat 
2  verse  -j-  4   ganze  Strophen  {von  10  versen)  -\-  6  verse,  die  rück- 
seite  4  vv.  -\-  4  strr.  +  2^2  vv.      bl.  n   hebt  an  mit  dem  4  verse 
der    33  Strophe   und    schliefst    mit    dem  6   verse    der  49  Strophe. 
auf  der  vorderen  seite  stehn  hier  7  vv.  +  3  strr.  -f-  8V2  vv.,  auf 
der  hinteren  1 1/i  vv.  -f-  4  strr.  -(-  6  vv.    zu  der  textbestimmung  des 
fragments  muss  bemerkt  werden,  dass  die  Strophenfolge  der  münste- 
rischen handschrift,  die  ich  fortan  mit  M  bezeichne,  von  der  aller 
anderen  hss.  wesentlich  abxceicht,   und   die  stücke,  welche  zwischen 
den    angegebenen   anfangen  und  Schlüssen   der  beiden  textpartieen 
stehen ,   sich  keineswegs  mit  denen  der   gewöhnlichen  Überlieferung 
decken,     es  darf  angenommen  werden,  dass  die  lücke  zwischen  den 
beiden    teilen  des   fragments  19 — 20   Strophen  betragen  hat.     für 
diese  zahl  spricht  auch  der  umstand,  dass  rund  20  Strophen  gerade 
ein  doppelblatt  gefüllt  hätten,     da  das  fragment  mit  dem  9  verse 
der   2    Strophe    beginnt,   also   vorne   nur   1    Strophe  und   8  verse 
fehlen,    muss   das    gedieht   auf   der    rückseite   des    vorhergehenden 


EIN   WINSBEKE-FRAGMEN1  137 

blattes  ziemlich  unten  angefangen  haben  M  ist  demnach  wol,  wie 
die  übrigen  Handschriften  in  denen  der  Winsbekt  Überliefert  ist, 
eine  tammeJhandschrift  gewesen. 

Die  oberdeutsche  spräche  des  Originals  ist  in  M  ins  mitteldeutsche 

übertragen,  das  md.  charakterisiert  sich  durch  die  Vorliebe  /ür 
o  gegen  u  (do  statt  du,  im,  holden  Logen l),  durch  die  abneigung 
gegen  uo  für  u,   her  statt  er,  iz   statt  ez,  das   mehrfach   fehlend* 

aushiut  - 1,  bot  a&n  '///er  </m/t/<  das  i  stall  e  in  den  endsilben 
(andir,   gutin,    vorcbtin,  lebist,    ^'otis,    recbür,    beydir,    scheydin 

usw.).  die  hochdeutsche  lautversehiebung  ist  durchgeführt,  wenn 
Arnsberg  auch  schon  dem  niederdeutschen  Sprachgebiet  augehörte,  so 
lag  es  doch  immerhin  in  dessen  südlichstem  teile,  nahe  der  hoch- 
deutschen grenze,  der  schreiber  von  M  konnte  das  md.  seiner  vor- 
läge entnommen  haben;  es  konnte  ihm  von  einem  frühem  aufenthaits- 
orte  her  geläufig  sein ;  er  mochte  geflissentlich  die  gebildetere  hoch- 
deutsche sprachform  wählen,  die  spräche  der  handchrift  würde  also 
eine  anfertigung  im  kloster  Wedinghausen  wol  nicht  direct  aus- 
seidie/'sen;  aber  wahrscheinlich  itt  sie  nicht  grade. 

Das  beste  kriterium  für  die  bestimmung  des  Verhältnisses 
zweier  hss.  zu  einander  bildet  bei  dem  Winsbeken  die  zahl  und 
anordnung  der  Strophen,  schon  nach  dieser  richtung  hin  steht  M 
völlig  selbständig  da.  ich  beschränke  mich  darauf,  zum  vergleich 
ihre  Strophenfolge  und  die  <les  Bauptschen  textes  nebeneinander 
zu  stellen,  wobei  ich  annehme,  dass  die  Strophe,  in  welcher  unser 
fragment  beginnt,  auch  würklich  die  zweite  der  hs.  gewesen  ist. 
für  die  erste  Strophe  des  2  blattes  von  M  setz  ich  die  zahl  33  an, 
da  die  Strophe  bei  Haupt  diese  nummer  trägt,  die  wievielte  sie 
tatsächlich  gexcesen  ist,  lässt  sich  mit  Sicherheit  nicht  bestimmen, 
doch   dürfte  die  zahl  33  ziemlich  zutreffen. 

Blatt  i. 
M:     2  3  4  5  6  7  8     9  10  11   12 
Haupt:     2  4  3  5  6  7  S  11   12  13   14 

Blatt  n. 
M:  33  34  35  36  37  3S  39  40  41  42 
Haupt:  33  42  43  27  45  46  47  48  51  49 
icir   sehen,    die   abweichungen    sind   sehr   beträchtlich,     auf  sei    de\ 
spätem  Gothaer  hs.  (g)  entfernt  sich  keine  der  andern  hss.1  so  weit 

1  in  betracht  kommen  die  bekarmten  liederhss.  ß  und  (',  die  Berliner 

^ibelungenhs.  I  und  die  h'olmnrer  liederstvnmlung  A. 


13S  BÖMER 

von  der  gewöhnlichen  Überlieferung,  oder  sagen  wir  genauer  von  B 
tmd  I,  die  in  diesem  puncte  bis  zur  58  Strophe  völlig  überein- 
stimmen, es  erhebt  sich  nun  die  frage,  worauf  sich  die  ab- 
weichungen  von  M  gründen,  versehen  des  Schreibers  scheinen  mir 
ausgeschlossen,  es  müssen  also  bewuste  änderungen  vorliegen. 

Besonders  bemerkenswert  scheint  mir  die  auslassung  der  Strophen 
9  und  10  in  M.  sie  fehlen  in  keiner  anderen  hs.  in  BCIK 
stehn  sie  an  derselben  stelle,  nur  in  g  sind  sie,  getrennt  von  ein- 
ander, viel  weiter  unten  eingereiht,  mit  der  8  Strophe  beginnen 
die  auf  den  frauendienst  bezüglichen  mahnungen  :  ivem  Gott  ein 
weih  gegeben,  der  soll  ihr  allzeit  in  treuen  anhängen.  Strophe  11 
verallgemeinert  den  frauendienst  :  nicht  nur  sein  ehliches  weib. 
sondern  alle  guten  frauen  soll  man  ehren  und  lieben,  sie  sind  die 
engel  der  erde,  die  Gott  zugleich  mit  denen  des  himmels  geschaffen, 
dazwischen  stehn  in  Strophe  9  und  10  mahnungen,  keinen  ver- 
ständnislosen in  das  liebesgeheimnis  einzuweihen,  sich  vom  weine 
nicht  übermannen  zu  lassen,  nichts  auf  die  Schwätzer  zu  geben, 
keinem  beim  erzählen  in  die  rede  zu  fallen,  sich  der  bekümmerten 
zu  erbarmen  und  endlich  sich  allen  frauen  gegenüber  schöner  reden 
zu  beßeifsigen  :  denn  möge  auch  einmal  eine  weniger  wolgeartete 
darunter  sein,  so  stünden  ihr  tausend  tugendsame  gegenüber,  welche 
bedenken  können  die  auslassung  veranlasst  haben?  wider  drängt  sich 
die  frage  auf,  ob  die  hs.  im  kloster  Wedinghausen ,  wo  sich  das 
fragment  befunden  hat,  geschrieben  und  hinterher,  als  das  interesse 
an  dem  stücke  geschwunden,  zerschnitten  und  zum  einbinden  neuer 
bücher  verwendet  sei1,  vor  einiger  zeit  hob  ich  bereits  in  einem 
gleichfalls  aus  Wedinghausen  stammenden  bände  das  bruchstück  einer 
deutschen  poetischen  Übersetzung  des  Boethius  aus  dem  anfang  des 
15  jh.s  gefunden,  sollten  die  manche  des  klosters  würklich  neben  der 
lateinischen  auch  die  heimische  dichtung  in  ehren  gehalten,  vielleicht 
gar  die  ihnen  zur  erziehung  anvertraute  Jugend  in  sie  eingeführt 
haben?  beim  Boethius  wird  uns  dieser  gedanke  nicht  schwer,  aber 
wird  im  kloster  auch  eine  statte  für  lehren  des  frauen-  und  ritter- 
dienstes  gewesen  sein?"1    das  in  der  zweiten  hälfte  des  12  jh.s  ge- 

1  gegen  den  hinter  decket  unseres  Landes  ist  ein  stück  eines  latei- 
nischen Schulbuchs  geklebt,   der  schluss  eines  '■Scriptum  super  Aoianum'. 

2  in  dem  gedieht  'Des  Teufels  JSetz'  aus  der  1  hälfte  des  15  jh.s 
wird  klage  darüber  geführt,  dass  manche  geistlichen  in  den  alten  deut- 
schen mären  beschlage?ier  wären  als  in  den  episleln  und  evangelien,  und 


EIN  WINSBEKE-FRAGMENT  139 

gründete  kloster  Wedinghausen  vom  eine  niederlastung  de»  I 
monstratenserordens.  die  NorbertinermOnehe  haben  auch  der 
jugendbildumj  ihr  interesse  zugewant,  und  man  nimmt  an, 
dass  in  Wedinghausen  bereits  zu  anfang  des  14  jh.s  eine  ort 
von  höherer  schule  bestanden  hat  (Feaux  de  Lacroix  Geschichte 
Arnsberg»  \  lb'.)5]  8.1 1 1).  es  ist  eine  notiz  erhalten  :  'Karl  von  Alinck- 
bofen  aul  Laer  bei  Bfeuden  geboren  1314,  gestorben  132G  zu 
Arnsberg  auf  der  Schule.'  dieser  junge  adliche  wird  für  einen  Zög- 
ling des  klosters  Wedinghausen  gehalten,  wenn  die  manche  aber 
nicht  nur  geistliche  herangebildet  haben,  sondern  überhaupt  als  Jugend- 
erzielter  tatig  gewesen  sind,  könnte  vielleicht  bei  ihnen  ebensogut 
wie  auf  anderen  schulen  neben  lateinischen  silten-  und  anstands- 
lehren,  neben  dem  Calo  und  Schriften  dieser  art,  auch  ein  didak- 
tisches hochdeutsches  gedieht  wie  der  Winsbeke  in  revidierter  gestalt 
beim  Unterricht  verwendet  sein,  es  wäre  dann  nicht  unmöglich, 
dass  die  Strophen  9  und  lo  pädagogischen  bedenken  zum  opfer 
fiele)!,  etwa  wegen  der  mahnung  zum  geheimhalten  der  liebe, 
wer  freilich  so  engherzig  die  ihm  anvertraute  Jugend  gehütet  hätte, 
würde  wol  auch  noch  manche  andere  stelle  ausgemerzt  haben  die 
in  M  zu  lesen  ist,  ja  er  hätte  vielleicht  den  ganzen  frauendienst 
gestrichen,  da  obendrein  die  Herkunft  aus  Wedinghausen  sehr 
zwei/elha/t  und  eine  blofse  Umstellung  der  beiden  strr.  (wie  in  g) 
möglich  ist,  so  lässt  sich  eine  entscheidung  nicht  treffen. 

In  der  fassung  des  lextes  steh'  M  deutlich  der  gruppe  Clg 
nahe,  besonders  oft  der  hs.  g  (zb.  gleich  2,  9),  und  häufiger  stellt 
es  sich  zu  C  als  zu  I,  das  doch  9  (11),  8  allein  zu  M  stimmt, 
daneben  hat  M  aber  auch  ganz  ihm  eigne  Varianten  :  in  klein  ig  - 
keiten  weicht  es  auf  schritt  und  tritt  von  den  andeien  hss.  ab, 
34  (42),  8 — 10  sogar  3  ganze  verse  hindurch,  wo  es  freilich  nicht 
im  rechte  sein  wird,  wie  M  denn  besondere  Sorgfalt  nicht  verrät: 
Schreibfehler  und  metrische  härten  sind  häufig. 

Bei  der  grofsen  zahl  von  abweichenden  lesarlen  in  M  hielt 
ich  es  für  ratsam,  einen  vollständigen  abdruck  des  fragments  zu 
geben,  fehlerhafte  stellen  sind  nicht  berichtigt,  sondern  durch  ein 
ausrufungszeichen  gekennzeichnet,  doch  sind  lücken  des  lextes  auf 

dass  sie  solche  dinge  auf  der  schule  lernten  [vgl.  Mitteilungen  d. 
ges.  f.  deutsche  erz.  u.  schnlgesch.  16,  :i7ü  /*).  wo  aber  die  deutsche 
heldensa^v  ein  gegenständ  des  Unterrichts  war,  da  konnte  sehr  wol  auch 
ein  höfisches  gedieht  mit  den  schillern  vorgenommen  werden. 


140  BÖMER 

dem  1  blatte  (wo  sie  auf  einem  versehen  beruhen),  ebenso  nach  der 
Hauptschen  ausgäbe  ausgefüllt,  wie  auf  dem  2  defecten  blatte,  eckige 
klammern  und  cursiver  druck  heben  die  zufügungen  gegen  den 
text  von  M  ab.  beim  einsetzen  des  Hauptschen  textes  wurde  von 
dem  versuche,  den  Originaltext  dem  dialekte  von  M  anzupassen,  ab- 
gesehen. 35,  9.  10  ist  nach  I  ergänzt,  41,  7  nach  C,  da  dieses  hier 
mit  M  übereingestimmt  zu  haben  scheint,  wo  M  ganz  eigene  wege 
geht,  muste  ich  bei  den  fehlenden  stücken  von  bl.  ii  puncte  machen. 

Text  nach  .)/. 

[bl.  i']  2  (2). 

9  der  ir  noch  willen  volgen  wil, 
daz  ist  libes  unde  der  sele  tot. 

3  (4). 

Sun,  gip  im  der  dir  hat  gegeben 
und  an  der  gäbe  hat  gewalt  : 
her  gipt  noch  eyn  immerleben 
und  andir  gäbe  manicvalt, 
5  [me  danne  loubes  hat  der  walt.] 
wiltu  no  koufen  synen  hurt, 

in  sinen  hulden  dich  behalt 
unde  sende  gute  boten  vor, 
di  dir  durt  vahen  gulin  rum, 

er  daz  der  wirt  vorsla  di  dor. 

4  (3). 

Sun,  merke  wi  daz  kertzenliech, 
di  wile  is  brinnet,  is  swindet  gar  : 
no  gloube,  daz  dir  sam  geschit 
von  tage  tzu  tage  ;  ich  sage  dir  war. 
5  dez  nym  in  dinen  sinnen  war 
unde  richte  hi  din  leben  also, 

daz  durt  di  sele  wol  gevar. 
äwi  hoch  an  gute  wirt  din  nam, 
so  wirt  dir  nicht  wan  also  vil, 

eyn  linin  thuch  vor  dine  schäm. 

5  (5). 

Sun,  alle  wiseyt  ist  eyn  wicht, 
di  hertzen  sin  irtrachte  kan, 


EIN  WINSBEKE-FRAGMEN1  1  m 

bat  er  izu  gote  myone  nicht 
und  sihel  in  Dicht  mit  vorchtin  ao. 
is  sprach  hir  vor  eyn  wiser  man. 
daz  «Iure  werlde  wysheil  si 

vor  gut»'  eyn  torlieyt  Blinder  wan  : 
do  tzn  so  richte  « 1  i  11**11  sin, 
daz  do  in  einen  holdi-n  lebist, 

und   la   dich   aller  dinge   an   in. 

6  (6). 

Sun,  geyslich  leben  in  ere  habe  : 
daz  wirt  dir  gut  unde  ist  ein   sin. 
dez  willen  kume  durch  niman  abe, 
bieugen  tzu  diner  gruben  hin: 
5  is  wirt  an  Salden  din  gewin. 
enruche,  wi   di  phaffen  leben: 

do  salt  dini'ii  gote  an  in. 
sint  gut  ir  wort,  ir  werc  tzu  crump, 
so  volge  do  den  worte  nach, 

irn  werken  nicht,   oder  do  bist  tump. 

->   (7). 
Sun,  is  waz  ie  der  leyen  sete, 
daz  si  den  p hallen  trugen  haz  : 
do  suude  si  sit  sere  mitte, 
ich  kau  nicht  wiszen  umme  waz. 
5  ich  wil  dir  raten  verre  baz  : 
do  salt  im  [!]  holt  mit  trüben  sin 
[6/.  iv]  und  sprich  suu  schone,  tustu  daz, 

so  mac  din  eude  werde  gut 
unde  wirt  tzu  lone  dir  beschert 
gotis  licham  unde  siu  reynez  blut. 

8  (6). 
Sun,  so  dir  got  gefuget  eyn  wip 
noch  syme  lobe  tzu  rechtir  e, 
di  saltu  haben  als  dinen  lip, 
unde  fuges,  daz  is  also  ste, 
daz  uer  beydir  wille  irge 
itz  eyme  hertzen  unde  drin. 


142 


BÖMEH 

waz  wiltu  denne  wunne  nie, 
ob  tas  geschit  in  truer  phlege? 
sehet  abir  di  werre  iren  samen  dar, 

so  muzen  scheydin  sich  di  wege. 

9  (11). 
Sun,  wiltu  tziren  dinen  lip, 
so  daz  her  si  unvugen  gram, 
so  mynne  unde  ere  gute  wip  : 

ir  togent  uuz  ie  von  sorgen  nam. 
5  si  sint  eyn  wunnenbernder  stam, 
do  von  wir  alle  sint  geborn. 

her  hat  nicht  tzucht  noch  rechten  schäm, 
der  daz  nicht  irkennet  an  in, 
her  muz  der  thoren  eynir  sin, 

unde  helle  her  Salomonis  sin. 

10  (12). 

Sun,  si  sint  der  wunne  eyn  berndez  licht 
an  eren  unde  an  wirdekeit, 
der  werlde  vrouden  tzuvorsich  : 
ni  wiser  man  daz  widerstreit. 
5  ir  nam  der  eren  cronen  treit  : 
die  ist  gemezzin  unde  gewurcht 

mit  togenden  ho  wit  unde  breit, 
genada  got  an  unz  begie, 
do  her  im  eugele  durt  geschuf, 

daz  her  si  gap  vor  engil  hi. 

11  (13). 

Sun,  du  [mäht]  noch  nicht  wizzen  wol, 
waz  eren  anden  wiben  lit. 
ob  iz  dir  salde  vugen  sol, 
daz  do  gelebiz  di  liebe  tzit, 
5  daz  dir  ir  gute  vroude  gip, 
[so]  mac  dir  immer  baz  gesehen 

zu  dirre  werlde  sunder  strit. 
do  salt  in  holt  mit  truen  sin 
sprich  in  wol  :  tustu  dez  nicht, 

so  muz  ich  mich  getrosten  din. 


EIN  WINSBEKE-FRAGMENT  |  13 

12  (14). 
Sun  wiltn  artzedye  nemyn, 
ich  wil  dich  leren  eynin  tranc ; 
lezet  || 
["■   nr|  33  (33). 

der  mochte  deste  wera  d. 

5  d/ir  ist  der  visen  lop]  vortzigen, 
willu  izu  gahes  mutia  [sin] 

[an  allen  rat  und]  unvortzigen  [l 1 ; 
so  kumit  dir  gar  d[az  Sprichwort  icol.J 
[dazj  mutis  altzu  gaher  man 
vel   \[raegen  esel  riten  sol.] 

34  (42). 

Sun,  wilm  liebin  gut  gemach, 
[so  muost  du  eren  dich]  bewegin  : 
an  iungem  inaun/"e  ich  nie  gesachj 
[diu]  tzwey  in  glicbir  wagen  wegen. 
5  wa/a  tone  ein  junger]  liep  vorlegen 
der  ungemach  im,/;/  liden  kau) 

[noch]  sinneclich   noch  eren  Stegen  ? 

der  is 

waz  her  unvrouden  vor  im  sieht 

vrouden  hat  irkorn. 

35  (43). 

Sun,  \shi[est  daz  Verlegenheit] 
isl  gar  eym   jungen  man  eyn  slac. 
[ez  si  dir  offenlich  gejsait, 
daz  oimant  eren  haben  inac 
5  [noch  herzeliebe]  sundir  slac  [!] 
gar  ane  kummir  untle  [an  not.] 

[der  louch  gat]  so   nicht  in  dez  [!]  sac. 
der  sich  v<»r  seb [anden  wil  bevriden,] 
der  mac  geborgen   nicht  dem  h[bej 

[noch  dem  gut]  noch  den  liden 

36  (27). 

Sun,  merke  reßte,  wie  daz  rot] 
daz  isen  vulet  unde  den  stal  : 


144  I5ÜMER 

also  [tiiot  unbescheiden]  spot 
der  manues  hertzen  sundir  qua/7y. 
5  fez  ist  ein  sföl/denvluchtik  mal 
und  suchet  umme  [und  umbe  entwerj 

von  deine  tzu  deme  alz  eyn  swal. 
s[un,  da  solt  du  dich]  hüten  vor  : 
do  macht  nicht  samft/e  von  im  komenj 

ab  her  dich  brengit  in  sinen  spor. 

37  (45). 
[Sun,  beidiu  luoder]  uude  spil 
sint  libes  unde  der  sele  [ein  val,J 
[der  anej  mase  in  volgin  wil, 

si  machin  im  [breite  huoben]  smal. 
5  swer  lebit  an  ere  an  vrie/r  wal,[ 
[der  wirt]  der  werlde  schir  unwert 

unde  [huset  in  dem]  affeutal. 
der  also  vorlusit  sine  h[abe] 
/mit  disen  swachen  vuoren  zwei][bl.  ny]n 
der  lege  baz  in  eyme  grabe. 

38  (46). 

Sun,  swen  sin  sin  vejileylel  so, 
[daz  er  unrehte  im  selben  tuotj 
ist  her  bi  wysen  luten  [vro,] 
[da  sol  man  kieseja  toreu  [muojt. 
5  di  ruwe  ist  noch  der  [schulde  guot,] 
[ob  si  vo]ü  hertzen  rechte  verth. 

eyn  vole  uz  [einer  wilden  stuot] 
ende  uzgevangen  [!]  wirt  e  tzam, 
e  [daz  ein  ungeraten]  lip 

gewinne  eyn  herlze  daz  sich  schäm, 

39  (47). 

[Sun,  twinc  des  dineja  vrien  mut  [!], 
daz  do  tzu  huze  richtist  [dich.] 
[ein  teil  ich  wn/gereysic  bin; 
man  tut  uud  lazet  un[vil  durch  mich.] 
5  [dem]  armen  snide  unde  brich 
mit  willen  [diner  reinen  hab]e  : 


EIN  W1NSBEKE-FR  AG  MEIST  1  1:, 

ob  allen  raten  rate  daz  icb. 
iz  [ist  dir  guot   und  »/irl   oucb   nur  : 
ich  habe  in  eren  her  [geleitet;/ 

fze  husj  werfe  ich  den  slegil  dir. 

10  (48). 
[Sun,  ob  ich  ungerüejmel  wol 
und  .in  ungufuge  sprecbin  [mac,/ 
/mit  liebe  ich]  dich  bescheynde  /.'/  sol  : 
sint  ich   von  [erste  huses  phlajc, 
5  <la  von  ich   nacht  unrie  tac  [!]. 
[min  umbescezen  wizzjen  wol 

\\i  min  wert  in  eren  lac. 
[ich  hete  no/ch  vil  guten  mut 
und  willic  hertze,  [wan  daz  mir] 

daz  aldir  grozen  schaden   tut. 

41  (öl). 

[Sun,  husere  ist[  eyn  wirdekeyt, 
di  hi  den  hoeslen  [lugenden  vert;] 
[swer  si]  mit  schonen  siten  treit, 
wi   wol  [sich  der  in  eren]  nert. 
'■>  daz  gut   wirt  rnineclich  vorfzert,] 
[daz  niht  eiju  schade  gebeyszen  mac. 

und  lz\ve[n  from  sint  da] von  beschert, 
gotis  Ion,  der  werl/fe  habedanc:] 
[der  d]\  twey  wol  halden   kan, 

den  rieh  et  [wol  sin  ackerganc] 

42  (49). 

Sun,  swer  daz  huz  wol  habin  [teil,] 
[der  muoz  driu  di]nc  tzu  sture  han, 

milde  demut  true 

[i]sl  her  da  by  eyn  vrolich  man, 
5  der/s  wol  den  Hüten  biete]n  kan, 
so  tut  sin  brot  den  nemyndin  [wol] 

Münster  i.W.  A.  BÖMER. 

Z.  F.  D.  A.  XL1X.    N.  F.  XXXVII.  10 


EIN  ULFILAS-STEMPEL. 

Der  broncestempel,  den  unsere  figur  1  und  2  in  natürlicher 
gröfse  widergibt,  befindet  sich  im  besitze  des  herrn  ESchlum- 
berger,  membre  de  l'lnstitut  in  Paris,  wurde  von  ihm  in  der 
silzung  vom  17  juli  1878  der  Socißte  nationale  des  antiquaires 
de  France  vorgelegt  und  im  Bulletin  desselben  Jahres  s.  I82fmit 
einigen  bemerkungen  veröffentlicht,  er  neunt  ihn  'un  grand 
sceau  ou  cachet  .  .  en  bronce,  de  l'epoque  byzantine'  .  .  und  be- 
merkt über  die  inschrift  'La  legende  circulaire,  preced6e  d'une 
croix  initiale,  nous  donne  le  nom  du  proprieHaire  :  OYP0IAA, 
evidemment  pour  OYAcplAA,  Ulfila,  Ulfilas,  nom  goth'.  im 
übrigen  ist  das  denkmal  völlig   unbeachtet  geblieben,     da  es  für 


Fig.  1. 


■B 


die  germauisten  noch  ein  besonderes  interesse  hat,  wird  ein  er- 
neuter hinweis  darauf  in  einer  facbzeitschrift  am  platze  sein, 
nachdem  ich  durch  die  gute  des  herrn  Schlumberger  es  hier  in 
Strafsburg  selber  habe  untersuchen  können. 

Nach  einer  brieflichen  mitleilung  des  besilzers  hat  er  den 
Stempel  im  jähre  1875  von  einem  bändler  in  Korfu  erworben, 
woher  dieser  ihn  hatte,  ist  unbekannt,  über  die  echtheit  des 
Stückes  kann  kein  zweifei  sein,  mit  ausnähme  einer  ausge- 
sprungenen raudstelle  und  einiger  kleiner  Verletzungen  ist  es 
wolerhalten.  die  runde  platte  hat  einen  horizontaldurchmesser 
von  fast  84  mm.  und  ohne  den  nach  unten  übergreifenden 
rand  eine  dicke  von  3,5  mm.  um  den  rand  herum  sind  oben 
als  Verzierung  fünf  gröfsere  knöpfe  angebracht,  ein  sechster  wird 
an  der  ausgesprungenen  stelle  verloren  gegangen  sein,  zwischen 
dem  tiere  und  dem  rande  sind  etwa  in  der  höhe  der  beiue  vier 
kleine  concentrische  kreise    eingraviert,     als  handgriff  diente  ein 


HENNING   EIN   ULF1LAS-STEMPI  l 


1 1: 


vierfOfsiges  tier  mit  gestrecktem  leib,  bis  buI  den  boden  herab- 
hängendem schwänz  und  einem  köpf  mil  kurzen  emporslehnden 
ohren  und  langer  spitzer  schnauze,  durch  eine  Verletzung,  deren 
riss  im  nackeu  klafft,  kann  die  kopfsteliung  nur  unbedeutend 
verändert    sein,      der    schwänz     und     die    pföteo    bSngen    mit    der 

platte  zusammen,  während  die  schnauze  sie  knapp  berührt  nb- 
wol    in    der  ganzen  haltung  eine   gewisse    realistische  aufTassung 


I 


Fig.  2. 

nicht  zu  verkennen  ist,  lässt  sich  das  tier  doch  schwer  ideutiü- 
cieren.  die  auffallend  lange  spitze  schnauze  ist  in  jedem  falle 
übertrieben,  da  sie  hei  keinem  liere,  das  zur  vergleichung  heran- 
gezogen werden  kann,  so  vorkommt,  die  Stilisierungen  ägyp- 
tischer tiere  (etwa  des  ichueumons  oder  des  schakals)  lassen 
ähnliche  übertreihungen  zu.  bei  unserem  Stempel  erklärt  sie 
sich  besonders  leicht,  da  der  griff  dabei  auch  vorne  nach  dem 
boden  hin  eine  stütze  erhielt.  Schlumberger  nennt  das  tier  einen 
kleinen  hund,  und  wie  mir  von  zoologischer  seile  bemerkt  wird, 
soll  66  wol  auch    ein  canide  sein,    aber  kein  haushund,  sondern 

10* 


14S 


HENNING 


ein  wildes  tier,  uud  zwar  der  dicken  beine  etc.  halber  am  ehesten 
ein  junges,  diese  ansieht  wurde  mir  voo  dem  herrn  collegen 
sjeäufsert,  bevor  ich  ihm  den  auf  der  riiekseite  stehnden 
nameu  sagte,  so  könnte  wol  ein  wildhund  oder  ein  schakal 
(canis,  lupus  aureus)  gemeint  sein,  bei  dem  die  schnauze  'spitzer 
als  die  des  wolfes,  aber  stumpfer  als  die  des  fuchses'  ist  und 
dessen  schwänz  bis  zum  »ersengelenk  herabhängt  (Brehm  2,  s.  41), 


Fig.  3. 


vielleicht  auch  ein  fuchs,  da  der  besitzer  unseres  stempeis  aber 
'Wölfle'  hiefs,  wird  man  eher  noch  an  einen  ebensogut  mög- 
lichen jungen  wolf  zu  denken  geneigt  sein. 

Auf  der  rückseite  des  stempeis,  die  unsere  flg.  2  in  ihrer 
wirklichen  form,  flg.  3  im  Spiegelbild  widergibt,  stehn  die  er- 
habenen zeichen,  die  ebenso  wie  der  sie  umschliefsende  rand 
eine  höhe  von  etwa  4  mm  erreichen,  die  oberste  stelle  über 
dem  monogramm  nimmt  das  christliche  kreuz  ein.  rechts  neben 
demselben  beginnt,  nach  links  sich  fortsetzend,  die  zusammen- 
hängende schrift,  die  im  abdruck  (flg.  3)  also  rechtsläufig  heraus- 


EIN  ULFILAS-STEMPEL 

kam.  alle  bucbstabeu  sind  griechisch  und  babeo  die  normale 
Stellung,  auch  das  letzte  A  steh!  wo!  nur  etwas  schief,  wil 
erbalten  die  iweifellose  lesuog 

OYP0IAA 
OvQipt'/.a,  Urfila.  'die  buchslabenformen  gewähren',  wie  ben 
College  Keil,  der  mir  seine  rreundlicbe  Unterstützung  gewahrte, 
bemerkt,  'mit  ihrem  vulgärjungen  Charakter  keine  zeitlichen  an- 
haltspuncte.  die  buchstaben  stehen  bis  auf  das  letzte  zeichen 
richtig1,  zu  den  jüngeren,  der  cursive  näher  stehndcn  formen 
gehören  das  abgerundete  P  und  das  A. 

Die  lautgebung  Ovg<pt).a  für  Ov/.rpi'/.a  ist  gleichfalls  vulgär, 
aber  gerade  für  den  namen  des  Golenbischofs  bezeugt,  der 
Arianer  Philostorgius  ans  Kleinasien,  der  wichtigste  unter  den 
griechischen  herichterslallern,  schlich  um  440  nach  dem  auszugt 
des  f'hotios  Ovgrpi'/.ac,  ebenso  die  Acta  S.  ISicetae  Ovgq~>ilog. 
Luft  nennt  das  g  rätselhaft >,  aber  der  vulgärgriechische  Über- 
gang von  /.  zu  g  kommt  nicht  nur  als  dissimilalion ,  sondern 
auch  in  Beitreibungen  wie  ddegcpoi  für  dde'/.rpoi  schon  in  spät- 
griechischen inschriften  vor'2,  dem  namen  des  Golenbischofs 
scheint  die  entstelhmg  also  angehaftet  zu  haben,  und  es  ist  sehr 
merkwürdig,  dass  sie  auf  unserem  Stempel  gerade  so  widerkehrt, 
germanisch  ist  sie  nichl.  wenn  der  besitzer  des  Stempels  dein 
vulgärgriechischen  aber  einen  solchen  einlluss  gewährte,  so  ist 
kaum  anzunehmen,  dass  er  mit  Ovgcpi'/.a  trotzdem  die  ger- 
manische form  Wullila  widergebeu  wollte,  nachdem  man  sich 
neuerdings  fast  übereinstimmend  dahin  geeint  hat,  den  Goten- 
bischof Wullila  zu  nennen,  tritt  unser  Stempel  der  ältesten  Über- 
lieferung Ulfüa  wider  bestätigend  zur  seite.  ja,  es  fragt  sieb, 
ob  er  nicht  überhaupt  der  Stempel  des  Gotenbischofs  gewesen  ist. 

Unser  Stempelname  ist  sprachlich  gotisch  oder  wenigstens 
ostgermanisch.  Oigcpi/.a-lJlfila  hätte  die  reguläre  endung  des 
gotischen  nom.  singul.  da  aber  die  antiken  Stempelnamen  gewöhn- 
lich im  genetiv  stehn,  bemerkt  Keil  iOvgrpüä  ist  der  regel- 
mäfsige  genetiv  zu  Ovgrpi/.äg;  ergänzt  wird  orpgctyig  oder 
ornuior.  aber  auch  Ovgrpi/.äg  weist  auf  einen  gotischen  nomi- 
nativ  Ulfila,  nicht  auf  einen  deutschen  Wulfilo  zurück,  bezeugt 
ist  der  uame  aulser  für  den  Gotenbischof  nur  noch   für  den  feld- 

1  Zeitschrift  für  vergleichende  Sprachforschung  36,  357. 

2  Schulze  ebendort  33,  224  ff.  vgl.  B.  I22f. 


150  HENNING 

herrn  des  Honorius,  der  i.  j.  411  Arles  belagerte,  iü  der  form 
Ov/itpiXäg  (bei  Olympiodor,  Sociales,  Sozom.)  oder  Ulphula,  Ulfila 
(Prosper  Tir.  Chr.  min.  i  466,  Frigeridus  bei  Gregor  etc.).  dieser 
wird  niemals  OvQcpi).äg,  aber  auch  ebensowenig  wie  der  des 
bischofs  in  den  voritalischen  quellen  Wulfila  geschrieben,  natür- 
lich können  andere  ebenso  geheifsen  haben,  aber  ein  mann  von 
Stellung  und  ansehen  hat  einen  solchen  Stempel  wie  den  unsern 
sicher  geführt,  und  das  kreuz  weist  überdies  in  die  christliche 
Sphäre,  aus  der  es  seit  dem  zweiten  Jahrhundert  im  Orient  und 
etwas  später  auch  in  Europa  bezeugt  ist. 

Der  Stempel  als  solcher  gehört  nicht  zu  der  bekannten 
abendländischen,  sondern  zu  der  mehr  orientalischen  gattuug. 
Schlumberger  nennt  ihn,  worauf  ja  auch  die  griechische  schrift 
deutet,  byzantinisch,  seinem  ganzen  habitus  nach  wird  man  ihn 
kaum  für  älter  als  das  vierte  Jahrhundert  halten,  aber  die  byzan- 
tinischen Stempel  sind  noch  wenig  beachtet  und  nicht  unter- 
sucht, die  mir  bekannt  gewordenen  bieten  für  den  unseren  hin- 
reichende analogien.  sie  sind  im  allgemeinen  ziemlich  grofs, 
rund  oder  länglich,  gewöhnlich  mit  einfachem  länglichen  griff 
und  erhabenen  oder  vertieften  buchstaben.  das  Kaiser-Friedrich- 
museum besitzt,  wie  ich  höre,  einen  solchen  mit  der  durch 
zwei  kreuze  getrennten,  am  rande  herumlaufenden  erhabenen 
inschrift  KYPlOY-f  KAPllOI  +  und  einem  mittleren  monogramm. 
einen  anderen  broncestempel  in  sohlenlorm  mit  den  erhöhteu 
namensbuchstaben  (pOlBOY  aus  Membidsch  (Hierapolis  Bombyce) 
hat  herr  prof.  Euting,  einen  runden  broncestempel  mit  der  er- 
habenen lateinischen  Umschrift  BARB.\ER.  und  einem  mittleren  C 
herr  dr  Forrer,  vgl.  auch  Forrers  Achmim -Panopolis,  taf.  ix, 
tig.  3—6,  Kraus  Realencyclopädie  n,  tig.  236.  416  u.  a.  ein 
tier  als  griff  haben  diese  Stempel  nicht,  nur  ein  lamm  habe  ich 
gelegentlich  bemerkt,  doch  werden  auch  andere  tiere  schwer- 
lich gefehlt  haben ,  da  sie  noch  im  fernsten  osten  sich  finden, 
die  aus  China  übernommenen,  bis  in  die  sassanidische  zeit  zurück- 
reichenden japanischen  Stempel  —  die  einzigen  über  die  mir 
eine  zugängliche  Untersuchung  bekannt  ist1  —  verwenden  vielfach 
tierfiguren  aus  dem  Zodiacus,  aber  auch  andere  als  griffe,  sie 
sind  auch  sonst  zu  vergleichen  mit  ihren  am  rande  herum- 
laufenden inschriften,  den  mouogrammärtigen  zeichen  in  der  mitte 

1  Hans  Spörry  Das  slempelwesen  in  Japan.     Zürich  1901. 


EIN  ULFILAS-STEMPEL  151 

und  ihren  gleichfalls  erhabenen  Bchriftzeicbeo,  die  mit  roter  oder 
schwarzer  färbe  aul'  den  zu  stempelnden  gegenständ  abgedrückt 
wurden,  die  vertieften  'byzantinischen'  oder  rrühcbrisllichen 
Stempel  wurden  m  eine  weiche  masse  (eucharislische  broti 
gedrückt,  für  einen  speciellen  cultzweck  scheint  unser  kleiner 
anide  allerdings  nicht  gerade  zu  sprechen. 

So  haben  wir  als  anhaltspunkte  :  das  > i > k- k  selbst,  das  etwa 
dem  vierten  oder  einem  etwas  späteren  Jahrhundert  entstammt, 
die  griechische  schrifl  mit  dem  'vulgärjungen'  Charakter,  den 
gotischen  namen  des  Ulfila,  die  vulgäre  lautgebung  desselben,  die 
gerade  so  für  den  namen  des  bischofs  bezeugt  ist,  und  das  christ- 
liche kreuz,  alles  dies  passt  für  die  lebenszeii.  des  Gotenbischofs 
und  aul  ihn  seihst,  unerorlert  ist  noch  das  monogramm  in  der 
milie  des  Stempels,  dass  vielleicht  die  entscheidung  bringen  kann, 
leider  aber,  wie  so  viele  andere,  gröfsere  Schwierigkeit  macht. 

Die  zeichen  selbst  sind  deutlich,  in  der  mitte  steht  ein 
grofses  H,  an  welches  die  anderen  buchstaben  angehängt  sind, 
oben  links  im  abdruck  (lig.  3)  ein  O,  daneben  an  der  anderen 
seile  wahrscheinlich  eine  ligatur  von  T  und  Y.  gegen  ein  blofses 
Y  spricht  die  gröfse  des  querslriches  und  ein  liegendes  hori- 
zontales K  scheint  gleichfalls  ausgeschlossen,  dagegen  wird  der 
buchstabe  in  der  mitte  der  zweiten  hasta  ein  aufrechtes  K  sein, 
von  den  beiden  untern  ist  das  zunächst  folgende  O  erst  nachträg- 
lich an  der  einen  seile  ausgesprungen,  im  übrigen  aber  gesichert, 
das  letzte  zeichen  unten  liuks  endlich  kann  ein  umgekehrtes  P  sein 
von  der  form  des  unmittelbar  daneben  stehnden  der  randschrift, 
doch  wären  über  die  Verwertung  solcher  umgekehrter  zeichen  noch 
Untersuchungen  nötig,  die  reguläre  bleibt  die  aufrechte  Stellung, 
sodass  auch  au  ein  aufrechtes  C  gedacht  werden  kann,  das  seit  den 
ersten  Jahrhunderten  in  Inschriften  und  auf  münzen  in  der  gellung 
von  Z  häutig  ist.  so  erhallen  wir  oben  liuks  beginnend  in  der 
augeführten  reihenfolge  um  das  H  herum  die  lesuug  OYTKOP 
oder  OYTKOC.  es  läge  nah,  das  letztere  aus  dem  sonstigen 
monogramm  heraus  zu  TOYTIKOC  zu  ergänzen,  aber  wenn  es  ein 
genetiv  sein  muss,  passt  die  endung  nicht,  uud  das  H,  das  sicherlich 
kein  blofses  gerüst,  sondern  der  buchstabe  ist,  bliebe  noch  unerklärt, 
die  singulare  geltung  von  C  =  l~  '   möcht  ich  nicht  herbeirufen. 

1  so  auf  einem  .Menasfläschchen  von  Achmim  mit  guter  schrift  ACIOY 
für  AflOY  (Forrer  laf.  viu  3). 


152  HENNING 

Doch  ist  natürlich  auch  eine  andere  ordnuug  der  buch- 
staben  möglich,  von  dem  genetiv  OvqcpÜM  ausgehend  meint 
herr  College  Keil,  dass  man  dazu  jedesfalls  eine  genetivform  zu 
suchen  habe,  'tatsächlich  erscheint  eine  genetivendung  -ov 
am  Schlüsse  des  mouogramms,  natürlich  im  Spiegel  gelesen  :  oben 
das  Y,  unten  das  jetzt  etwas  ausgebrochene  O.  jetzt  ist  das  O 
im  anfange  des  monogramms  frei  und  man  list  :  O,  dann  um- 
gekehrtes P,  das  grofse  H,  nun  von  oben  nach  unten  TK, 
woran  sich  die  schon  ausgeschiedene  endung  OY  schliefst,  man 
list  so  OPHTKOY.  jetzt  erkennt  man,  dass  in  der  rechten 
längshasta  des  H  noch  ein  I  zu  suchen  ist.  also  steht  da  OQTqriy.ov 
d.  i.  oqs.ixiv.ov  mit  der  gewöhnlichen  späten  Schreibung^  stattet. 
ÖQeiTiy.ög  ist  einer,  der  zu  den  öqsitcci,  den  bergbewohnern  ge- 
hört, also  lese  ich  '(Stempel  des)  Urfilas,  des  der  bergbewohner'. 
ich  bin  zu  dieser  lesung  gekommen,  ohne  daran  zu  denken 
(worüber  mich  allerdings  vorher  pro  f.  Henning  belehrt  hatte),  dass 
Ulfilas  würkungskreis  als  'in  montibus'  durch  die  älteste  Über- 
lieferung bezeichnet  wird  l.  aber  mir  scheint',  fährt  Keil  fort,  'dass 
nun  Überlieferung  und  lesung  so  einander  stützen,  dass  an  der 
beziehung  auf  den  grofsen  Gotenbischof  nicht  gut  gezweifelt 
werden  kann,  das  kreuz  auf  dem  Stempel  tritt  bestätigend  hinzu, 
dass  das  adjectiv  in  den  Wörterbüchern  fehlt,  kann  natürlich  nicht 
befremden,  die  adjectivische  bezeichnung  für  den  würkungskreis 
eines  bischofs  ist  solenn'. 

Vielleicht  könnte  noch  jemand,  des  umstaudes  eingedenk, 
dass  der  Stempel  auf  Korfu  erworben  ist,  KOPKYPHOY  für 
v.oqv.vqcüov  herauslesen  wollen,  aber  dass  das  monogramm  hinten 
in  der  mitte  der  zweiten  hasta  begann,  ist  unwahrscheinlich,  die 
ligatur  TY  müste  überdies  ein  blofses  Y  mit  einem  übergrofseu 
zierstrich  sein,  den  das  Y  des  namens  nicht  hat.  aufserdem 
wäre  das  erst  später  folgende  O  doppelt,  die  vorhergeheuden 
P  und  K  nur  einfach  gesetzt  und  die  zeichen  sprängen  nach 
den  ersten  buchstaben  unnötig  hin  und  her. 

Keils  erklärung  6or]Tr/.ov~  findet,  wie  mir  scheint,  noch  eine 
weitere  stütze  und  die  allgemeine  angäbe  des  Auxentius  'in  monti- 
bus' einen  bestimmteren  hintergrund  durch  eine  lat.  iüschrift 
vom  jähre  256  n.  Chr.:  [burgum  constitui  iussit]  unfde  latrunculos 

1  nach  Auxentius.  dass  Ulfilas  bischof  von  Dorostorum  gewesen  (Pauls 
Orundriss2  n  s.  7  anm.  2),  ist  unbezeugt,  vgl.  auch  Vogt  Anz.  xxvm  213. 


EIN  ULFILAS-STEMPEL  15^ 

ojbservarent  [projpter  tuteiam  [c]<utre(n)num  et  [cjivium  Monta- 
nmrium  aus  Kullovica  (Ferdinandovo)  am  nordabhange  des  Balkan 
zwischen  Sofia  und  Lom  am  obem  laufe  des  Ogost1,  Kutlovica 
war  also  das  castrum  der  noch  3<)  km.  weiter  nordöstlich  nach- 
weisbaren regio  Monlanensium ,  und  dieser  technischen  bezeicb- 
DUng  halber  wird  man  hier,  wo  wol  schon  seit  dem  Gotensiege 
des  Claudius  a.  269  gotische  colonisten  angesiedeil  waren  (\l»n- 
maszewski  s.  197),  auch  eher  als  in  dem  'kleingolischen'  Niko- 
j)olis  (Jord.  51)  die  heimat  des  Ulfilas  zu  suchen  haben,  öorii/.oi 
aber  wäre  nichts  als  die  griechische  Übersetzung  des  officiellen 
römischen  Montanensis. 

Es  fragt  sich  noch,  wie  der  Stempel  nach  Korfu  gekommen 
Bein  kann,  zufalle  sind  unberechenbar  und  Korfu  war  ein  Stapel- 
platz mittelalterlichen  handeis.  aber  andrerseits  möchte  man  bei 
einem  für  den  nichlkenner  wertlosen  stück  die  zufällige  herkunlt 
aus  der  ferne  nicht  ohne  not  in  anspruch  nehmen,  in  dem 
gegenüberliegenden  Italien  ist  er  schwerlich  angefertigt,  denn  die 
dortigen  Goten  würden  sich  wol  der  lateinischen  schrift  und  über- 
dies nicht  der  vulgärgriechischen  lautgebung  bedient  haben,  der 
Balkanhalbinsel  oder  dem  Orient  wird  er  also  entstammen  und 
dann  kann  zeillich  auch  nur  das  4  oder  5  Jahrhundert  in  frage 
kommen,  dass  der  Stempel  später  zufällig  aus  Müsien  nach  Korfu 
verschleppt  wurde,  ist  nicht  gerade  wahrscheinlich,  ihn  haben 
wol  würkliche  Gotenverbindungen  dahin  gebracht,  aber  an  die 
heerzüge  des  Alarich  ist  schwerlich  zu  denken,  scheinen  die 
Westgoten  doch  ganz  unbeteiligt  an  der  forlführung  der  ultila- 
nischen  Überlieferungen  geblieben  zu  sein,  diese  sind  vielmehr 
den  Ostgoten,  vor  allem  des  Theodorich  zugefallen,  und  das  hat 
seine  geographischen  und  historischen  gründe,  als  der  junge 
konigssohn  aus  Konstantinopel  zu  seinen  Goten  zurückkehrte, 
hatten  diese  gleichfalls  in  Müsien,  der  heimat  des  Ulfilas,  ihre 
sitze,  mit  Theodorich  setzte  sich  dann  die  gotische  volksmasse 
in  bewegung,  an  verschiedenen  stellen  Wohnsitze  suchend,  in 
Macedonien  und  auch  in  Epirus.  seine  expedition  nach  Epirus 
und  die  ansiedlungsversuche  daselbst,  wahrscheinlich  i.j.  479/80 
beschreibt    eingehend    Malchus2.      in    Epirus    hatte    er   einen    in 

1  die  ergänzungen   und   die   inschrift  selbst  nach  vDomaszewski  Neue 
Heidelberger  Jahrbücher  m  (1893)  s.  195  f. 

2  Historici  Graeci  minores  i  s.  411  ff,   vgl.  Wietersheim-Dahn  u  3:5111. 


154  HENNING  EIN  ULF1LAS-STEMPEL 

byzantinischen  dienslen  sehr  begütert  gewordenen  vervvanten, 
wo!  aus  dem  geschlechte  der  Amaler,  den  Sidimundus,  mit  dem 
er  gemeinsame  sache  zu  machen  und  Epirus  an  sich  zu  bringen 
wünscht.  Sidimund  nimmt  die  Goten  auf,  wobei  er  die  küsteu- 
stadt  Epidamnus  (Dyrrhachium)  für  sie  möglichst  räumen  lässt. 
auch  der  bruder  und  die  multer  des  Theodorich  mit  einem  grofsen 
gotischen  tross  stofsen  hier  zu  ihm,  werden  aber  von  dem  byzan- 
tinischen beere  besiegt  und  eine  grolse  anzabl  gefangen  ge- 
nommen. Epirus  muss  er  aufgeben  und  erhält,  nachdem  er  483 
wider  zur  macht  gelangt,  vom  kaiser  das  alte  Niedermösien  an- 
gewiesen, hier  wird  Novae  an  der  Donau  nördlich  Nikopolis  (Zeuss 
s.  426  f)  sein  hauptsitz,  bis  er  offenbar  mit  seiner  ganzen  dispo- 
nibeln  macht  nach  Italien  aufbricht,  so  ist  er  der  erbe  der  alten 
ulfilanischen  traditionen  geworden,  von  denen  auf  der  Balkan- 
halbinsel keine  handschriftlichen  reste  erhalten  sind  K  hierzu  wird 
auch  die  für  den  gottesdienst  in  lectionen  eingeteilte  gotische 
bibel  gehört  haben,  deren  Codex  Argenteus,  wie  man  annimmt,  in 
Unteritalien  unter  seiner  herrschaft  geschrieben  ist.  er  hat 
diese  traditionen  gewis  schon  von  anfang  au  für  seine  Goten 
beansprucht,  zu  dem  literarischen  besitz  mag  aufser  den  Hand- 
schriften auch  der  Stempel  des  bischofs  gehört  haben,  der  sehr 
gut  während  des  aufeuthalles  und  der  wechselfälle  in  Epirus  da- 
selbst zurückgeblieben,  aber  auch  von  Koustantiuopel  auf  der  alten 
via  Egnatia  oder  aus  Unteritalien  nach  Korfu  gelangt  sein  kann. 

1  über  die  auf  Tomi  bezüglichen  nachrichten  des  Walal'rid  Strabo, 
welche  Tomaschek  anzweifelte,  handelt  zuletzt  RLoewe  Die  reste  der  Ger- 
manen am  Schwarzen  meer  s.  253  f. 

Strafsburg.  R.  HENNING. 


'  D 


WALTHERIANA. 

1)    Her  Wicman.     Lachm.  18,  1. 

Der  grobe  spruch  gegen  einen  concurreuten  in  Walthers 
kunst  ist  schon  von  mehreren  seiten  Walthern  abgesprochen 
worden,  zuletzt  von  Saran  ßeitr.  27,  203  f.  seine  metrischen 
gründe  will  ich  nicht  diskutieren;  er  hat  sie  mehr  als  neben- 
sache  vorgebracht,  und  man  könnte  ihnen  gegenüberstellen,  dass 
doch  die  bildliche  manier  und  vor  allem  der  schluss  des  Spruchs 
Walthern  recht  ähnlich  sieht,     mehr  besagt  der  gruud,  dass  von 


FISCHER   WALTHER1ANA  155 

W.  in  dritter  person  geredet  wird,  die  von  Wilmanns  dafQr 
ebene  motifierung  will  mir  allerdings  auch  nicht  einleuchten, 
und  ein  zweiter  fall,  wo  \Y.  su  von  sich  geredet  hatte,  läset  sich 
niclii  anfuhren,  aber  es  ist  doch  gar  kein  zweifei,  dass  die 
stroplic  direct  auf  eine  gegnerische  antwortet,  und  am  alier- 
wahrscheinlichsten  ist  da  widerum  —  ich  glaube,  man  hat  damit 
uocli  ülters  zu  rechnen  — ,  ilass  die  replik  dem  angriff  direcl 
gefolgt  ist;  diese  annähme  würde  nebenbei  auch  leichte  metrische 
mlngel  erklären,  da  ist  es  denn  sehr  wol  mOglich,  dass  der 
angriff  gegen  W.  in  einer  form  gebalten  war,  die  die  rede,  in 
dritter  person  herausforderte  :  es  dürfte  ja  nur  ein-  oder  mehr- 
mals von  /«'/•  Wallher  ironisch-höflich  die  rede  gewesen  sein, 
die  Strophe  steht  in  AC,  ist  also  nicht  schlecht  bezeugt  ' ;  auch 
die  abweichungen  der  texte  sind  nicht  erheblicher  als  anderswo. 
Aber  gegen  die  weitere  bemerk ung  Sarans  inuss  ich  mich 
wenden  :  "auch  darf  man  billig  bezweifeln,  ob  sich  W.  den  derben 
vergleich  von  v.  10  gestattet  halle'-,  ich  weifs  nicht,  ob  jener 
cynismus  in  der  feder  eines  andern  Sängers  wahrscheinlicher  ist 
als  in  der  VV.s;  ein  cultus  der  cc7cÖQQt]rcc  ist  doch  überhaupt  nur  in 
gewissen  gattungen  unserer  mhd.  lyrik  zu  linden,  aufserhalb  deren 
aber  ist  ein  derartige.-  wort  bei  einem  berühmten  dichter  kein 
jota  unwahrscheinlicher  als  bei  einem  obscureu,  der  ja  leicht 
denken  konnte  :  quod  licet  Jovi  usw.  der  cynismus  ist  doch 
auch  sehr  harmlos,  in  männergesellschaft  noch  heute  geduldet, 
es  kommt  aber  dazu,  dass  wir  hier  offenbar  eine  anspielnng  auf 
etwas  allgemein  bekanntes  vor  uns  haben,  noch  heute  heilst  es 
schwäbisch3  :  das  reimt  sich  (passt)  wie  arsch  und  Friderich. 
diese  wendung  ist  aber  schon  alter,  die  Zimmerische  Chronik1 
ii  40S  erzählt  :  Bei  unsem  zeiten  war  ain  procurator  am  hof- 
gericht  .  .  .  der  wolt  ainsmals  seins  gegentails  .  .  .  procurator  die 
argumenta  .  .  .  ablainen  und  verklainem,  darumb  spracht  er 
unverdechtlichen  uf  sein  guet  schwarzweldisch  :  'Es  reimpt  sich 
meins  gegenthails  furbringen  gleich  als  salzmessen  und  ich  waiss 
nit  was',  damit  wolt  er  ain  grobs  wort 4  haben  laufen  lassen,  aber 

1  ed.  Wilmanns-  19  :  die  Sammlungen  AC '    und  AC2  enthielten  noch 
keine  nachweislich  unechten  Strophen. 

-  rgl.  Pfeifler  Freie  Forschung  357  f. 

3  s.  mein  Schwäbisches  Wörterbuch  i  328. 

4  offenbar  arschlecken. 


156  FISCHER 

er  beschul  es  dannost  mit  ainer  offengabel.  Es  wardt  sein  %col 
gelacht,  denn  es  wolt  sich  gar  nit  reimen  sein  spruchwort  .  .  .  so 
wenig,  als  ainest  graf  Heinrich  von  Hardeck  .  .  .  der  wolt  vor 
kaiser  Friderrichen  dem  dritten  ein  schöne  redt  thon,  under  anderm 
aber  Hess  er  sich  sein  gegenlhail  also  ufbringen,  das  er  unverholen 
sagt  :  'Es  reimpt  sich  das  gar  nit,  so  wenig  als  ars  und  Fri- 
derrich'.  unser  dichter  bat  den  witz  der  vergleichung  mit  dem 
(voll-)mond  hinzugetan,  aber  vorgefunden  bat  er  eine  solche 
redensart  gewis,  und  war  damit  doppelt  entschuldigt,  wenn  er 
sie  verwante1.  sie  passte  auch  besonders  gut  in  ein  gedieht, 
wo  vom  versemachen  die  rede  ist.  denn  sie  gebt  ganz  deutlich 
von  der  Wahrnehmung  aus,  dass  es  auf  ars  keinen  reim  gibt, 
wenigstens  keinen  natürlichen,  bequem  liegenden;  das  volk  achtet 
auf  solche  dinge,  ich  habe  das  für  das  wort  bnndschuh  nach- 
gewiesen2. 

Ich  bin  aber  damit  noch  nicht  zu  ende,  wer  ist  her  Wic- 
man,  wie  er  in  A  heifst,  her  Volcnant  nach  C?  man  kennt 
keinen  minnesänger  oder  überhaupt  dichter  solchen  namens,  das 
würde  nicht  hindern,  dass  es  einen  gegeben  haben  könnte,  denn 
beide  namen  sind  um  Wallhers  zeit  bezeugt,  das  auseinander- 
gehn  der  handschriften  könnte  mit  Wilmanns  so  erklärt  werden, 
dass  der  spruch  einmal  gegen  einen  Volcnant  (oder,  wenn  C  recht 
hat,  Wicman)  henutzt  wurde,  oder  was  er  auch  zulässt,  so,  dass 
eine  form  aus  der  andern  verlesen  wäre,  zumal  wenn  mau  etwa 
ein  Wicnant  zu  gründe  legte,  was  es  auch  gibt3,  aber  es  ist 
noch  eins  möglich  :  beide  namen  oder  der  ursprüngliche  davon 
kann  ein  deckname  für  einen  sein,  den  der  dichter  uicht  direct 
nennen  oder  dessen  namen  er  humoristisch  entstellen  wollte, 
wie,  wenn  der  mann  Wolfram  geheißen  hätte?  ich  gesteh 
gerne,  es  ist  ein  einfall.  aber  dass  man  nichts  positives  dagegen 
sagen  kann,  muss  ich  doch  behaupten,  was  Walther  über  seinen 
gegner  sagt,  ist  sehr  allgemein  und  passt  auf  jeden;  der  tou,  in 
dem  die  polemik  zwischen  Wolfram  und  Gottfried  geführt  ist,  ist 
nicht  viel  höflicher;  den  ars  konnte  gerade  Wolfram  kaum  per- 
horrescieren;    dass   Walther   und    er    ihre    kleinen    Wortgefechte 

1  Schröder  citiert  mir  zwei  verse  eines  couplets  oder  gassenhauers,  ohne 
ihre  herkunft  bestimmen  zu  können  :  lPolz  himmel,  arsch  und  wölken  — 
wie  reimt  sich  das  zusarnrnenP  -  Schwab.  Wörterbuch  i  1525. 

[3  Klage  778  Wicnant  hat  D  die  Variante  Volchnant.     E.  S.] 


WALTHERIANA  157 

gehabt  habeo,  wird  aucb  der  zugeben,  dem  Burdachs  Vermutungen1 
in  manchem  zu  weit  gehn;  und  diese  plänkeleien  sind  doch, 
zumal  wenn  wir  aonehmen,  dass  die  gegner  einandei  io  persoo 
gegenüberstanden,  gewis  nicht  tragisch  zu  nehmen,  «In-  zwischen 
Wolfram  und  Wallher  jedesfalls  viel  weniger  als  die  gegen  <.i»ii- 
Fried.  von  positiven  momenten  aber  mOcht  ich  doch  ein  paar 
anführen,  die  namen  Wictnan  und  Volcnant  bezeichnen  beide 
einen  kriegsmann;  das  passt  bowoI  zu  Wolfram  als  zu  den  stolzen 
hehlen  auf  der  Wartburg,  der  iegeslieher  wul  ein  kempfe  wcere 
(20,  11  I)-.  dass  das  waz  obe  her  Walther  krache  usw.  (18,  61) 
au  das  bekannte,  von  Wolfram  und  Gottfried  herüber  und  hinüber 
diene  bild  vom  hasen  (als  gegenteil)  gemahnt,  ist  wol  zufällig, 
denn  das  kriechen  wird  aus  dem  gegnerischen  gediente  genommen 
sein,  aber  der  leitehunt  (IS,  14),  der  nach  wdne  jaget,  gemahnt  doch 
sehr  an  jenen  hasen  hei  Gottfried  (Mafsm.  117,  3811);  vgl.  18,  13 
sfa  märet  er  der  weite  spil  mit  G.  118,  3911'  dane  gdt  niht  (juotes 
inuotes  van,  dane  lit  niht  herzelustes  an,  ir  rede  ist  niht  also 
<jevar,  daz  edele  herze  iht  lache  dar.  doch  genug;  für  einen 
zwingenden  beweis  soll  das  nicht  gelten;  ex  ingenio  suo  quisque 
demal  »el  addat  ßdem. 

2)    Ouch  hiez  der  fürste  durch  der  gemden  hulde 

Die  malhen  von  den  stellen  leeren.  Laclun.  25,  35  1. 
so  bietet  C,  welches  diesen  Spruch  allein  hat.  man  hat  daran 
anstofs  genommen  und  ändern  wollen.  Haupt  zu  Erec  7122  las 
die  stelle  von  den  malhen  leeren,  Pfeiffer-Bartsch  die  malhen  sam 
den  stellen  laren,  Wilmanus1  die  malhen  und  die  stelle  leeren. 
aber  das  alles  ist  nicht  nur  nicht  überliefert,  sondern  Wilm.a 
sagt  richtig  :  'seltsam  bleibt  die  erwahnuug  der  reisetascheu 
neben  den  stallen',  und  er  sowie  Paul  haben  sich  begnügt  mit 
einem  'was  überliefert  ist,  gibt  keinen  sinn',  'unverständlich', 
andere  haben  anderes  vermutet.  Schonbach  Zs.  39,  346  list  von 
den  setelen  :  der  inhalt  der  satteltaschen  sei  zuletzt  noch  an- 
gegriffen worden;  ob  mau  aber  wol  in  ihnen,  wenn  man  nicht 
unterwegs  war.  viel  gehl  und  geldeswert  aufbewahrt  hat?  Bech 
Germ.  32,  1171V  und  A  Wallner  Zs.  39,  429  f   nehmen  den  plural 

1  Deutsche  rundschau   113,  244  ff. 

2  natürlich  kann  man  sich  auch  an  die  graphische  und  lautliche  ähn- 
lichkeit  mit  Wolf'ravi  halten. 


158  FISCHER 

von  stelle,  nicht  von  stal  an;  jener  denkt  an  das  gesteil,  auf  dem 
der  dem  pferd  abgenommene  sattel  ruht,  wogegen  dasselbe  wie 
gegen  Schönbach  zu  sagen  wäre;  dieser  an  ein  repositorium,  auf 
dem  die  malhen  aufbewahrt  worden  seien. 

Das  alles  stimmt  schlecht  zum  Zusammenhang,  es  ist  29 — 34 
erzählt,  man  habe  im  grösten  ilberfluss  gegeben,  silber  und  riche 
\cdt.  darauf  folgen  unsere  zwei  verse  und  fernerhin  :  ors,  als  ob 
ez  lember  waren,  vil  maneger  dan  gefüeret  hdt.  das  ouch  in  z.  35 
hat  keinen  guten  sinn,  wenn  mit  Schönbach  und  Wallner  von 
weiteren  geldgaben  oder  ähnlichem  die  rede  sein  soll,  denn  das 
ist  schon  vorher  gesagt;  vortrefflich  aber  passt  es,  wenn  damit 
auf  das  hergeben  von  pferden  übergegangen  werden  soll  :  z.  36 
muss  ihrem  ganzen  inhalt  nach  sich  darauf  beziehen. 

Schon  Lachmaun  mag  das  gefühlt  haben,  als  er  schrieb : 
'die  meinung  wird  sein  die  stelle  von  den  märhen  leeren'.  Wil- 
maoos  hat  dagegen  erinnert,  das  sei  eine  änderung  des  über- 
lieferten; aber  ich  kann  auch  märhen  oder  marhen  nicht  zugeben: 
letzteres  nicht,  weil  marc  ausschliefslich  ein  streitross  ist,  ersteres 
nicht,  weil  die  erwähnung  von  Stuten  im  sinne  des  mittelalters 
etwas  verächtliches  gehabt  hätte  und  Walther  nicht  gehindert 
war,  rossen  oder  pferden  zu  schreiben,  vielmehr  lasse  ich  die 
lesart  zu  recht  bestehn  und  versteh  unter  den  malhen  die  ein- 
zelnen 'stände'  des  Stalles,  das  passt  genau  her  und  würkt  mit 
dem  leeren  zusammen  höchst  concret,  wie  wirs  bei  Walther  ge- 
wohnt sind,  dass  die  mittelalterlichen  stalle  abgeteilte  stände 
gehabt  haben  müssen,  ist  auch  dann  klar,  wenn  sie,  was  ja  wahr- 
scheinlich ist,  nirgends  erwähnt  sein  sollten1;  denn  die  pferde 
waren  damals  gewis  nicht  minder  geneigt  als  jetzt,  sich  zu  beifsen 
und  zu  schlagen. 

Kann  malhe  diese  bedeutung  haben?  am  meisten  über  das 
wort  gibt  Zarnckes  Narrenschiff  s.  364.  die  dort  angeführten 
lateinischen  synonyma  bezeichnen  alle  einen  gröfsern  sack  2  oder 
dgl.  für  irgend  welchen  inhalt,  das  darunter  erscheinende  zaberna 
meint  eine  kiste  oder  dgl.  eine  elymologie  des  wortes  ist,  so 
viel  ich  sehe,  nie  versucht  worden;  aber  sie  sei  welche  sie  wolle: 
wenn  aus  pyxis  'buchsbaumholz,  büchschen'  ein  engl,  box  wurde, 
das  neben   allem    möglichen    andern   auch    einen  reisekoffer  und 

1  bei  Pfeiffer  und  bei  Jahns  findet  sich  nichts. 

2  vgl.  'Sackgasse'. 


WALTHERIANA  L59 

•■inen  pferdestand  im  Blall  bedeutet,  so  ist  dasselbe  bei  malhe 
auch  möglich,  auch  engl,  crib  vereinigt  ganz  ünnliche  bedeu- 
luogeo.  dass  aber  malhe  in  dieser  bedeulung  nirgends  sonsl 
nachzuweisen  ist,  wird  jeder  rerstehn;  es  würde  niemand  wun- 
dern, «renn  ein  worl  für  fliesen  begriff  aus  alter  zeit  Oberhaupt 
nicht  auf  uns  gekommen  wäre,  ilie  eonstruclion  von  den  stellen 
braucht  ja,  um  niemand  zu  bindern,  blofs  prägnant  genommen 
zu  werden  'aus  den  stallen   heran-'. 

Tübingen,  20  februar  1907.  HERMANN  FISCHER. 


ARO LS KR  BRUCHSTÜCK 
VOM  ERSTEN  BUCHE  DES  PASSIONALS. 

Beim  ordnen  waldeckischer  archivalien  fand  mein  verehrter 
freund  G  Könnecke  na.  ein  stattliches  blalt  von  einer  hs.  des  Passio- 
nals,  das  im  klosier  Hei  ich  ao.  1500  zum  Umschlag  einer  rech  nun g 
verwant  worden  ist.  das  blalt  ist  340  mm.  hoch,  220  mm.  breit, 
der  zweispaltig  beschriebene  räum  entsprechend  270x174  mm.; 
die  einzelspalte  79  mm.  breit,  die  38  Zeilenanfänge  slehn  genau 
untereinander  und  beginnen  mit  rot  durchstrichener  minuskel;  am 
beginne  jeder  columne  steht  eine  majuskel  mit  roter  arabeske.  es 
kommt  ein  capitelanfang  (Hahn  180,  42)  mit  rotblauer  initiale  vor, 
die  durch  fünf  Zeilen  geht,  ein  kleinerer  blauer  inilialbuchstabe 
eröffnet  einen  abschnitt  (181,  32).  die  hs.  gehört  der  ersten  hdlfte 
des  14  jh.s  an.  um  die  Zugehörigkeit  weiterer  fragmente  zu  be- 
stimmen, heb  ich  noch  hervor,  dass  die  vocale  u,  il,  uo,  üe,  in 
gleichmäßig  als  u  geschrieben  sind,  wobei  das  kleine  o  mit  feinerem 
federzug  nachträglich  angebracht  scheint. 

Das  angebot  von  neuen  fragmenten  des  Passionais  {und  der 
Weltchronik !)  gehört  zu  den  schrecken  des  redacteurs  :  zumeist  frei- 
lich handelt  es  sich  dabei  um  bruchslücke  des  von  Köpke  heraus- 
gegebenen dritten  teils,  wahrend  die  Überlieferung  des  ersten  und 
zweiten  sehr  viel  spärlicher  ist.  hier  haben  wir  den  schluss  des 
Petrus  und  den  anfang  des  Paulus  aus  dem  ersten  teile  :  Hahn 
179,80 — 181,47;  immerhin  genügt  die  mitleilung  der  lesarlen, 
wobei  ich  vom  orthographischen  soviel  gebe  als  mir  zur  Charak- 
teristik der  hs.  wünschenswert  scheint,  textkritisch  wichtige  Varianten 
druck  ich  gesperrt. 


160         SCHRÖDER  RRUCHSTÜCK  DES  PASSIONALS 

179,80  Da  hin  v.  81  vnd  möge  in  follem  friede 
wesen  82  vil  fehlt  83  volg  immer  84   was  immer 

85  irhangen      S6  widirwart      87  waren      88  hoübit      90  güder 
lüde         91    waren    aller    froüden  92    yre    weinende 

93  vnsir        irbot  (so  meist)         94  zu  eime 

180,  1  myde  he  2  hatte  immer  3  offenlich  5  vnde 
fehlt  henden  schapele  6  vnd  immer  8  lieplich  en  ir  leit 
wart  11  büchstaben  12  durch  seh  rieben  13  froüden 
14  dise  worte  der  15  lieber  herre  16  allez  immer 
17  an  nicht  18  ane  genügen  wolle  19  danken  liebir 
20  mime  22  daz  23  myde  immer  24  vnd  leben  25  eme 
stets  froflden  30  godis  giouben  haden  31  raden  32  weg 
34  in  godis  n.      36  wörtzten  en      38  he  (so  und  her  abwechselnd) 

werdikeit  39  grap  40  midewist  vor  42  keine  Überschrift 
42  faz  43  vsz  dem  gnaden  44  eme  stets  45  er  were 
fehlt  46  he  an  tzuifel  47  want  en  selber  48  he 
49  vfz  scheiden  50  vngloüben  51  an  en  52  aptgode 
53  bode  54  eme  hatte  55  konneschafft  58  mit  meister- 
lichir  60  blozlich  61  vol  fehlt  62  vff  den  64  an 
65  miteiehen]  meinde  iehende       66  gap  da       sine       67  beging 

»charpen  68  dem  güden  69  dem  70  da  xpus  gemartelet 
74  zu  eime  boden  godis  75  gebodes  76  daz  w.  künde]  hat 
daz  wol  77  sichz  78  he  wart  vmme  80  ee  dau  he 
S2  dem  83  eine  85  zu  samene  86  gnüg  87  vorthe  sie 
züslüg       88  ygelicher  virbarg      89  want       en  was  noch  zu  starg 

181,  1  hatten  2  dem  3  dar  an  v.  5  durch  got 
6  edel  hüder  7  wüder  8  eme  sin  blintheit  9  gloübigen 
10  her  vmb  fpflrte  11  wol  fehlt  12  wise  fehlt  13  nüwiu 
14  giouben  v.  15  virbrechin  vnd  beroüben  16  sin  betrübete 
17  he  daz  oüch  vbete  18  he  20  swo  eme  21  do  hin 
hüb  her  22  her  üff  24  iz  odir  25  he  27  gefenkenüsse 
28  biz  30  si]  yn  31  gelouben  fehlt  32  Paulus  godis 
33  harte  spotis  34  mit]  an  treip  35  stede  bleip  v.  36 
als  he  wol  irtzoügete  37  her  die  güden  38  gloüben  39  zu 
eimale  vil  her  40  he  42  verlieren  43  widir  weren 
44  began  en       45  he  ging  zu       46  sagete 


Göttingen. 


EDWARD  SCHRÖDER, 


EINE  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 
DES   !  I  JAHRHUNDERTS 

IN  DER  SCHL0SSBJBL10THEK  ZI    HEUDRINGEN  (KR.  ARNSBERG). 

Als  ich  im  vergangenen  jähre  dank  drin  freundlichen  e»J- 
gegenkommen  des  herrn  grafen  von  Fürstenberg  und  seiner  kunst- 
sinnigen gemahlin  die  handschriftenschätze  der  Schlossbibliothek  :n 
Herdringen  für  du-  deutsche  commission  der  Berliner  akademie  de* 
Wissenschaften  inventarisieren  durflet  stieß  ich  in  einer  miscellan- 
handschrift  des  14  Jahrhunderts  avf  eine  20  nnmmern  zählende 
Sammlung  von  vaganlenliedern.  der  glückliche  fund  muste  mich 
umsomehr  überraschen,  als  in  dem  gedruckten  kataloge  der  biblio- 
thek  (h'üln  1895J  der  gedichte  Leine  erwähnung  geschieht,  vielmehr 
nur  '.\  gröfsere  stücke  des  codex  titelmäfsig  aufgeführt  weiden. 
es  ist  abermals  ein  benedictinerkloster,  dem  wir  die  neue  vaganten- 
lieder-auslese  zu  verdanken  Italien  :  SJacob  zu  Lüttich.  manche 
dieses  Stifts  hohen  wahrscheinlich  den  ganzen  band  zusammen- 
geschrieben,  sicher  gehören  <lie  13  und  1-1  läge  dorthin,  denn 
von  derselben  hand,  welche  «He  stücke  dieser  beiden  lagen  auf  ge- 
ebnet und  zahlreiche  andere  nummein  mit  Überschriften  ver- 
sehen hat,  ist  auf  der  rückseite  des  1,  nicht  gezählten  blatte»  der 
besitzvermerk  von  SJacob  eingetragen  :  Liber  mouaslerii  saneti 
incolti  leodiensis.  auch  mitten  im  bände  (bl.  i.xviv  kehrt  diese 
notiz  noch  einmal  wieder,  unter  dem  ersten  vermerk  steht  in  roter 
schrift  die  alte  Signatur  :  II.  104;  auf  dem  oberen  runde  des  1  ge- 
zählten blatls  ist  sie  widerholt  und  hinzugefügt  :  A  x  60.  auj  der 
mneuseite  des  ziemlich  defecten  pergament  Umschlags  ist  die  Hand- 
schrift im  17  oder  IS  Jahrhundert  N.  l\'-\  in  .Imisiis  signiert. 
in  der  bibliolhek  des  l'ilrstenb ergischen  Schlosses  Adolfsburg  [kr. 
Olpe),  von  wo  die  Handschriften  erst  vor  wenigen  jähren  noch  dem 
prächtigen  Herdringen  überführt  siml  (während  die  grofse  druck- 
schriflensammlung  noch  auf  der  Adolfsburg  aufbewahrt  wird),  tmg 
das  manuscript  die  nummer  Ms.  51.  fast  über  den  ganzen  rücken 
des  bandes  ist  ein  langer  wei/ser  zelte!  geklebt  mit  der  aufschrift : 
Ms.  51.  Varia.  Tbomae  Anglici  Psalterium.  Expositio  Bibliac. 
Egidii  versus  de  Urinis.  diese  kurze  Inhaltsangabe  ist  auch  in 
den  gedruckten  kalalog  übergegangen,  in  dem  der  band  unter 
nr.  57  verzeichnet  ist. 

Z.  F.  D.  A.   NLIX.     N.  F.  XXX Vli.  11 


162  BUMER 

Die  erhaltung  der  Handschrift  lässt  viel  zu  (ethischen  übrig, 
das  papier  hat  unter  dem  augenscheinlich  sehr  fleifsigen  gebrauche 
und  dazu  noch  unter  feuchtigkeit  slaik  gelitten,  die  heftung  ist 
so  schadhaft  geworden,  dass  die  meisten  lagen  lose  in  dem  bände 
liegen,  von  mehreren  leeren  blättern  sind  grofse  teile  abgerissen» 
aber  auch  ein  beschriebenes  (124)  ist  von  einer  solchen  beschädignng 
betroffen.  4  blätter  sind  ganz  ausgerissen,  doch  war  lxlvi  sicher, 
cxlv— cxLvii  wahrscheinlich  leer. 

Im  bände  finden  sich  zwei  alle  foliierungen: 

1)  auf  der  Vorderseite  der  blätter  mit  arabischen  zahlen,  bis 
133  reichend  (das  vorderste  blatt  nicht  mitgezählt); 

2)  auf  der  rückseite  der  bll.  mit  römischen  zahlen,  mit  dem 
vierten  von  4  leeren  bll.  zwischen  SO  und  52  (von  denen  nur 
das  erste  [81]  foliiert  ist)  beginnend,  bis  133  (=  lii)  neben  der 
ersten  herlaufend  und  bis  clv  reichend,  dazu  kommen  am  schluss 
noch  2  nicht  gezählte  bll. 

Ich  gebe  bis  bl.  133  die  erste  foliierung  mit  arabischen,  von 
da  ab  die  zweite  mit  römischen  zahlen  wider. 

Die  Handschrift  besteht  aus  23  lagen,  die  sich  auf  9  ver- 
schiedene cursivhände  folgendermafsen  verteilen: 

1)  läge  1—7  (bl.  1  —  80,  [81,  Sl1" 3  leer]);  2)  läge  8—10 
(bl.  82—103);  3)  läge  11  —  12  (bl.  104—124  [125  leer]);  4)  läge 
13.  14  (bl.  126  [=  xlv] — lxvi);  5)  läge  15  (6/.  lxvh — lxxviii); 
6)  läge  16  (bl.  lxxix — lxxxv);  1)  läge  17  (bl.  lxxxvi — l\l\t,  [lxlvv 
leer,  lxlvi  ausgerissen,  lxlvii  leer]);  8)  läge  18 — 22  (bl.  lxlmii 
—  cliii);  9)  läge  23  (bl.  cliv,  clv  und  2  ungez.  bll.,  von  denen 
jedoch  cliv1,  die  rückseite  des  1  ungez.  und  das  ganze  2  ungez. 
blatt  bis  auf  eine  kleine  notiz  leer). 

Während  die  8  ersten  hünde  in  die  2  hälfte  des  14  Jahr- 
hunderts zu  setzen  sind,  gehört  die  9,  die  sich  auch  durch  aufser- 
ordent/iche  ßüchtigkeit  und  Sorglosigkeit  von  den  übrigen  abhebt, 
erst  der  mitte  'des  15  jahrh.  an.  das  von  ihr  niedergeschriebene 
niederländische  stück  ist  das  einzige  nicht  lateinische  in  dem  bände, 
abgesehen  von  einer  ganz  kurzen,  gleichfalls  nl.  und  gleichfalls 
von  dem  letzten  [schreiber  aufgezeichneten  notiz  auf  der  Vorder- 
seite des  1  nicht  gez.  Mattes,  die  vagantenlieder  verdanken  wir  der 
8  hand.  sie  ist  steil,  kräftig,  in  der  gröfse  etwas  wechselnd,  im 
allgemeinen  aber  ziemlich  sorgfältig  und  gut  lesbar. 


HERDRINGER   VAGANTENLIEDERSAMMLUNG         IC 

Die  höhe  des  bände*  beträgt  '2  2,  die  breite  l.">  cm',  die  gröfu 
des  schriftfeldes  wechselt  bei  den  einzelnen  stücken  beträchtlich,  bei 
den  vagantenliedern  bewegt  sich  seine  hohe  zwischen  17  und  2<>, 
seine  breite  zwischen  12  und  I5ctn.  die  Zeilenzahl  dei  seifen 
variiert  hier  von  28  6m  42.  die  einzelnen  verse  find  um  zu  un- 
fang  des  umfangreichsten  gedichts  über  einige  seiten  hin  abgesetzt, 
gewöhnlich  fafst  die  zeile  2,  bei  geringerer  ausdehnung  auch  '■>.  ja 
seihst  4,  meist  durch  einen  schrägen  strich  von  einander  abgetrennte 
verse.  am  Schlüsse  der  Zeilen  p/legt  ein  punct  zu  stehn.  bei 
einigen  nummem  ist  der  erste  buchstabe  jedes  verses  rot  gestrichelt, 
öfter  aber  nur  der  jeder  zeile.  der  dann  in  der  regel  als  majuskel 
erscheint.  Strophenanfänge  situ!  bei  den  meisten  liedern  durch  ein 
rot  gestricheltes  paragraphenzeichen  markiert,  die  Überschriften 
sind  entweder  rot  unterstrichen  oder  rot  eingefasst. 

Den  inhalt  des  band/es  bildet  ein  buntes  gemisch  von  grofsen 
und  kleinen  stücken  der  verschiedensten  ort.  auf  der  Vorderseite 
iles  1  nicht  gez.  blatts  stehn  aufser  der  erwähnten  nl.  notiz 
:;  lateinische  hexameter  über  die  knechtschajt  (servilium)  und  eine 
schreibübung  mit  dem  ersten  der  hexameter.  die  eigentliche  hand- 
schrift  setzt  sich  aus  folgenden  stücken  zusammen: 

\j    Thomas  Anglicus1,   Expositio  psalterii. 

I  nt er  den  oben  mitgeteilten  besitzvermerk  von  S Jacob  hat 
dieselbe  hand  (4)  geschrieben  :  Thomas  anglicus  [folg.  wort  ver- 
wischt] psalterii,  sed  nou  est  nisi  usque  ad  xxwu  psalmum. 

Auf  dem  oberen  rande  von  bl.   lr  hat  sie  vermerkt: 
Quere  post  2.  folium  expositio  Dem  psalierii. 

Beginn  des  textes  (einleitung)  von  hand   1    bl.   lr: 

Nota  quoniam  homo  non  viilet  viam  per  quam  debei  redire 
qua  vix  superveuiens  viam  aperit  .  .  . 

2 )   Sermon  es  vari  i.    (zweispaltig.) 

Auf.  bl.  82r  :  Sermo  de  purificatioue  beale  marie  virginis. 
[zugefügt  von  hand  4:]  Et  plures  alii  sermones.  teuet  xxu  folia. 
Luce  ii  Cum  inducereot  puenim  ihesum  parentes  eius  et  t'acerent 
secuudum  consuetudinem  leiiis  .  .  . 

3)  Expositio  quaedam  supra  totam  bibliam 

Anf.  bl.   104*:   [Überschrift  von  hand  4  wie  angeführt.] 

DE  prologo  in  geoesi  q  Prologus  est  proloqutio  .  .  . 

1  =  Thomas  Jorsüu  {de  Jort)  oder  ThWalleruis  {Waleyt\\  vgl. 
Dictionary  uf  nat.  biography  s.  >•.  Joyz  h.  WaUensit. 

11" 


164 


BÖMER 


4)  Versus  Egidii  de  urinis.    mit  kurzen  randbemerkungen 

und  angehängter  gfosse  zu  den  ersten  100  »o.1.    (verse  abgesetzt.) 

An  f.  bl.  126 r :  [Überschrift  von  hand  4  wie  angeführt.] 

lciiur  urina  quoniam  sit  reoibus  una  .  .  . 
Auf.  der  glosse  bl.  130y  [=  xlix].    [Überschrift  von  hand  4]: 
glossa  super  versibus  egidii  de  urinis  usque  ad  C.  versum. 

]On   intellecti  nulla  est  curatio  morbi  propositio  est  anti- 
ciaudiani  .  .  . 

5)  De  grammatica. 
Anf.  bl.  lix1  :  De  gramatica  tenet  sex  lolia. 
Orthograpbia  est  una  pars  principalis  gramatiche  .  .  . 

6)  Di  versa  medicamina.   (zweispaltig.) 
Anf.  bl.  Lxvra  :   Diversa  medicamina 
Si  hu  mores  fervidi  habundaul  .  .  . 

7)  Expositio  passionis  Ihesu   Christi.    Item  sermo 
in  adventu  domini.   Item  expositio  epistolae  dominica 
in  passione.    Item  epistolae  in  ramis  palmarum.    Item 
expositio  epistolae  in    die  sanctae  pascae.     (zweispaltig.) 

Anf.  Lxvnra  :  [Überschrift  von  hand  4,  wie  angeführt.] 

principes  litus  et  vespasianus  .  .  . 

8)   Quaedam  de  regimine  nominalivi  et  genitivi. 
Anf.  lxxix1  :  [Überschrift  von  hand  4,  wie  angeführt.] 
Videamus  quomodo  una  dictio  regitur  ab  alia  .  .  . 

9)    Godefridus  de  Tenis-.     (unvollständig.) 
V.    1 — 14   mit    interlinearglossen.     zu    an  fang   und   ende  des 

sliicks  am  rande  commenlar  in  kleinerer  schrift,  von  derselben  hand. 

(verse  abgesetzt.) 

Anf.  Lxxxr     [Überschrift   von  hand  4]:     Godefridus  de  teuis 

sed   non   est  completus. 

Clirisle  regis  qui   nos  in  nie  sensus  rege  quinos. 

10)  Lebensregeln  in  versen.    (zweispaltig,  verse  abgesetzt.) 
Anf.  Lxxxira; 

Dogmala   legitima   vir   mente  sagax   legit   yma. 

48  verse. 

1  vgl.  zb.  Schum  Beschreib,  verz.  der  A  m  ploni  anischen  hss.-sammiung 
zu  Erfurt  (1837),  fol.  nr  238  (1Ü)  //.  od.  nr  62b  (9);  zu  den  glossen  : 
Verz.  der  tat.  h$s.  d.  kgl.  bibl.  zu  Berlin  H  nr  907  (2). 

2  =  Godefridus  de  At/ierüs,  Carmen  cui  Omne  punctum  inscribilur. 
vgl.  Schum,  qu.  nr  49  (2i. 


HERDRINGER  VAGANTENLIKDKIISA.MMU  X.         165 
II)    Cisioja » us,  mit  interlinearglossen. 

Auf.   i.xxxi'1': 
circum  ianui  phaoia  a?a  li  i 

cisio  ianus  epi.     s.  vendicat  oct.     feli    marcel 

2  1   verse. 

1 2)  S  chül  errege  In.    [dreispaltig ;  verse  abgesetzt. ) 
\n/.  i\wiy'1  [Überschrift  von  hand  -\\:  Rigmata. 
Armes  lili  peclora  doclrinarum  iculis 
1 1 1  oierxeilige  ttrophen. 

13.)  Catonis  Disticha  in  rythmische  verse  umgesetzt. 
{dreispaltig;  verse  abgesetzt.) 
An  f.  i.xxxiiv  :  llic  iocipit  chalo  rigmale  dalus 
Ciini  animadverterem  quam  plurimos  errare. 

130  rierzeilige  Strophen. 

1  h  Hymnus  auf  S jV icolaus. 
Vgl.   Chevalier  Repertorium   hymnologicum  i  254. 
(bl.  i.xxxvv  vierspaltiij :  verse  abgesetzt.) 
Auf.  ixxxvva:  de  sancto  oicholao 

De  pns  miraculis  .  .  . 
1 1   Strophen. 

15)  Hymnus  auf  S Katharina. 
Vgl.   Chevalier  Rep.  hymn.  u   15t>. 

(verse  abgesetzt.) 
Auf.  i.xxxvvl'  [Überschrift  von  hand  1]:  Item  de  saocta Kaiherina 
Nove  laudis  studio  .  .  . 
S  Strophen. 

16)     Rigmata  de   figuris  grammaticae.     (verse   abgesetzt.) 
Anf.  lxxxvvc  :  [Überschrift  von  hand  4,  wie  angeführt.] 
Methaplasmus  dicitur  liec  prima  flgura 

108  verse. 

17)  De  f leubot homiaK     (verse  abgesetzt. | 
Anf.  i.xxxvir;  De  fleunolhomia 

Lumina  clarilicat  sincerat  tleubolhomia. 
44  verse. 

IS)  De  septem  horis  canonicis. 
Anf.  lxxxvii1  ;  De  septem  horis  Canonicis 
i  Epties  in  die  laudem  dixi  tibi  .  .  . 

*  =  ftebutomia  i.e.  venae  seclione. 


166  BÖMER 

19)   De  quibusdam  dictionibns  utrum   supra  paennlti- 
mam  aut  siipra   antepaenultima  m   principalem   accen- 

tum  debeant  habere. 

Anf.  lxlviii1  :  [Überschrift  von  hand  4,  wie  angeführt.) 
Sapientis  est  desidie  non  succumbere  marcessenti  .  .  . 

2<>)   De  monacho  infortunato. 
Auf.  cir  :  De  Monacho  iulorlunato 

De   cuiusdam    clausiralis    vita    et   moribus   fratres   Karissimi 
paiumper  disserere  cupiens  .  .  . 

(21-24.27— 38)  Vagantenlieder,  1  teil,  (nr  1—4.  5-15.) 

Von  2  prosastücken  (25.  26)  unterbrochen. 

21   (1).    De  vestium  transformatione. 

{In  den  ersten  10  Zeilen  keine  bestimmte  versverteilung ;  von 
z.  11  an  3  verse  in  der  zeile;  zeilenanf.   in  rot  gestr.  majuskeln.) 
Anf.  eil*  :  De  vestium  transformatione. 
q  In    nova    fer[!j  animus    mutatas   dicere   formas    Corpora. 

dij  ceptis  |  uam  vos  mutastis  et  illas 
aspirate  meis.    Ego  dixi  dij  estis  |  que  dicenda  sunt  in  festis, 
quare  prelermitterem? 
78  Zeilen. 

22  (2).    Comoedia  goliardorum. 
(verse  nicht  abges.;  strophenanf.  rot  gestr.) 

Anf.  ciur r :  Comedia  goliardorum. 

Talis  versus  facio  quäle  viuum  bibo  |  nicbil    possum   lacere 
nisi  sumpto  cibo  |  nichil  valet  penitus. 
7  zeilen. 

23  (3).   lnvectio  contra  sacerdotes. 
(4  verse  in  d.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.) 
Anf.  cuiir  :  lnvectio  contra  sacerdotes. 
q  Sacerdotes  mementote  |  nichil  maius  sacerdote  |  qui  dotatus 
sacra  dote  |  dei  servit  et  devote. 
14  zeilen. 

24  (4).    lnvectio   contra   praelatos. 
(2  verse  in  d.  z.;    zeilenanf.  rot  gestr.;    vor  jed.  str.  para- 
graphenzeichen.) 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLl  NG 

Anf.  «im  * :  q   luveclio  contra  prelatos. 
q  Estuaus  iotriusecus  ir<«  vehemeoli     m  amaritudine  loquar 
mee  meoli. 
Hier  zunächst  <i  zeilen, 
Daruntei  :  Kequire  lale  sign  um  io  Polio  sequeute  :  •     s.  stück  2 

25J   Oratio  Matnelii*  archiepiscopi  Rothomagensit  ail 

b  ea  ta  in  v  ii  g  i  »  t  m. 
Anf.  ciiii T  :  Oratio   mamelij  [1]  archiepiscopi    rothomageusis 

ad  bealam  virgioem  mariam. 
Siogularis    meriti    sola  sine  exemplo  |  mater  t-t  virgo  sancta 
maria  .  .  . 

26)    Virtutes   speculi   ardentis  facti    ex  pura   materia 

Lnnae  et  Met  c  u r i i. 
Auf.  r.v*  :  Incipiuot  virtutes  >|)«'culi  ardentis  .  .  . 

27   (Forts,  von  24  C4)). 
Auf.  cvT;q  Ail  lerrorem  omnium  verum  locuturus  |  nichil 
esl  quod  limeara  valde  sum  securus. 

Noch  l'.t  zeilen. 

28  (ö).    Tractatus  de  partu  beatae  virginis. 
(3  verse  in  <i.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.) 
Auf.  iv'  :  q  Tractatus  de  partu  beate  virginis 
q  Graluletur   nmnis    muodus  |  »•(  festioet  »><e  muudus  |  ab 
immundo  crimine. 
28    zeilen. 

2'.»  ((*>).    Principium   magistrale. 
(3  verse  in  d.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.) 
Anf.  cvir  :  q  Priocipium  magistrale 

q    l»»>ctur    ave    flos   docturum  |  preces    audi    puerorum     tibi 
supplicantinm. 
20  zeilen. 

3<>  (7j.     Rhythmus  goliardorum. 
(2  verse  in   d.z.;  zeilenanf.  rot  gestr.;    vor  jed.  str.  par.-z.) 
Anf.  cviT  :  q  Ritmus  goliardorum 

q  Tempus  acceplabile  tempus  est  salutis  |  tempus  est  excu- 
tere  jugum  servitutis. 
26  zeilen. 

1  wut  statt  Maurilii,  lo55 — 67. 


168 


BUMEK 


31   (S).    Evangelium  de  illo   qui  incidit  in  latrones. 
(2  verse  in  d.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.;    vor  jed.  str.  par.-z.) 
An/.  cviir  :  q  Ewangelium  de  illo,  qui  incidit  in  latrones 
q   Lettin    sancti    ewangelii    secundum    lucam  |  ut  vice    pres- 
bileri   nescientes  ducam. 
40  zeilen. 

32  (9).    Altercatio  vini  et  cerevisiae. 
(2  verse  in  d.  z. ;  zeilenanf.  rot.  gestr. ;    vor  jed.  str.  par.-z.) 
An  f.  cvuv  :  q  Altercalio  vini  et  cervisie 
q  Lmlens  ludis  miscebo  seria  |  ne  l'atiseant  mentes  per  ledia. 

31  zeilen. 

33  (10).    Principium  magistrale. 
(2  verse  in  d.  z. ;  auf.  jed.  v.  rot  geslr.;  vor  jed.  str.  par.-z.) 
An  f.  c  v  1 1 1 r  :  q  Principium  magistrale. 

q  Summe    »lator    munerum    dominans    in    celo   |  ad  le  salus 
pauperum  tumidus  anhelo. 
4(3  zeilen. 

34  (11).    Castigatio  presbyterorum. 
(2  verse  in  d.  z.;  an  f.  jed.  v.  rot  gestr.;  vor.  jed.  str.  par.-z.) 
An  f.  ux1  :  Castigatio  presbiterorum. 

q    Viri    beatissimi    sacerdoles    dej        piecones    altissimi    lu- 
cerue  die]. 
34  zeilen. 

35  (12).     Versus  Primatis   contra  praelalos  et  clericos. 
(2  yer.se  in  d.  z.;  an  f.  jed.  v.  rot  gestr.) 
An  f.  cix¥  :  q   Versus  primatis  contra  prelalos  et  clericos. 
q    Cur   ultra    studeam    probus   esse    probusque    videri.    Aul 
inier  socios  i'amam  cum  laude  mereri. 
56  zeilen. 

36  (13).    De  victoria  Parmensi. 
(2  verse  in  d.  z. ;  auf.  jed.  v.  rot  gestr. ;  vor  jed.  str.  par.-z.) 
An  f.  cxv  :  De  victoria  parmensi. 

q   Cum  ad  verum  veutuin  est  veros  per  rumores  |  papa  paler 
dominum   laudes  et  bonores 
70  zeilen. 

37  (14).    Conquestio    Primatis  expulsi  de  domo   lepro- 

s  o  r  n  m. 

(meistens  3  verse  in  d.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.;  vor  jed.  str.  par.-z.) 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMU  NG         169 

Auf.  cxi"  :  Conquestio  primaria  expulai  de  domo  leproaorum. 

q    Dives    eram    el    dilectua  |  Inter   parea   preelectua  |  i lo 

curvat  me  seoeclua  | 
15  teilen. 

38  (15).   Petitio  Primatis  porrecta  papae  pro  beneficio 

obtinen  do. 
(4  oder  -\  verse  in  d.  s.;    xeilenanf.   rot  geslr.;   vor   fedet 
str.  par.'Z.) 

\nf.  i  \n r  :  Petitio  primatis  porrecta  pnp«;  pro  beneficio  ob- 

tinendo. 
q  Tanto  viro  locuturi     sludeamus   esse  puri       sed  el  loqiii 
sobrie.     Carinii  decet  veoerari. 
56  Zeilen. 
!'.»)    Hymnus  :  Dulcis  Jesu    memoria    [gew.:  Jesu  dulcis 

memoria  |. 
Vgl.  Chevalier  Repertorium  hymnologicum  i  294. 
Auf.  cxm1  :  q  De  booilate  «lei  [zugeschr.  von  band  4  :J    est 
melodia  sancii  Beroardi  sed  qod  est  Im-  compleia 
q  Dulcis  ibesu  memoria  .  .  . 

6  Zeilen. 

Jih   Allerlei  kurze  med  icin  ische  rat  schlage,  recepte  etc. 
Auf.  cxm1  :  q  l>*'  regimine  sanitatis. 

q  All  regendum  sanitalem  corporis  scieodura    quod  «liyestio 
per  desiderium  mullura  iuvatur  .  .  . 

62  zeilen.     (forts.  :  nr  49.) 

41 — 45)  Vagantenlleder.    2  teil  (nr  10— 20). 

41  (16).    Apocalypsis  Goliar dorum. 

a)  Die  30  ersten  Strophen  des  gedicktes. 

dreispaltig;  jeder  vers  abgesetzt;  keine  rote  strichelung.  die  6  ersten 

und  in  letzten    der  30  Strophen    in    einer  der    bücherschrift    sich 

nähernden  cursive.) 

Anf.  cxiui™  :  Apocalipsis  Galiardorum  [1] 

A   Tauro  torriila  lampade  cinlhii 

1*20  verse. 
■  \iiii  v  leer. 

I>)  das  ganze  gedieht. 

(bl.  cxv-  :  dreispaltig;   cxv*,  cxvi"  :  zweispaltig,  hier  die  ein- 
zelnen verse  abgesetzt.  —  cxui"  :  einspaltig.  2  verse  in  der  zeile. 


I7i) 


130MEK 


die  33  ersten  slrophen  wie  anfang  und  ende  von  a)  in  einer  aer 
bücherschrifl  nahe  kommenden  cursive.  —  zeilenanf.  rot  gestr., 
vor  jeder  str.  par.-z.) 

Auf.  cxvra  :  In   nomine  domiui  nostri  ibesu  christi  amen. 

A   Tauro  torrida  lampade  cinthii 

108  Strophen. 

42  (17).    Principium  magistrale. 

(2  verse  in  d.  z.;    cxviur  die  anf.  der  zeilen,     cx\myf.  die 
anf.  der  verse  rot  gestr. ;  vor  jed.  str.  par.-z.) 
Anf.  cxviiir:q  Principium  magistrale 
cj  Cunctipotens  genitor  princeps  maiestatis  |  occultorum  cog- 
nitor  ime  deitatis. 
70  zeilen. 

43  (18).    De  transfretantibus. 

(2  verse  in  d.  z.;  zeilenanf.  rot  gestr.;   vor  jed.  str.  par.-z.) 
Anf.  cxixT:  cj  De  transfretantibus. 

cj  Amore  summj  judicis  crucem  debemus  tollere  |  atque  rerum 
opificis  uomine  derelinquere. 
16  zeilen. 

44  (19).    Comoedia  de  adventu  Antichristi. 

(2  verse  in  d.  z.;   zeilenanf.  rot  gestr.;   vor  jed.  str.  par.-z.) 
Anf.   cxix"  :  q   Comedia  de  adventu  anticristi. 
c)    Dum    contemplor    animo    seculi    tenorem       reproborum 
gaudia  proborum  merorem. 
54  zeilen. 

45  (20).    Comoedia  magistralis  redarguens  vitia. 

(2  verse  in  d.  z.;  anf.  der  verse  rot  gestr.;  vor  Jed.  str.  par.-z.) 
Anf.  cxxv  :  q  Comedia  magistralis  redarguens  vitia. 
q    Elicouis    rivulo    modice    respersus  |   vereor    ne    pondere 
sim  verborum  pressus. 
60  zeilen. 


46)     Die    unter    Alkuins    nanien  gelinden    rechenrütsel 
(Propositiones  ad  acuendos  juvenes). 

(Weichen  vom  dem  druck  in  Alcuini  Opera  ed.  Frobenius  ii, 
440 ff  sowol  in  der  reihenfolge  der  stücke  als  auch  in  einzel- 
heiten  ab.) 


HERDRINGER   VAGANTENL1EDERSAMMLI  NG         171 

Im/",  cxxii    [übenchr.  von  hand   1    :  aduinaliooes  [/]  per  mo- 

iliiiu  Imli. 
q  Questio  <lt*  limace. 
q  Limax  fuil  ab  hirundioe  invilalus  ad  praodium  .  .  . 

17  *>      /'/  0  ji  n  s  1 1  io  n 

17. 
\n/.   i  \x\ii    : 

q  Propositio  ad  inveuieodum  quanlum   quis   proposueril 

aoimo  mim  se  velle  habere. 

q  Assumatur  numerus  quilibet  at  Lriplicetur  .  .  . 

39  zeih' n. 

18. 
Auf.  cxxviii'  :  lit'in  aliter. 

Quomodo  divioandum  sil  qua  feria  septimane  quilibet  homo 

rem  quamlibet  fecisset. 

12   Zeilen. 

üxxviu'   oben   ist   noch  eine  Quaestio   von   3   Zeilen   nachgeholt. 

19)   Forts,  der  in edici ni sehen  ratschlage,  stück  40. 
Anf.   cxwiii    : 

q  Albertus.  Qui  habueril  dolorem  deolium  et  posuerit  dentem 
leporis  io  loco  doloris  auferet  dolorem  .  .  . 

5<»)  Belehrung  über  heilkraut  er,  heilsame  getränke  etc. 
Anf.  cxxx'  ;  De  Menta. 
Meuta  est  calida  et  sicca  .  .  . 

51)  Oratio  St.  Augustini. 

Anf.  cxxxn1  :  Oratio  beati  augustini.    quam  scripsit  dietaute 

angelo. 

q  Domioe  deus  omnipotens  qui  trinus  et  uinis  .  .  . 

18  zeilen. 
■  wxiii  leer. 

52)  Gesundheitsregeln  in  versen. 
Anf.  cxxxiv'  :  Si  vioum  rubrum  oimium  quaudoque  bibatui 

4S  zeilen. 

53)  Regt  tuen  sanitalis.     Das  bekannte,    häufig  gedruckte  lehr- 
gedicht  der  schule  von  Salerno. 
Auf.  cxxxvr  [überschr.  von  hand  4]: 
De  regimine  et  conservalione  sauitatis  jdures  versus 


172 


BÖMER 


Beginn  des  texies: 

Si  vis  incolumem  si  vis  te  reddere  sanum  .  .  . 

cxlv — vii  ausgeschnitten. 

~)A\    Disputatio  inter  daemones  et  genus  humanuni. 
An  f.  cxLvmr  [unten  auf  dem  rand  des  blattes  von  hand  4j : 
Disputatio  inter  demones  et  genus  humanuni. 
Beginn  des  texies: 

NUstis    karissimi    qualiter    salhanas    subiectus    viscera   lüde 
procurnvit  .  .  . 

55)    Erzählung  von  einem  Verehrer  der  Jungfrau 

M  aria. 
Anf.  cliv  :  Relatum    fuit    aurelianis  a  quodam    fratre    in  die 
purificationis  beatissime  virginis  marie  quod  quidam  fuit  sedulus 
in  servicio  beate  virginis  peccalor  lamen  .  .  . 

28  zeilen. 

56)  Brief  des   evangelisten  Lukas  an  Galenus  mit  ein- 

leitung. 
Anf.  clit  :  Galienus  summus  medicus  petiit  a  sancto  luca  ewan- 
gelista.  quatenus  inluitu  pietatis  et  amore  summe  divinitatis  totius 
corporis    et   anime    sanitatem    in    epistola   brevissima    ei  scribere 
non  dedignaretur  .  .  . 

13  zeilen. 

57)  Bemerkenswerte  ausspräche  von  Augustinus, 

Sokrates,  Heraklit,  Pythagoras  uaa. 

Anf.  cur  :  Augustinus.  Ebrittas  aufert  memoriam  .  .  . 

54  zeilen. 

5S)  De  natura  apium. 
Anf.  cliiv  :  Apes  unitissima  quedam  volatilia  sunt.  .  . 

22  zeilen. 

59)  De  atomis. 
Anf.  cLiir  [überschr.  von  hand  4]  :  De  athomis 
Athomorum  genera  sunt  quinque  .  .  . 

7  zeilen. 

60)  Ausspräche  von  Augustinus. 

Dicit  tibi  cristus.     Da  mihi 
ex  eo  quod  dedi  tibi  .  .  . 

8  zeilen. 


Anf.  clih 


Augustinus  ad  avarum. 


HERDRINGER  VAGANTEN  LIED  ERSAMMLI  NG         17:; 

61/2).    Vadu  mori.    '1  gedichte  in  verschiedenen   netren 

61. 

Auf.  i  i.in"  :  Vado  mori  dives  |  aurum  vel  copia  rerum 

(17    Zeilen. 

62. 

.1/'/.  ei  in     :  Sequilar  de  eodem  ;ili;i  Bpecies  metri. 

Vado  mori  |  1 1  ii. Hur''  cedo  i  ecedo 

l  l  teilen. 
63)    De  avaro. 
An/.  cLin,b  :  De  avaro.    fbrluna  avaro. 
Pone  modum  |  pooaro  |  pele  quid  vi-  .  .  . 

4    Zeilen. 
CLilii '  leer. 

6 1)  Brief  des  papstes    Pins  n    medicin.  inhalts.  in  nd. 

übersetz  ung. 
In/,  cliiii'  :  Dil   eeu  epislel    des    paus    pius    ghenoeml    « 1  i  *  - 

iwt-ili'   |im>  medecyu    iheglieu  der....    unleserliches  wort. 

Unterzeichnet  :  Ini  iaer  ons  heren  duseot  vierhonderl  enn  xlvj 

Amen  '. 
clv1     ii.  i  i.\-r  leer. 

*  i.\  -    ton  späterer  band  kurze  lateinische  notizen. 
Misse  saneli  Gregorii 
Di*  Siincla   liinitale   ii] 
9  Zeilen. 


Die  Vagantenliede. / s "  //'  m  I u  n  <j . 
Von  den  20  in  der  beschriebenen  hs.  vereinigten  vaganlen- 
liedern  sind  (.l  meines  wissens  bislang  noch  nicht  gedruckt:  nr  1. 
4.  6.  & — 10.  13.  17.  1^.  der  ausdruck  vagantenlieder  ist  hier  im 
weitesten  sinne  zu  verstehen,  insofern  als  einige  der  stücke  zwai 
sicher  nicht  aus  dem  kreise  der  fahi enden  hervorgegangen  sein  werden, 
aber  ganz  im  tone  der  vagantenpoesie  gedichtet  sind  und  deshalb 
auch  in  der  vorliegenden  Sammlung  mitten  zwischen  eckten  Vertretern 
dieses  litteraturzweiges  platz  gefunden  haben,  zwei  der  ungedruckten 
gedichte,  nr  13  und  IS,  beziehen  sich  auf  historische  ereignisse  und 

1  Aeneas  Siloiut   bestieg    145*5    den   päpstlichen   stuhl,     da    er    hier 
schon    papst    Pius  li    genannt   wird,    fällt    die    kaum    lesbare,    lliich 
niederschrift  des  sli/ckes  nach   14ö->. 


174  HUMER 

lassen    sich    zeitlich    ziemlich    genau    filieren,     nr  13  hesinyt   den 
siey  der  Stadt  Parma  über  das  belayerunysheer  kaiser  Friedrichs  u 
im  jähre  1248   und  ist  offenbar  kurz  nach  der  glänzenden  waffen- 
tat  gedichtet,     nr  18  ist  ein  werbelied  für  den  unglücklichen  kr euz- 
zug  des  französischen    königs  Ludwig  des  Heiligen,  der  gleichfalls 
124S  unternommen  wurde,     die  beiden  gedichte  gehören  also  schon 
der  zeit  des  niederganges  der  vagantenpoesie  an.     als  ein  späteres 
erzeugnis  verrät  sich  durch  die  aufser gewöhnlich  grofse  menge  ein- 
gemischter nationalsprachlicher  Sätze  und  Satzteile  vielleicht  auch  nr  l, 
eine  klage  über  den  geiz  der  reichen,  der  sich  in  mannigfaltigen  Ver- 
änderungen aller  kleidunysstücke  offenbare,    die  heimatliche  spräche 
des  dichters  ist  die  französische,     toie    bei  ihm  die  form,   so  weist 
bei  dem  Verfasser  des  krenzzugsliedes  der  inhalt  seines  sanges  nach 
Frankreich,     drei  stücke,  nr  6,  10  n.  17,  sind  Principia  magistralia. 
Principium  hiefs  ein  feierlicher  act,  der  auf  der  Universität  Paris 
zur  erlangung  der  doctorwürde  im  gebrauch  war.     unsere  principia 
haben  wir  uns   als   vortrage  von   magister-candidaten    zu   denken, 
bei  nr   10  u.   17  tritt  dieser    Charakter  ganz    deutlich  hervor,     in 
10  entwickelt  der  dichter  die  grnndsätze,  nach  denen  er  das  magister- 
amt  zu  verwalten  gedenkt,  während  er  in  17  erzählt,  wie  er  dazu 
gekommen   ist,   sich   um   die  würde   zu  bewerben,     beide   neulinge 
berufen  sich  auf  Weisungen,  die  ihnen  in  Visionen  zuteil  geworden 
sind,     in  nr  6  ist  von  dem  ursprünglichen  charakler  des  principium 
nichts  mehr  zu  bemerken,  das  wort  führt  hier  gar  nicht  der  magist  er 
selbst,   sondern  schüler  eines    lehrers,    die   urlaub   für   das   bevor- 
stehnde    weihnachtsfest    begehren.      nr  8    ist   theologischer  natur  : 
die  versißcierung  eines  beliebten    evangelienlextes.     nr  9  gehört  in 
die  während   des  mittelalters   besonders  beliebte    und  auch  von  den 
vaganten  eifrig  gepflegte  gattung  der  Wettstreite,     hier  sind  es  bier 
und  wein,    die  mit   einander  concurrieren.     nr  4    endlich  ist  dem 
gegenstände  gewidmet,  mit  dem  sich  fast  sämtliche  bereits  gedruckten 
lieder  der  Herdringer  sammhing  befassen  :  der  Verderbnis  der  weit, 
die  sich,  wie  in  einem  stücke   ausgeführt   wird,   in  dem  tief  stände 
der  sitten  als  reif  für  den  Antichrist  erweise,     die  vaganten  fassten 
natürlich   zunächst   bei  den   Verhältnissen   an,   die  sie  aus  eigener 
er  fahrung  am  genausten  kannten  :  den  kirchlichen,  die  demoralisation 
des    clerns    mit    all   ihren    gro/sen   und  kleinen    charakteristischen 
Merkzeichen    ist    der  mütelpunct   ihrer   invectiven.     sie  haben  das 
thema    in   den  mannigfaltigsten    Variationen   behandelt,   ohne   aber 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLl  NG         175 

jemals  irgend  einer  lehre  oder  einriehtung  ihrer  kirehe  zu  nahe 
irrten,  die  kritik,  zu  der  sie  sich  als  sachkundige  Vertreter  dei  Offent- 
lichen  meinung  berufen  fühlten,  galt  immer  nur  unwürdigen  \ 
sonen  bezw.  classen  von  personen,  dem  papst  und  der  römischen 
eurie,  prälaten,  manchen  und  priestern,  niemals  aber  der  sache, 
die  ihnen  heilig  war.  in  die  nulluni/  dieser  satirischen  gedichte 
gehören  nicht  weniger  als  10  der  Herdringer  handschrift,  aufsei  der 
erwähnten  nr  1  :  3.  7.  11.  12.  14—16.  19.  i<>.  weil  die  klagen, 
welche  im  12  und  1".  jh.  erhöhen  waren,  auch  im  II  und  1  ."> 
jh.  noch  ihre  berechtigung  hatten,  wurden  die  wirkungsvollen 
stücke,    als    die    vaganten    seihst    längst    nicht    mehr    durch    die 

lande  ziehend  ihre  warnende  stimme  erhohen,  noch  uniua  widei 
abgeschrieben  und  verbreitet,  jetzt  aber  meistens  fern  dem  getriebe 
dei  weit  in  einsamer  klosterzelle.  so  hat  sie  denn  muh  dei  Lüttichei 
henedictinermünch  seiner  bunten  anthologie  einverleiht.  solche 
sauren  wurden  besonders  gern  an  den  namen  des  Schutzheiligen 
der  vaganten,  des  seiner  bedeutung  nach  vielumstrittenen  'Colins 
geknüpft,  als  dessen  jünger  die  fahrenden  selbst  sich  'Goli- 
arden'  miauten.  zwei  dei  Herdringer  gedichte  führen  letztere 
collectivbezeichnung,  während  sie  in  anderen  Handschriften  untei 
dem  namen  des  'Golias'  geh»,  meistens  mit  dem  zusatz  ponlit'ex 
oder  episcopus  :  nr  7  (Tempus  acceptabile)  überschnellen  -.  Kit- 
mus goliardorum  und  nr  16  (A  tauro  torrida)  betitelt  :  Apo- 
calipsis  goliardorum.  ein  gedieht  trägt  im  IIa  dringer  codex  diesen 
namen,  das  keinesicegs  satirischer  natur  ist,  vielmehr  die  wunder- 
bare kraft  des  weins  besingt,  ein  ausschnitt  aus  der  berühmten 
'Generalbeichte',  nr  2  :  Comedia  goliardorum  (Tales  versus  facio). 
tnnklieder  finden  sich  aufser  diesem  und  dem  rangstreite  zwischen 
hier  und  wein  sonst  nicht  in  der  handschrift.  minnelieder  fehlen 
■tanz,  der  manch,  dem  wir  die  stücke  verdanken,  hat  eben  mn 
solche  aufgezeichnet,  die  für  ihn  und  seine  milbrüder  in  ihrem 
etlichen  stunde  passend  erschienen,  das  trifft  auch  auf  das  au 
5  stelle  stehende  weihnachtslied  zu.  woher  der  schreibet-  seine  anlüge 
hatte,  darüber  sind  natürlich  nur  Vermutungen  möglich,  da  die 
lütticher  gegend  viel  von  den  fahrenden  aufgesucht  worden  ist, 
so  viel,  dass  die  geistlichen  12S7  durch  ein  synodalstatut  dam, 
gewarnt  werden  musten,  das  leben  der  Goliarden  mitzumachen 
(vgl.  Giesebrecht  in  der  Allg.  monalschrift.  IS53,  33  j,  ist  es  seht 
wahrscheinlich,  dass  dort  damals  auch  die  lieder  der  vaganten   auf- 


176  BÖMEK 

gezeichnet  sind,  aus  einer  Lütticher  hs.  hat  ja  auch  Mone  (An- 
zeiger v  [1836]  447)  zwei  lateinische  minnelieder  mitgeteilt. 

Die  meisten  der  bereits  bekannten  stücke  haben  schon  wider- 
holte druck  legung  erfahren,  acht  von  ihnen  sind  von  Wright  nach 
englischen  hss.  veröffentlicht ,  sechs  von  Haureau ,  vier  von 
Müldener  und  eines  von  Fierville  nach  Pariser  vorlagen,  eines 
endlich  von  J Grimm  nach  einer  Brüsseler,  von  Schindler  nach 
der  Münchener  und  von  Werner  nach  einer  Züricher  hs.  unter 
vergleichung  von  zwei  valicanischen.  in  der  Züricher  ist  außer- 
dem  auch  noch  der  an  fang  einer  anderen  nummer  überliefert. 
Haureau  stand  in  einem  falle  neben  den  Parisern  gleichfalls  ein 
vaticanischer  codex  von  hohem  alter  zur  Verfügung,  mehrere  der 
gedickte  sind  auch  in  den  Sammlungen  von  Flacius  lllyricus,  Wolf  und 
Eccard,  eines  bei  Leyser  und  ein  anderes  in  einer  der  Du  Meril- 
schen  yublicationen  gedruckt. 

Das  Herdringer  manuscript  bestätigt  die  alte  erfahrung,  die 
noch  jedesmal  nach  dem  funde  einer  vagantenliederhandschrift 
gemacht  xcorden  ist  :  dass  bei  diesem  beweglichen  kleingute  der  litte- 
ratur  jede  neu  entdeckte  aufzeichnung  eines  Stückes  geioissermalsen 
eine  neue  recension  desselben  repräsentiert,  sicher  nur  bei  wenigen 
schriftstellerischen  erzeugnissen  hat  die  mit-  und  nachweit  so  xoenig 
fremdes  eigenlum  respecliert,  icie  bei  diesen  gedickten,  die  größten- 
teils ohne  den  namen  ihres  Urhebers  als  herrenloses  out  im  kreise 
der  fahrenden  umliefen,  gleichwie  die  Volkslieder  unter  der  grofsen 
nii'nge  des  volkes.  iveit.  bald  keine)-  mehr  wüste,  icem  ein  stück 
angehörte  und  in  welcher  fassung  es  von  ihm  ausgegangen  war, 
fühlten  vortragende,  Schreiber  und  wer  sonst  die  lieder  verbreitete, 
sich  berechtigt,  mit  den  texten  nach  belieben  zu  schallen,  dh.  nicht 
nur  wenn  eine  stelle  aus  irgend  einem  gründe  einer  änderung 
bedurfte,  bessernde  hatid  atizulegen,  sondern  auch  ganz  einwand- 
freie worle,  ausdrücke  und  salze  mit  anderen  zu  vertauschen,  die 
mehr  nach  ihrem  geschmacke  waren,  bei  besonders  beliebten  stücken 
ligt  eine  fülle  von  Varianten  vor,  und  wer  vor  die  aufgäbe  gestellt 
ist,  zu  entscheiden,  welches  die  ursprüngliche  lesart  gewesen,  wird 
öfter  vergebens  zu  ermitteln  versuchen  als  zu  einem  sicheren 
lesultate  kommen. 

H  —  so  soll  die  Herdringer  niederschrift  fortan  bezeichnet 
werden  —  zeigt  mit  keiner  der  bislang  ausgenutzten  hss.,  soweit 
die  drucke  und  ihr  apparat   eine  controlle  gestalten,  eine  besonders 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG         177 

mihi-    verwantschaft.      wol  scheint   sie   sich   das  eine   oder  </»/*'' 
nuil  cm  •paar  Strophen  hindurch  einer  bestimmten  von  unseren  vor- 
lagen anzuschliefsen,  aber  gleich  darauf  weicht  sie  von  dieser  toi 
ab  und  stimmt  m/t  einer  anderen  gegen  die  erste  überein  odei 
ganz  eigene  woge,     das  gilt  sowol  im  grofsen  von  der  auslassung 
und  zufügung  ganzei  Strophen  und  ihm  anordnung,  wie  im  kleinen 
von  der  Stellung  der  reis?  und  der gestaltung  des  textet  im  einseh 
Der  wert  der  Überlieferung  von  II  ist  bei   den  einzelnen 
dichten  ein  ganx  verschiedener,     ihr  Schreiber   dürfte   dafür  kaum 
verantwortlich  zu  machen  sein,  denn  es  ist  nicht  einzusehen,  wes- 
halb   er  hier   völlig   oder  nahezu   correct    abgeschrieben    und  dort 
auf  schritt  und  tritt  gefehlt  Indien  sollte,     offenbar   ist    die  Quali- 
tät    der    vorläge  entscheidend  gewesen,      bei    dem    einen   stücke   nur 

sie  ijut  und  die  Berdringer  abschrift  ermöglicht,  irrtümer  unsere) 
bisherigen  Überlieferung  zu  corrigieren,  bei  dem  andern  wider  sind 

fehlerlm/te  oder  minderwertige  lesarten  von  II  nach  unseren  alten 
texten  zu  berichtigen. 

Zu  einer  durchgehende  sicheren  feststellung  des  urspünglichen 
textes  dei  gedickte,  soweit  sie  nach  dem  oben  ausgeführten  über- 
haupt möglieh,  ist  natürlich  auch  nach  dun  j unde  von  II  die  zeit 
noch  nicht  gekommen,  dazu  müste  das  handschriftenmaterial  noch 
weit  mehr  vervollständigt  werden,  höchst  bedauerlich  ist  aufser- 
dem,  dass  Haureau  nicht  die  lesarten  jeder  einzelnen  von  ihm  ein- 
gesehenen handschrift  verzeichnet,  sondern  nur  auf  grund  einer 
anzahl  von  aufzeichnungen  einen  nicht  controllierbaren  texl  recon- 
slruiert  hat.  bei  neueren  systematischen  nachforschungen  nach 
handschriftlichem  material .  vor  allen  in  den  Übrigen  bibliotheken 
Frankreichs,  stünde  zu  hoffen,  dass  auch  noch  altere  nieder- 
schriflen  zu  tage  kommen  würden,  a/s  uns  jetzt  zu  yebote  steint, 
die  älteste  der  Wriyhtschen  englischen  handschriften  ist  erst  in  der 
zweiten  hülfle  des  13  jahrh.  heryestellt  und  die  Pariser  gehören 
fast  sämtlich  dem  14  und  15  jahrh.  an,  sie  sind  zum  grofsen 
teil  noch  jünyer  als  II.  jedesfalls  liyt  zwischen  der  entstehung 
der  yedichte  und  der  ältesten  uns  bis  jetzt  bekannten  copie  eine 
yanz  beträchtliche  spanne  zeit,  welche  an  den  Heilem  nicht  sinn- 
los vorübergegangen  ist.  der  von  Werner  benutzte  Züricher  co>le.r 
i  eicht  zwar  l-is  in  das  ende  des  12  Jahrhunderts  zurück,  aber  bei 
dem  yedichte,  dessen  an  fang  in  ihm  überliefert  ist,  entspricht  die 
gute  des  textes  keineswegs  dem  alter,  und  bei  dem  anderen  handelt 
Z.  F.  l>.  A.  XL1X.     N.   Y.  XXX VII.  12 


178  BÜMEK 

es  sich  nur  um  ein  paar  Strophen,  der  Züricher  hajulschrift 
kommt  die  von  Haureau  für  eines  der  stücke  benutzte  vaticanische 
au  alter  am  nächsten;  sie  ist  gleichfalls  am  ende  des  12  oder 
doch  sicher  am  an  fang  des  13  jahrh.  geschrieben,  deshalb  ist  bei 
ihr  ganz  besonders  zu  bedauern,  dass  der  herausgeber  den  text 
nicht  in  einem  kritischen  af parate  festgelegt  hat. 

Ich  habe  mich  bei  der  aufstellung  der  lesarten-verzeichnisse 
nicht  damit  begnügt,  die  abweichungen  H.s  von  irgend  einer  unserer 
ausgaben  anzumerken,  sondern  um  in  jedem  einzelnen  falle  ihr 
Verhältnis  zu  der  anderweitigen  Überlieferung  aufzuweisen,  sind 
die  lesarten  sämtlicher  collationierten  Codices  und  vorliegenden 
ausgaben,  oder,  wo  deren  zahl  au fser gewöhnlich  grofs  war,  wenigstens 
die  der  mafsgebenden  unter  ihnen  zusammengestellt,  beim  citieren 
wend  ich  der  gleichmäfsigkeit  wegen  bei  strophischen  gedichten 
stets  die  praktischere  Zählung  nach  Strophen  an,  auch  wenn  unsere 
gedruckten  texte  nur  die  verse  numerieren,  die  noch  gar  nicht 
oder  nur  teilweise  bekannten  stücke  von  H  bring  ich  vollständig 
zum  abdruck,  und  zwar  unter  auflösung  der  abkürznngen  und  mit 
modernisierter  interpnnction ,  aber  unter  beibehaltung  der  Ortho- 
graphie der  vorläge  mit  der  einzigen  ausnähme,  dass  n  und  v, 
i  und  j  in  der  jetzt  üblichen  weise  verwendet  werden  sollen. 

1)  De  vestium   transformatione. 

Von  den  eingangsversen  der  Metamorphosen  Ovids  ausgehend 
besingt  der  dichter  die  mannigfaltigen  xounderbaren  Verwandlungen 
alter  kleidungsstücke  in  neue :  wenn  die  cappa  schäbig  geworden  ist. 
wird  aus  ihr  ein  mantellus  zurechtgeschnitten,  aus  dem  femininum 
wird  ein  masculinum.  das  zur  winterzeit  über  dem,  mantel  getragene 
caputium  geht  über  in  ein  sackartiges  almutium.  das  ist  bei  allen 
nationen  so,  bei  Engländern,  Deutschen,  Franken  und  Normannen, 
auch  der  manlellus  erfährt  wunderbare  Veränderungen,  wenn  er 
hübsch  neu  ist,  wird  er  sorgfältig  im  schranke  aufgehoben,  beginnen 
die  haare  aber  spärlicher  zu  werden  und  die  fäden  zu  reifsen,  dann 
wird  der  pelz  abgetrennt  und  zu  einem  sorcotium  verwendet, 
der  mantel  selbst,  der  beschnittene  Jude  (apella),  wird  durch  eine 
gründliche  wassertaufe  von  allem  makel  gereinigt  und  geht  mit  einem, 
neuen  pelz  eine  neue  ehe  ein.  dadurch  macht  er  sich,  weil  der 
alte  pelz  noch  am  leben,  des  Verbrechens  der  bigamie  schuldig,  erst 
ist  aus    dem   haarigen   Esau   ein   Jakob   geworden,   nun   aus    dem 


HERDRINGER  VAGANTEN  LI  EDERSA  MM  LI  NG    IT'.» 

Jakoh  wider  ein  Haan,  ist  der  mantel  b  jähre  alt  und  nicht  mehi 
mit  anstund  zii  tragen,  dann  nehmen  die  klugen  leule,  gelehrige 
schaler  des  Bryson,  nur  qusdratura  circuli  vor.  aus  dem  runden 
mantel  machen  sie  ein  Viereck,  und  es  ersteht  eine  colta.  diese  geht 
wliler  vi  ein  Borcotium  über,  und  so  werden  die  oenoandlungs- 
kunststilcke  noch  in  mannigfacher  weise  fortgesetzt,  dabei  kommen 
die  wunderbarsten  verwantsehaftsverhältnisse  heraus,  als  im  höchsten 
grade  bedauerlich  bezeichnet  es  der  dichter,  dass  ohne  alle  bedenken 
ehen  gebrochen  würden,  und  er  fordert  deshalb  zum  schlnss  die 
mantel  auf,  zu  ihren  ersten  frauen  zurückzukehren,  widrigenfalls 

ihnen  dei  kiichenbesuch  verboten  Würde.  iei  nntwoi  tlich  sind  natür- 
lich die  träger,  der  ist  fluchwürdig  —  führt  er  aus  — ,  der  seine 
kleider  einen  ehebruch  begehen  Uisst.  abgebrauchte  stücke  sollen 
den  armen  yegeben  werden  mich  den  warten  Christi  Dispereil  el 
detlit  pauperibus.  dem  reichen,  der  sich  keine  neuen  kleider  an- 
schafft, soll  es  gehen  wie  Dathan,  den  die  etile  verschlungen,  das 
ist  die  quintessenz  des  gedichts.  es  wird  die  arbeit  eines  armen 
vaganten  sein,  der  kleidernot  am  eigenen  leibe  erfahren  hat  und, 
als  frucht  seiner  gelehrten  Studien,  mit  kirchenrechtlichen  gründen 
gegen  das  verändern  und  weitertragen  aller  kleidun gsstücke  seitens 
der  i  eichen   vorzugehn   vermag. 

Das  gedieht  steht  in  naher  beziehung  zu  Carmina  Burana 
\<  iv  (ed.  Schindler  7  1  ff),  macht  schon  die  beiden  stücken  gemein- 
same tendenz  der  Verspottung  des  in  den  kleiderverwandlungen 
sich  bekundenden  geizes  der  reichen  eine  abhangigkeit  wahrschein- 
lich, so  wird  diese  durch  mehrere  auffallende  Übereinstimmungen 
in  der  ausführung  zur  yewisheit.  der  kürze  halber  bezeichne  ich 
im  folgenden  das  gedieht  der  Carm.  Bur.  mit  A,  das  unsrige  mit 
B.  gleich  der  eingang  von  B,  das  Metamorphosen-citat,  ist  auch 
m  A  str.  9  angewant;  während  jedoch  in  B  die  verse  wörtlich 
citiert  werden,  hat  der  dichter  von  A  Ovids  worte  umgesetzt  und 
mit  den  seinigen  verschmolzen: 

Forma,  cum    in  varias 
i'ormas  siut  mutata 
vestimenta  divitum 
vice  variata  — 

In   nova   feit  animus 
dicere  mutata 
vetera,  vel  potius 
sint  ioveterata  : 

12* 


180  BÖMER 

Wo  es  B  str.  4  keifst,  dass  die  Kleidungsstücke  mit  der  Um- 
wandlung ihr  geschlecht  änderten,  wird  auf  das  geschieh'  des 
Tiresias  hingewiesen,  dessen  kennlnis  der  dichter  gleichfalls  der 
leelüre  Ovids  (cfr.  Melam.  in  322  //)  verdankt  haben  wird,  der- 
selbe himeeis  findet  sich  auch  A  str.  12.  endlich  ist  die  androhung 
der  exeommnnication  für  alle  reichen  geizhülse,  die  Veränderungen 
an  den  kleidem  vornehmen  liefsen,  anstatt  sich  neue  anzuschaffen, 
beiden  gedichten  gemeinsam,  diese  drei  Übereinstimmungen  setzen 
meines  erachtens  eine  gewisse  abhängigkeit  der  stücke  von  einander 
aufser  allen  zwei  fei.  im  übrigen  aber  gehn  die  beiden  dichter  selb- 
ständig ihre  eigenen  wege.  der  von  A  beruft  sich  nur  auf  drei 
kleidnngsstücke  :  cappa,  pallium  und  iuppa.  indem  er  die  von  den 
beiden  ersten  abgeleiteten  verben  cappare  und  palliare  recht  glück- 
lich und  wirkungsvoll  in  der  bedeutung  von  'smt  cappa  bezw.  zum 
pallium  machen'  gebraucht  und  von  diesen  Zeitwörtern  wider  neue 
Substantive  bildet  zur  bezeichnung  der  personen,  welche  jene  tätig- 
keit  vornehmen,  deutet  er  die  Verwandlungen  nur  in  aller  kürze 
an.  B  exemplificiert  auf  eine  größere  anzahl  von  kleidern  und 
veranschaulicht  auch  die  art  und  weise,  wie  die  mannigfaltigen 
Veränderungen  vor  sich  gehn.  ein  nicht  unbedeutender  vorzug 
B.s  vor  A  ligt  in  der  motivierung  der  exeommnnication.  in  A 
wird  ein  neues  decret  des  subpriors  Walter  verkündet,  dass  keiner 
sich  untersteht  solle,  alte  mäntel  aufzubügeln  oder  mit  kreide  zu 
färben,  und  dann  ohne  weitere  begründung  acht  und  bann  ausge- 
sprochen über  alle,  welche  sich  dagegen  vergehn  sollten,  und  gegen  die 
recappaiores,  capparum  veterum  repalliatores  et  omnes  huiusmorli 
reciprocatoies.  ganz  anders  würkt  das  anathema  in  B.  hier  wird 
str.  33  unter  glücklicher  fortführung  der  früher  begonnenen  per- 
sonification  der  kleider  diesen  selbst  die  kirche  verboten,  und  zwar 
weil  sie  sich  durch  den  ehebruch  eines  Verbrechens  schuldig  gemacht, 
für  welches  nach  canonischem  recht  die  schwerste  der  kirchenstrafen 
z%i  gewärtigen  war.  natürlich  wird  hernach  auch  über  die  verant- 
wortlichen träger  der  kleider,  deren  geiz  an  ihrem  ganzen  sünden- 
leben  die  schuld  trage,  der  bannslrahl  herabgerufen,  wir  dürfen 
annehmen,  dass  die  einfachere  fassung  von  A  die  ältere  ist,  die  den 
grnndgedanken  angegeben  hat,  welcher  dann  in  B  eine  geschicktere, 
freilich  auch  etwas  künstlichere  ausführung  gefunden  hat.  — 

Von    dem    vergleiche    des    pelzgefütterten    und    pelzberaubten 
mantels  mit  Esau  und  Jakob   (str.   17,  2j    ist  auch   in  einem  von 


EIERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  XG         181 

Wright  (The  laiin  poems  commonly  attributed  to  Walte)  Ma\ 
London  1841,  S5)  mitgeteilten  Epigramms  de  mantello  .1  ponlifice 
dato  gebrauch  gemacht,  ein  knauseriger  pontifex  hat  dem  dichter 
bei  bitterer  kälte  einen  manlellus  sine  pluma  gegeben,  der  neue 
besitzet  redet  den  mantel  an  und  bittet  ihn,  regen  und  stürme  fern" 
zuhalten,  der  mantel  erwidert,  das  würde  ei  gerne  tun,  aber  leider 
hulte  er  weiter  pilu*  noch  vellus,  ei  fei  ein  Jakob,  kein  Esau.  — 
zur  bedeutung  des  namens  Berodes  {str.  'itij  ist  Rabanus  Maurus, 
De  11  mm  so  Mii/ne  Patrologia  ser.  hat.  111,  sp.  83)  zu  > 
gleichen  (Herodes  ioterpretalur  pellicius  etr.).  die  in  den  latei- 
nischen text  eingemischten  französischen  Wörter  und  Sätze,  welche 
in  einigen  Strophen  so  reichlich  verwendet  sind,  dass  das  latei- 
nische 'in  ihnen  zurücktritt  oder  gar  verschwindet,  lassen  in  dem 
Verfasser  einen  Franzosen  erkennen,  das  gedieht  besieht  uns  38 
sechszeiligen  Strophen,  von  denen  jede  durch  eine  zweimalige  ver- 
bindung  von  '2  trochäischen  achtsilblem  mit  1  trochäischen  sieben- 
silbler  in  der  reimfolge  aabccb  gebildet  wird,  es  ist  die  flotte  form, 
welche  zb.  auch  Carm.Bur.  \\\\\  (Prnpter  Sion  non  lacebo)  und 
17:'.  (Deoudata  verilate)  aufweisen,  sog.  'tactwethseV  (WMeyer) 
hat  der  dichter  'Initial  angewendet ,  doppelst/Inge  Senkung  1  mal 
35,  5).  hiatus  im  inncm  des  veises  ist  Ins  auf  2  Julie  (1,  1 
u.  27,  4  6««  französ.  lorture  mit  folgendem  appellalur)  gemieden, 
der  reim  ist  einmal  unrein  il2,  3  U.  •  >),  doch  hat  es  mit  dieser 
stelle  eine  besondere  bewantnis,  indem  französisches  Ibrnicalion 
auf  lateinisches  enniugium  reimt.  —  bei  feststellung  des  franz. 
'es  hat  mich  herr  pro  f.  dr  Mettlich  in  liebenswürdigster  weise 
unterstützt. 

Ue    v  es  tiu  in    transformatione1. 

In   Qova  feiY  animus  mutatas  dicere  formas 
Corpora;  di  ceptis,  nam  vos  mutastis  et  illas, 
Ispirate  meis! 

:.  1    (1  vers  des  Ovid-citdU)  hs.  fehl  er  haß  :  fer, 

['  während  ich  die  correctur  obiger  Zeilen  lese,  geht  mir  von  Inrm 
pro/.  Wilhelm  Mei/er  in  Göttingen  die  dankentwerte  Mitteilung  zu,  das» 
15  stmphen  untres-  gedieht*  (1 — 4.  0—14.  17.  IS)  gedruckt  sind  l>ei  Wfight 
The  political  songs  of  England  1S79,  51//.  indem  ich  die  tan.  dieser 
fastung  hier  kurz  nachtrage,  liemerk  ich,  data  WMeyer  in  einer  arbeit 
über  die  nnoni/men  lieder  des  Primas  das  nach  seinen  ermittelungen  unter 
diese  gehörende  stück  ausführlich  behandeln  wird,  sobald  er  die  eben 
begonnene    ausgäbe    der    von    ihm    aufgefundenen    'Otcforder   lieder   des 


182 


BÖMER 


Cappa  fit  mantelli  deus, 
ergo  potest  esse  reus 
utriusque  veneris. 

6  Bruma  tandem   revertente 
tost   ont   sor  le  mautial  ente 
plerique  caputium. 
Alioquiu  disquadratur, 
de  quadrato  rotondatur, 
transil  in  almulium. 

7  Si    qui    restant    de    morsellis 
cesi  panni  sive    pellis, 
non  vacant  officio: 
Ex  hiis  fiuüt  manuthece, 
mauutheca  quidem  grece 
manuura  positio. 

8  Sic   ex  veste  vestem  forma  nt 
anglois,  thiois,  franchois,  nor- 
omnes  generaliter;        [mant, 
Ut  vix  unus  excludatur ; 
ita  cappa  decliuatur, 
sed  mantellus  aliter. 

9  At  hie  primo  recens  anno 
nova  pelle,  novo  panno, 
in  archa  reconditur. 
Raresceule  tandem  pilo 
iuneturarum  rupto  filo 
pelle  circumeiditur. 

4,  2  hs.  fehlerhaß  refutaut. 

Primas  (des  7/iagister  Hugo  von  Orleans)'  beendigt  haben  wird,  ich  be- 
daure  lebhaft,  dass  ich  auch  diese  mit  manchen  hergebrachten  urteilen 
aufräumende  lehrreiche  publication,  deren  erster  teil  kürzlich  erschienen 
ist  (Göltinger  nachrichlen  1907,  75  ff),  für  meine  arbeit  nicht  mehr  habe 
benutzen  können,  an  letzter  (23)  stelle  steht  unter  den  Oxforder  Primas- 
liedern unsre  nr  14.  eine  commenlierte  ausgäbe  dieses  der  erklärung 
manche  schwierigkeilen  bietenden  gedichts  wird  die  forlselzung  von 
Meyers  Veröffentlichung  bringen.  —  abweichungen  des  Wrighl- 
schen  textes  :  1,  6.  Transmutare.  2,  1.  et  st.  vel.  5.  Transmutatur. 
6.  mutatis  [!].  3,  4.  Demutantur.  5.  recenter.  4,  2.  Prius  luptam  .  .  . 
reciutant.  4.  donatur.  5.  sit.  6,  2.  unt  sur  !a  chape  ente.  4.  de- 
quadratur.  5.  ittundatui.  7.  1.  quid  lestat.  3.  vacat.  9,  1.  Adlnu. 
4.  Recedente.         6.  pellis. 


1  Ego  dixi  :  dii  estis; 

qne  diceuda  sunt  in  festis, 
quare  pretermitterem  ? 
l)ii  revera,  qui  potestis 
in   figuram  nove  vestis 
transformare  veterem! 

2  Pannus  receus  vel   novellus 
fit  vel  cappa  vel  mantellus, 
sed  seeundum  tempora. 
Primum  cappa,  post  pusillum 
transformatur    hec    in    illum: 
sie  mutantur  corpora. 

3  Anliquata  decollatur, 
decollata  manlellatur, 
sie  in  modum  protlieos 
Transformantur  vestimenta, 
uec  recentis  est  inventa 
lex  melhamorphoseos. 

4  Cum  figura  sexum  mutant, 
rupta  prius  clam  rec/utant 
primates  ecclesie. 

ISee  donantur,    res  est  certa, 
nisi  prius  sint  experta 
form  na  m  tyresie. 

5  Cappam   quidem   feminini, 
sed  mantellum  masculini 
eonslat  esse  generis. 


IIKlUim.MJKK  VAGANTENLlEKKHSAM.MI.l  M. 


LS3 


in  Sic  mantellus  fii  apella, 

Chi   ^ isl   li   dras   ft   la   pel  la 
posl  primum  divortium; 
\  priore  Beparata 
(um  Becuodu  reparata 
ir.uisit  im  Borcoliuro. 

11  QllOil    delirium    iliees   maius? 

illii'l  palaro  est  cootra  ni>, 
naiii  si  oupsit  .dien, 
Cooiugium  violavit, 
(Uni)  se  novo  copulavil 
reclamante  veleri. 

12  M'est  de  coQCÜle  ne  de  seone 
d'espouser  deus  dras  une 


L6  S'ilh  est  de  saie  dunt  l'endrois 

emble, 

l'eovers  pur  ce  feit,   i  e   moi 
semble, 

cooverti  Bimpliciter. 

Kar  asseis  est  simple  convei  se, 

ki  ce   dedeos  defors   enverse 

por  üser  dupliciter. 
17  l'ilis  expers,  usu  l'raclus, 

ex  esau  iacob  factus, 

quanl   tuit   li   poilh   en   sunt 

Inversatur  vice  versa     [chaü, 

rursus  idem  ex  cooversa, 

ex  iacoli  fii  esau. 


qu'ilh  i  ai  loi  nicalion.  [penne,      18  Pars  pilosa  foris  paret, 
Peirailtuut  liec  decreia ?  oon ;         seil  iutrorsus  jnh>  carel 


sed  leslalur  omuis  cauon 

QOQ    esse   CODlUgium. 

13  P.iiiiui>   primus   circumeisus, 
viduatus  et  divisus 
a  sua  pellicula 
l.im  experlus  Judaismum 
emuodalur  per  baptismum 
a  quacumque  macula. 

14  Circumeisus  mundatusque 
esi   adeptus    utiiusque 
le^'is  lestimonium. 
Quem    baptismus    emuudavit, 
cum  seeuuda  federavit 
pelle  matrimonium. 

l  .  Bigamus  est,  quod  amavit, 
more  suo  bigamavit, 

m     se    revestenl    noslre  amis. 
Prudentis  e>t  et  astuti 
decollatis  cappis  uti 
et  maotellis  bigamis. 

Hi,2.  Ci  git  li  drap.  6.  consortium.  11,2.  Istud.  -1.  est  \iolHlum. 
5.  I'uin  fit  novo  copulalum.  12,2.  Deus  dras  espuser  ä  une  pene.  3.  E  si  nus 
lejuggium.  4.  hoc.  5.  reclamat.  13,  1.  primum.  14,  5.  seeundavit.  17,'}. 
Quant  li  peil  en  e*t  chaü.     IS,  4.  lamen.     k'il  n'i  eit  perle.     5.  pur  deserte. 


veiusias  abscoodita.    [aperte, 
Dalur  landein,  c'esl  chose 
M'ivienli   por   sa   desserle 
mantellus  ypoerita. 
l!)  I>e  laneis  liec  dixisse, 
sed   uti  Dam   et  lecisse 
ad  preseos  sutTiciat. 
De  sericis  nunc  dicenuuin, 
nun  est  iir  mais  reliceudum, 
quas  ex  hiis  elliciuut. 

20  Ut  mautellus  lii  quinquenuis 
nee    videtur    iam    sollempni>, 
diem  peremptorium 
nun-   assiguant,    ut  mactetur 
et  maetatus  trausformetur 
in   coopertorium. 

21  Quidam  ita  sunt  autiqui; 
hei  afeubler  onL  relenqui 
in  couspeclu  populi,    [pointe, 
Willi  translatent  en  coute 


1S4 


BÜMER 


cnr    de    laine    le    coute    l'iint 
örisonis  discipu/i.         [pointe 

22  Scibilis  est,  scita  nundum 
quadratura  hec  secundum 
verba  Aristotelis. 

Modo  tarnen   non  est  ita, 
est  a  multis  enim  scita, 
que  tunc  erat  scibilis.    (rem, 

23  Formant,  quadrant  manlella- 
transforniantes  circularem 

in   modum   quadranguli. 
Gratuleotur  hec  persone 
invenisse  cum  brisone 
quadraturam  circuli. 

24  Item  quod  est  per  se  notum, 
cottam  vertunt  in  sorcotum 
mutilatum   primitus; 

Cum    manlellj«s    ex    irequenli 
et  impulsii  vehementi 
perforavit  cubitus, 

25  Arte  mira  translatoris 
transportalur  in  sororis 
locum  soror  altera. 
Locus  enim  altercatur, 
dum  sinistra  dexteratur, 
sinistratur  dextera. 

26  Nunc  dicendum   de  herode, 
que  diceuda  sunt  de  Code  (?): 
lierodes  pellicium 

Sonat,  idem  fit  pylatus 
circa  pannos,  circa   latus 
sortitus  calvitiuni. 

27  Fit  pilatus,  sed   pylato 
ab  herode  mox  sublalo 


generatur  filia, 
que  forture  appellatur, 
que  sorcoto   copulatur, 
kar  aguilh'  et  61h   i  a. 

28  Intercedit  parenlela, 

nest  pas  loiaus  hom  ki  tel  a, 
nam  in  gradu  proximo 
Sunt  affines  contra   iura, 
celebratur  hec  iunctura 
ritu   nefandissimo. 

29  Est  sorcoti  cotta  mater, 
f'orrature   numquam   pater 
negalur  pellicius. 

Hec  est  uxor,  hie  maritus; 
ergo  iuris  imperitus 
et  vir  legum   nescius, 

30  Hui  sorcotum  forature 
maritavit  geniture: 
coutra   clamat  regula. 
Inter  tales   nunwjuarn   talis, 
quia  non  est  maritalis, 
intercedat  copula. 

31  Hiis  sorcotis  clericorum 
interdico  prorsus  chorum 
propter   hoc  incommodum. 
Non   nascantur  nisi   patre 
ceso  sive  cesa  matre, 
quod  est  contra  synodnm. 

32  Pater  primum   detruncatur, 
ut  ex  patre  mox   nascatur 
filia  manieiis. 

Maler  pannis   decurtata 
natam   parit  mulilala 
utrobique  braohiis. 


21.  6.  der  erste  buchstabe  des  Verses  ist  in  der  hs.  verwischt,  über- 
geschrieben über  .  .  .  risonis  :  bris,  in  elench.  [sc.  Aristotelis/,-  hs.  disci  [ver- 
stiimmeU).  22,  2.  übergeschrieben  über  quadratura  :  s.  circuli.  22,  3. 
übergeschrieben  über  Aristotelis  :  in  libro  predicamenlorum.  22,  5.  über- 
geschrieben über  scita  .•  s.  quadratura  circuli.  24,  4.  hs.  fehlerhaft 
mantella-.           "Jy.  2.  hs.  fehlerhaft  ne  statt  ne  =  nrst.J 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG 


18; 


De  mantellis  mandatum  do, 
ad  incestas  qui  Becundo 
Iransieruol  oupti 
Revertaotur  ad  uxores 
aul  mandata  transgressores 
non  in  Iren  I  ecclesias. 
:;i  Je  iuge  par  droit  el  par  voir, 
k'eglise  ne  <loii  recivoir, 
qui  \  i vis  uxoribus 
Criminale  comiserunt, 
dam  aecundis  adheserunl 
relictis  prioribua. 
Vestea  in  se  iaoi  mechantur, 
i.-iii)  .'id  illas  derifantur 
noslre  carnis  vitia. 
Homo  mechus,  vestis  mecha, 
quia   hominis  mens  esl   ceca, 
Facil  avaritia. 

Vir  dampnate  quidem  mentis, 
qui  de  suis  indumenti9 
format  adulterium! 


Si  nec  crimen  perhorrescit, 
saltem  frequens  erubescal 
plebis  improperium. 

37  Semper  oo»a  constal  • 
t'i^o  numquam  esl   uec< 
renovari  vetera. 
Cum  boc   li;«t    per    incestum, 
nirliil  magis  inhonestum 
quam  vestis  adullera. 

58  Hoc  mandatum   do  personis: 
veslimentis  uti  bonia 
relictis  veteribus. 
Ei  deotur,  iini  pauper  sit, 
quia  scriptum  est :    'dispersil 
et  dedit  pauperibus'. 

39  Mo  decretum  ad  extrema, 
(juoil  sii  «lives  analberaa, 
qui  lias  vestes  iuduit 
Ouasi  satus  sit  per  sathao, 
sii   illius  pars  cum  dathau, 
quem  tellus  absorbuit. 


2)  Co moedia  goliar  darum. 

Anfang  :  Tales  versus  facio,  quäle  vioum  lulio. 

Die  außerordentliche  beliebtheit,  deren  sich  das  glanzstück  der 
vagantenlitteratur,  die  Generalbeichte  des  Erzpoeten,  zu  erfreuen  ge- 
habt hat,  kommt  zum  ausdrnck  in  den  zahlreichen  aufzeichnungen, 
die  ihr  zuteil  geworden  sind,  damit  ist  das  gedieht  aber  auch  in 
einem  ma/'se  wie  nur  wenig  andere  willkürlichen  Veränderungen 
nach  dem  geschmacke  des  einzelnen  ausgesetzt  gewesen,  der  neu- 
•Iruck  des  oft  veröffentlichten  Stückes  bei  J Weiner  (Beitr.  z.  künde 
der  tat.  litt,  des  ma.s,  2  auf!.,  1905,  "200//")  mit  dem  Varianten- 
apparat von  1 1  verschiedenen  abschriften  veranschaulicht,  wie  die 
sangeslustigen  gelehrten  lenle  des  mittelalters  mit  dem  Hede  um- 
gegangen sind,  am  meisten  gefielen  die  verse,  welche  die  freuden  des 
kneipenlibens  und  die  unndeiliaren  würkungen  des  weins  besingen. 
sie  wurden  deshalb  aus  dem  rahmen  des  ganzen  ausgelöst  und 
dosierten  als  besondere  stücke,  in  dem  codex  Venetns  SMarci 
lat.  cluss.  \iv,  nr  cxxvm,  aus  dem  J Grimm  (Kl.  sehr,  in  7s//)  v,'r" 


186  BÜMER 

sus  primatis  presbiteri  mitteilt,  erscheinen  im  ansclduss  an  diese 
verse  die  Strophen  11 — 14  des  Sckmellerschen  textes  (67/f),  in 
der  französischen  handschrift,  ans  der  Du  Meril  (Poesies  popul. 
tat.  205)  geschöpft  hat,  strophe  12 — 17  als  selbständige  stücke. 
in  H  sind  die  Strophen  16,  17,  12  und  11  als  'Comedia  goliar- 
dorum'  zu  einem  gedieht  vereinigt,  die  beiden  ersten  Strophen 
singen  das  lob  der  eigenartigen  kraft,  welche  der  wein  und  ein 
gutes  mahl  den  dichtem  und  —  so  hei f st  es  hier  —  propheten 
zu  verleihen  pflegen,  in  dem  'Meuni  est  propositum'  (str.  12) 
wird  alsdann  das  kneipenleben  überhaupt  gepriesen,  uach  dieser 
strophe  fällt  die  sonst  voranstehende  elfte  nicht  nur  bedeutend  ab, 
sondern  es  verrät  gradezu  eine  gedankenlosigkeit  des  redaclors, 
nachdem  die  kneipe  bereits  gepriesen  ist,  noch  singen  zu  lassen 
'Ultimo    [statt  Terlio]  capiiulo  memoio  tabeinani'. 

L  es  arten  von   H. 

Für  die  lesarlen-verzeichnisse  von  H  bedien  ich  mich  hiei 
wie  auch  bei  den  folgenden  gedichlen  im  anschluss  an  Werner 
folgender   chiffern  für  die  hss.: 

Z  =  hs.    C    58/275    der   sladlbibliolhek   Zürich:    sie    bietet  nur 

die  beiden  ersten  Strophen  von  H  als  12  u.  13  ;  Werner  200/7". 

B  =  cod.    lat.    Monac.    4660    (Benediclbeuern   170);    Schmeller 

67/r. 

P  hier  =  bibl.  nat.  paris.  ms.  11867;  Haureau  in  Nolices  et 
Exlrails  xix  2,  266/7'.  Haureau  hat  die  3  ersten  Strophen 
von  H  auch  hintereinander  als  str.  17 — 19,  die  vierte 
aber  an  1 1  stelle  wie  Schmeller. 
S  =  hs.  aus  Stablo  in  Brüssel  2071;  J Grimm  Gedichte  des 
Mittelalters  auf  könig  Friedrich  i  den  Slaufer  (1844), 
67  ff  =  Kl.  sehr,  in  70  ff.  die  4  Strophen  von  H  stehlt 
hier  als  16.  17.  12  u.  11. 
V  =  cod.  Val  Christ,  reg.  344;  nach  einer  für  Werner  ausge- 
führten   collalion.     vgl.   über  die  hs.   Haureau  aao.   231  ff. 

...  „     ,  .         „_0  von  Wriahl  (The  Latin  poems  com- 

a    —  fiarleian.   9  /8 


£/«  ==  Harleian.   2851 
H3  ==  Harleian.   3724 
C  =  Collon.    Vesp.  A.  xix 
6'2  =  Collon.    Vesp.   B  xm 


monly  allribuled  lo    Waller  Mapes 

71/7)  zur  herslelluug  seines   textes 

benutzt.       hier    die    beiden    ersten 

Strophen  von   H  als   18  w.  19,  die 

beiden  leisten  als   12   u.    11. 

F  =  cod.    Valic.    7260;    nach    einer    für    Werner    ausgeführten 

collalion. 

str.l  (=  Schmeller  16),    v.  5.  valet.     6.  quoi)    mtf  &IPEPPV 

stall  valeiil — quae.       7.  talices  m.  PSV  st.  calicem.       2(17),  1.  Nuu- 

quain  mihi  spiritus  st.  Mihi  niinquam  spiritus.        2.  prophetie  st.  poetrie 


HERDRINGER  VAGANTENL1EDERSAMMLI  NG         187 

(poesiae  C).  nach  II  verleiht  ein  gulet  mahl  auch  die  gäbe  den 
prophelie,  nachdem  ttr.  I  i  <>n  der  poetischen  anregung  die  rede  ge- 
wesen ist,  wird  hier  dem  essen  und  irini.ru  eine  neue  kraß  beigelegt, 
au/  die  das  miranda  falur  im  leisten  verse  der  Strophe  bezogen  werden 
könnte.  5.  dum  m.  IIXS  st.  cum. — aula  st.  arce.  3  (12),  1.  esl 
fehlt  hinter  Heum.  ::.  vinaque  sint  proxima  //.  ut  sinl  vina  proxima 
/■'//'.  nt  sii  viii u in  perennum  S,  nbi  vina  proxima  II,  vinum  sit  ;•[>[>>•- 
siiiiin  Grimm,  Wright  (wich  r1  •-//-'•'),  vinum  sil  opposilum  /.  5.  el 
descendanl  celilus  //.  tunc  cantabunt  lelius  HS,  lunc  occurrent  cicius 
t\  ii l  dicant  cum  veneria t  iibr.  7/5.  decantantes  canlicum  Mihi 
polalori  st.  Deus  sil  (sii  deus  FS)  propitius  isti  (tanto  /',  huic  CM  // 
H*H*SV,  michi  F)  potatori.  4(11).  1.  Ultimo  st.  lertio.  3.  quam 
ine  iilln  //.  banc  in  nullo  ('~  illam  nullo  übr.  7.  pro  bibulis  // 
pro  mortuis  BC*FS,  pro  mortuo  übr. 

3)  Invectio  contra  sacerdotes. 

Anf.  :  Sacerdotes  memenlote. 

Das  gedieht  ist  von  Wright  Mapes  48  ff  nach   C1  unter  dem 

titel  'Goliae  versus  de  sacerdotibus'  veröffentlicht,  es  hat  in  diese) 
durch  zahlreiche  versehen  entstellten  fassang  'M)  Strophen,  von 
denen  jedoch  die  fünfte  7 zeilige ,  nach  II  um  einen  fehlenden 
vers  vervollständigt)  ebenso  in  zwei  zu  zerlegen  ist  wie  die  sechste 
^  zeilige.  auch  in  der  bei  Wright  nur  3  verse  zahlenden  S  Strophe 
kann  die  fehlende  zeile  auf  grund  von  11  eingesetzt  werden,  im 
ahrigen.  ist  das  gedieht  in  II  um  nicht  weniger  als  IS  Strophen 
gekürzt.  es  ist  ein  kühner  mahnruf  an  die  unwürdigen  Ver- 
treter des  geistlichen  Standes,  sie  werden  an  die  hohe  würde  und 
heiligkeil  ihres  amtes  erinnert  und  doppelt  strafwürdig  für  jedes 
abweichen  von  ihrer  pflicht  befunden,  ihr  verachten  der  armen 
(bezw.  der  keuschheit),  ihr  erkaufen  des  amtes,  ihr  weiblicher  ver- 
kehr, der  sie  wagen  lässt,  die  hl.  messe  zu  lesen  und  den  leib 
Christi  zu  segnen,  nachdem  sie  sich  eben  aus  den  armen  der  buh- 
lerinnen losgerissen,  und  andere  Schandtaten  mehr  werden  in  aller 
scharfe  gegei /'seit,  die  10  Strophe  des  Wrightschen  lextes,  die  letzte. 
welche  C  und  H  gemeinsam  ist.  führt  den  gedanken  aus,  dass 
solche  unreinen  priest er ,  wenn  sie  es  wagten  vor  den  altar  zu 
treten,  mit  raten  geschlagen  zu  werden  verdienten,  in  den  20 
weiteren  Strophen  malt  Cl  zunächst  jene  sträfliche  Handlungsweise 
des  näheren  aus,  um  dann  noch  weitere  Versündigungen  des  priester- 
lichen Standes  zu  brandmarken  und  zum  schluss  den  geistlichen 
selig  zu  preisen,  der  seinen  von  kälte  und  hunger  gequälten  mit- 


L88  BÖMER 

menschen  mit  nahrnng  und  kleidnng  zu  hilfe  komme.  H  hat  statt 
dieser  20  Strophen  nur  folgende  zwei  mit  einer  erinnerung  an 
das  wort  der  hJ.  schrift  vom  unwürdigen  genusse  des  leibes  Christi 
und  der  mahnung  alsbald  umzukehren  und  durch  die  beichte  Ver- 
gebung der  schuld  zu  erlangen: 

Nonne  legis,  qui  indigne  Ad  cor  ergo  revertere, 

edit  vel  tractat  maligne  coufitearis  propere, 

corpus  cristi  tarn  insigne,  deus  enim  remitiere 

quod  eterno  perit  igne?  cupit,  si  velis  petere! 

Die  abweichende  form  der  letzten  Strophe  hat  offenbar  dem 
ganzen  einen  marcanten  abschhiss  geben  sollen  :  statt  reiner  trochü- 
ischer  achtsilbler  in  allen  4  versen  trochäisch-daklylischer  rhythmus. 
2  mal  (1.  3)  mit  dem  daktylus  an  zweiter  und  2  mal  (2.  4) 
an  erster  stelle. 

Lesarten   von  H   zu    den   10   ersten  Strophen 
des  Wrightschen   textes  (v.  1 — 46). 

1,  4.  deo  servit  et  devote.  2,  4.  este  st.  Estis.  3,  2.  conformari, 
besser  zu  mihi  und  zum  sinn  der  stelle  passend  als  confortari  bei 
Wright.  4,  1.  Obedile  suromo  vali;  hiernach  Wr.s  sinnloses  0  beati 
summonati  zu  verbessern.  5,4.  corde  ore;  Wr.s  ore  corde  ver- 
meidet den  hialus.  5,  5.  [vielmehr  5a,  l]  habilalis  st.  el  Lentis. 
nach   5,7   [5a,  3]   fehlt   bei    Wr.   der  schlussvers  der  slr.   5a : 

si  bene  hoc  faciatis. 

ö,  5.  [vielmehr  6a,  1]   vobis,  wirkungsvoller  als  Wr.s  nobis,  da 

den   prieslern   selbst    der    ausspruch    der    schrift    bekannt  sein  soll. 

est  st.  Iinec.       0,  7  [6a,  3].  est  st.  sil.        7,  1.   Castilalis  st.  Miserorum. 

8,  1.    hie    st.    haee.        2    (bei    Wr.    fehlend):    euius   manus  sunt 

immunde        9,  3   amplexum. 

10,  l — 3.  Scire  velim,   missam  quare 

sacrosanetum  ad  altare 
stanti  vadis  immolare 
Wr.:      Scire  vellem   tarnen   quare 
sacrosanetum   ad   altare 
stanli  velut  immolare,  (?) 
Wr.    selbst    setzt    hinler    den  3   fers    ein   /ragezeichen,      seine 
lesart   gibt  in  der  tat  keinen  sinn,    vor  allem  fehlt  das  verbum  zu 
quare.     H  bringt  dieses  in  vadis.     unklar  bleibt  nur  das  stanli,   es 
sei  denn,  dass  dieses  im  obseönen  sinne  gemeint  ist.     man  vergleiche 
die    vorwürfe    der  Schamlosigkeit  in  der  folgenden  Strophe  bei    Wr. 

4)  Invectio  contra  praelatos. 
Die  beiden  eingangsstrophen  der  Generalbeichte  sind  hier  zur 
einleitung   eines   neuen    mahnrufes   an    die   geistlichkeit   verwendet. 


HERDRINGER   VAGANTENLIEDERSAMMLl  M. 

die  kid e\  ersten  verse  mochten  die  Stimmung  des  erbitterten  diditi 
so  vortrefflich  schildern,   dass  er  einen    besseren  ausdruck  füi 
zu  finden    nicht    im   stände   gewesen  wäre,    und    ihn    deshalb 
übernähme    der  Strophen   veranlasst   haben,     die  folgenden   teilen 
jedoch,  in  denen  er  sah  einem  vom  winde  getriebenen  blatte  i 
einem  ruhelos  durch   die   lande   fließenden    buche    vergleicht,    um 
dann  in  der  dritten  Strophe  zu  verkünden,  dass  er  zum  /ist? 
kommen  sei,  um  zu  richten  aber  Innre  und  sündet   und  du 

ron    den    schufen    zn    sondern  ,     trinken    in     diesem     zusammenhange 

geradezu  störend,     der  hinweis   auf  die  eigene  unstätigkeit  Lonnir 
den  eindruck  der  rede  des  Strafpredigers  doch  nur  herabsetzen,    die 

Situation  des  gedicktes  haben  wir  uns  so  zu  denken,  dass  der 
dichter  eine  festversammlung  von  geistlichen  dazu  benutzt,  Urnen 
ins  gewissen  zu  reden,  ähnlich  wie  im  ersten  gediente  des  Archi- 
poeta  in  der  Göttinger  hs.,  an  das  auch  die  betrachtungen  über 
die  Vergänglichkeit  der  weh  erinnern  {J Grimm  Kl.  sehr,  in  49 ff). 
diesmal  sind  es  ihr  geiz,  ihr  törichtes  hängen  an  irdischen  schätzen 
und  abermals  ihn-  Herzlosigkeit  gegenüber  den  unnen,  über  welche 
die  geifsel  geschwungen  wird,  die  dritte  Strophe  leitet  mich  ein 
mehr  jach  mit  alt  französischen  dementen  durchsetztes  gedieht  em, 
das  Wright  [Aneedota  literaria  [1844]  \'-'<  f  >  nach  einer  Oxforder 
hs.  in  sehr  verderbtem  zustand  mitgeteilt  hat.  wenn  s<ch  mich  die 
tendenz  dieses  Stückes  mit  der  des  unsrigen  deckt,  so  sind  doch 
nennenswerte  Übereinstimmungen  aufserhalb  dei  bezeichneten  Strophe 
nicht  zu  entdecken,  und  selbst  diese  weicht  in  der  englischen  hs. 
darin  ab,  dass  die  eingangsworte  in  französischer  fassung  gegeben 
sind  :  A  la  feste  sui  venue,  et  osten dam  quare  etc.  str.  1 — 11 
stecken  auch,  jedoch  mit  mannigfachen  Variationen,  in  einem  von 
Blume  tlllume-Dreves  Anulecla  hijmn.  wxin  289 /f)  veröffentlichten 
gedieht  als  str.  1 — 6,  11  und  9;  str.  4 — 9  au/'serdem  auch  noch 
in  dem  stücke  'Sur  le  jugement  dernier'  bei  Du  Meril  Poes.  \>o\>. 
122//'  als  str.  8 — 12,  jedoch  ist  hier  12  eine  irrtümliche  Zu- 
sammensetzung je  einer  hälfte  von  7  und  8  im  H.  die  letzte 
strophe  (12)  ist  wörtlich  übernommen  aus  dem  gedieht  Tempus 
aeceutabile,  wo  sie  an  dritter  stelle  steht  (Wright  Mapes  Ö2ff', 
auch  in  11  als  nr  7).  mit  ihrem  offendimus  [v.  1),  duich 
der  dichter  auf  einmal  mit  einschliefst  in  die  sünderschar,  ist  sie 
Iner  ebensowenig  passend  wie  der  gröste  teil  der  zn  anfang  ent- 
lehnten verse.    wie  im  eingang  des  ersten  Stückes  dieser  sammlun 


190 


bü.mi;r 


au/ serhalb  des  strophengefüges  Ovid-verse  hergesetzt  waren,  so  hängt 
der  dichter  hier  der  nennten  Strophe  ein  kurzes  citat  aus  einem 
cyrographum,  wie  er  sich  ausdrückt,  an  :  es  ist  psalm  61,  11  di- 
vitie  si  affluant,  nolile  cor  apponere.  vgl.  unten  nr  9  dieser 
Sammlung  str.  1 1 .  der  regelmä/'sige  fluss  der  vagantenstrophe  ist 
an  mehreren  stellen  unterbrochen.  2,  1  fehlt  die  Senkung  des 
2  fu/'ses,  doch  ligt  hier  sicher  ein  versehen  in  H  vor  (s.  nuten). 
4,  4  hat  der  2  fufs,  falls  nicht  mit  der  sonstigen  Überlieferung  clerus 
zu  lesen  ist,  eine  zusalzsilbe.  10,  3  stört  im  zweiten  teile  der 
hiatus,  doch  ist  die  lesung  si  ziemlich  unsicher,  da  die  hs.  hier 
undeutlich  geschrieben  ist.  vielleicht  ist  ein  anderes  einsilbiges  wort 
dafür  einzusetzen  oder  statt  si  et  :  etsi  zu  schreiben,  vom  tact- 
wechsel  ist  in  8  fällen  gebrauch  gemacht. 


Invectio   contra    prelatos. 

1  Estuans  iotrinsecus  ira  vehementi 
in  amaritudioe  loquar  niee  menti: 
factus  de  maleria  vilis  elementi 

folio  sum  similis,  de  quo  ludunt  venti. 

2  Semper  est  [!]  vitium  [!]  viro  sapienti 
super  petram  pouere  pedem  fundamenti; 
miser  ego  comparor  fluvio  labenti 

sub  eodem  aere  nunquam  remanenti. 

3  Ad  hoc  festum  venio  et  ostendam,  quare 
Singulorum  singulis  mores  explicare, 
reprobare  reprobos  et  probos  probare 

et  edos  ab  ovibus  veoi  seggregare. 

1,1.   Estuans  H  mit  der    mehrzahl    der    hss.,     Aestuo  C2,     Aestuor 
ClH3.       intrinsecus  H  u.  d.  meisten,  interius  B.  2.   loquar  mee  H  mit 

BC%H*H*H*F,  loquor  mee  C*FPS,  mee  loquor  Z.  vilis  H  m.  FZ,  levis 
CXC-H^H^H^PFS,    cinis    B.  4.  folio  sum  similis  H  mit  der  mehrzahl 

der  hss.,  similis  sum  folio  (Z'.-filio)  C3H-P.  2,  1.  Semper  est  vitium  H. 
abgesehen  von  der  oben  besprochenen  Störung  des  rhylhmus,  die  durch 
Wandlung  des  est  in  enim  leicht  gehoben  werden  könnte,  gibt  die  lesart 
auch  keinen  sinn;  sie  sagt  das  gegenteil  vo?i  dem  was  erwartet  wird. 
Cum  sil  michi  proprium  C,  Cum  sit  modo  pr.  H3,  Cum  enim  sit  pr.  (mit 
taclwechsel)  U'riglit  nach  //2,  Cum  sit  enim  pr.  besser  die  übr.  viro  H 
richtig  mit  dtr  mehrzahl  der  hss.,  vero  PS.  2.  pedem  H  (mit  petram 
ponere  allilterierend)  sl.  sedem.  fundamenti  //  richtig  mit  den  übrigen 
gegen  fiimamenti  F.  3.  miser  //  sl.  stultus.         fluvio  H  richtig  m.  d. 

meisten,  folio  Z.         4.  aere  H  mil  den  übr.  gegen  tramite  B. 


HERDRINGEN  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG         191 

4  All  terrorem  omoium  ?eni  locuturus  : 

oichil  esl  < |  n <>d  limeam,  valde  sum  Becurus. 

Sermo  meus  percutit  velul  »-ums  durus, 

(iiiniis  clrrn  us  audial  Bim p lex  el  matorua  ! 
"»  Puuiendi  presules  sunt  el  cardioales, 

abbates  el  monacbi  sunt  symoniales; 

Sacerdotes  emuli,  clerici  veoales 

coogregaotes  iugiter  opea  temporales. 
6  Quanto  plus  accumulant,  tanto  plus  marcescunt, 

sunt   vclut  ydropici,  qtiorom  membra  crescunt  ; 

qui  plus  bibunt,  sitiunt  magis  et  arescuot: 

>ic  av;iri  miseri  ounquam  requiescuat. 
:  Quid  est  avaritia  nisi  vilis  cultus, 

vaoitatum  vanitas,  cordium  tumultus? 

pereunt  divitie,  perit  homo  stultus, 

miser  postquam  moritur,  statim  lii  sepultus. 
s  In  sepulcro  Legitur  vili  tegumento, 

deportatur  postea  miser  in  tormenlo; 

quatitur  suppliciis,  ut  arundo  vento, 

redimi  non  poterit  anro  vel  argeoto. 
fi  Igitur  apponere  cor  dod  deberetis 

in  mundanis  opibus,  quas  vos  possidetis; 

cuncta  transitoria  sunt  her,  que  videtis, 

legite  cyrographum  el   invenietis: 

divitie  si  affluant,  oolite  cor  apponere. 
10  Quare  dum  in  prandio,  clerici,  sedelis, 

hostia  pauperibus  claudi  vos  iubetis? 

4,  1.  veni  //,  Surgam  Du  M(rril),  Bhuim).  2—4  bei  Du  3/.,  BL  in 
der  folge  3.  4.  2;  2.  timeam  /////.,  timeo  Du  M.  3.  Sermo  meus  H  mit 
cod.  I  nravien.  374(306)  cfr.  die  Varianten  bei  BL,  meus  sermo  DuBt., 
Noster  germo  BL         4.  clericns   //,  clerus  Du  M.,  Bl.         5,  1.  sunt  fehlt  IL 

2.  sunt  symoniales//,  nigrae  moniales  Du  JH.,  sanclimoniales  ///.  4.  iu- 
giter /////.,     insimul  Du  M.  6,  2.  merobra  //BL,     mala  fehlerh.   Du  '/. 

3.  qui  //,  dum  Du  M.,  Cum  BL  et  arescunt  //  mit  cod.  Varav.  und  Du  •/., 
exarescunt  Bl.  8,  2.  deportatur  ff,  deputatur  ///.  4.  poterit  //,  prae- 
valet  BL  vel  //,  nee  ///.  9,  l.  Igitur  apponere  cor  non  deberetis  //. 
Ergo  cor  apponere  magis  non  debetis  Du  M.;  bei  BL  fehlt  dieser  vert, 
dafür  ist  statt  des  in  II  angehängten  psnlmeu-citats  als  r.  4  in  die  slr<>i>h<- 
eingefügt  ;  Nihil  horam  proprium  est,  que  vos  tenetis.  10,  1.  rlerici  //. 
praesules  HL        2.  claudi  vos  //,  ilaudeie  Bl. 


192  BÖMER 

pauper  ciamal  fortiter,  si  et  vos  siletis, 
vix  ei  de  reliquo  datur,  quod  habetis. 

11  Nunc  in  lectis  mollibus,  clerici,  iacetis 
cortiuis  circumdati  simulque  lapetis ; 
unde  vobis  uuncio  :  si   modo  gaudetis, 
in  i'uturo  seculo  kve,  ve,  ve!'  dicetis. 

12  Graviter  ollendimus  regem  maiestalis, 
sed  nos  indulgentia  summe  trinilatis 
suam  nobis  gratiam  afferendo  gratis 
sauet  a  languoribus,  mundet  a  peccalis! 

Amen. 

10,  3.  fortiter  si  et  vos  siletis  //,  vocibus  admodum  quietis  Bl. 
4.  vix  ei  H,  Cui  vix  Bl.  11,  1.  Nunc  in  lectis  mollibus  //,  Vos  in  torreu- 
matibus  Bl.  2.  circumdati   simulque   H,    et  palliis,  verneis  Bl.         3.  si 

modo  H,  modo  si  ohne  lactwechsel  Bl.  12,  3.  afferendo  //,  conferendo 

ff'r.  und  H  nr  7. 

5)  Tractatus  de  partu  beatae  virginis. 

Anfang:  Gratuletur  omnis  muudus. 

Du  Meril  Poesies  inedites  (1854)  297  ff  hat  das  stück  nach 
einer  Pariser  handschrift  (P)  als  zweites  von  3  schaler-  weihnachts- 
liedern  veröffentlicht,  von  Blume  ist  es  darnach  in  die  reichhaltige 
Sammlung  von  'Cantiones  scholasticae'  aufgenommen  (Anal.  hymn. 
xlv  82/")  tinter  Zuziehung  eines   collect,  ms.  Victorinum  saec.  13. 

Lesarten  von  H.  1,  2.  esse  mundus.  3,  5.  salval,  wie 
schon  Du  Meril  richtig  stall  selvat  von  P  vermutet  hat.  4.  4.  Ad 
iil  H,  audit  Bl(ume),  wie  Du  Meril  bereits  statt  des  fehlerhaften 
audet  von  P  conjicierte.  5.  6.  P  Usl  justo  carni  munere.  niunere 
reimt  jedoch  nicht  auf  virgine  (v.  3).  Du  Meril  dachte  an  semine. 
H  richtig  numine,  doch  bleibt  das  auch  hier  Überlieferle  carni  in 
Ci.rnis  zu  bessern  oder  es  ist  mit  Bl.  iunclo  st.  iusto  zu  lesen. 
6.  1.  Riibus,  wie  Du  Meril  schon  aus  Hübet  von  P  besserte. 
4.  Ardet  rubus,  richtig  mit  Bl.  P  hat  stall  rubus  :  iubel,  was 
sinnlos  ist.  Du  Meril  schlug  rubel  vor.  7,  2.  mundi  venit  decus. 
4—6  ganz  abweichend :  IS'atus  sine  semine 

de  maria   virgine 
partus  liie  mirabilis. 

8,  5.  earo  nullit  nuliini  P.  Du  Meril  conjicierte  statt  des  sinnlosen 
nubiui  :  luinini.  Bl.  hat  richtig  :  Caro  nubit  numini,  H  mit  Um- 
stellung nubit  caro  numini.  6  fehlt  in  P  u.  bei  Bl. ;  Du  Meril  hat 
den  vers  et  nascilur  deiias  mit  lactwechsel  eingesetzt,  Bl.  :  Naeettur 
divinitas.     es  ist  zu  lesen  mit  U  :  nubit  carni  deiias.     10,  2.  dignuin. 


ÜERDRINGER   VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG         193 

4.  in  te  Hill.,  inde  /':  ersleres  vorzuziehen.       12.6.  voto  flau  de» 
rinnlosen  vice  /'.   Voci  ///. 

13.  »'"/'   /'.•  Aures  tuas  aperi ; 

da  quod  pelunl  pueri 

ludendi  licenliam, 

aostra  quod  infantia 

inaiii  laudel  gratiam ! 
In  die  Strophe   1  vers   tu  wenig  zahlt,  hat  Du  ftfe'ril  muh  >.  \ 
die    seile   summa    cum   laetitia,    />'/.  Pro   tali    licentia    eingesetzt,     in 
Wirklichkeit   fehlt   der    1   vers   der  Strophe;    er  lautet  nach   II  data 
sii  licenlia. 

6)  Principium  magistrale. 
ihis  gedieht  ist  ebenso  wie  das  vorige,  mit  dem  es  auch  m  der 
fort))  übereinstimmt,  ein  schüler-weihnachtslied.  es  ist  knaben  in  den 
iinim!  gelegt,  die  ihren  lehrer  begrüfsen  und  als  die  blute  dei 
docioren  preisen,  ihn  daran  erinnern,  dass  'Ins  weihnachtsfest  vor 
der  türe  stehe  [dessen  wunderbares  geheimnis  sie  hübsch  besingen), 
und  ebenso  wie  in  dem  vorhergehenden  stärk  mit  der  bitte  schliefsen, 
ihnen  freizugeben,  ihr  ijeist.  der  vom  vielen  studieren  abgespannt 
sei,  bedürfe  der  erhotung.  der  könig  des  himmels  solle  dem  lehre) 
alle  seme  sündtn  vergeben,  trenn  er  ihre  hitto  erfülle,  sie  versprechen 
dafür  reinen  herzens  dem  feste  entgegenzugehn.  vgl.  zn  dem 
thema  Haureau  Not.  et  extr.  n  30  ff  und  vor  ollem  die  'Cantiones 
scholasticae'  bei  Blume  Analecta  hymn,  (vgl.  oben  nr  5).  in  den 
hier  mitgeteilten  liedern  finden  sich  zahlreiche  anklänge  an  das 
unsrige.     in  2  versen  (2,  3  u.  S,  3)  ist  tactwechsel  angewant. 

Principium    m  a  g  i  s  t  r  a  1  e. 

1  Doctor,  ave,  flos  doctoruin,  3  Ecce,  dies  est  propinqua, 
preces  auili  puerorum  dies  felix,  dies  in  qua 
tibi  supplicantium!  virgo  cristum  peperil ! 
Tu  facetus,  tu  i'aeundus,  Cuius  partus  puellaris, 
uulli  par  es  aut  seeundus,  regis  ortus  salutaris 
imniit  primus  omninm.  vite  portam  aperit. 

2  Sunt  lionesti  tibi  mores,  I  Mundo  prius  desolato 
semper  vires,  semper  flores  primi  patris  pro  peccato 
per  eunetos  scientia.  venit  pacis  ountius. 

In  te  virtus  nulla  tabet,  Prodit  proles  virginalis 

suum  in  te  locum  habet  summo  patri  coequalis, 

multiformis  gralia.  summi  patris  tilius. 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXWII.  13 


194 


BÖMEH 


5  Verbum  patris  incarnatur 
neque  virgo  violatur 
propter  puerperium. 
Servus  esse  non  dedignans 
fuit  honio  se  designans 
nostre  carnis  socium. 

6  Luua  soli  copulatur, 
oeuler  tanien  eclypsatur 
aut  clefectum  patitur. 
Virgo  parit  mundo  ducem, 
regem  celo,  cecis  lucem, 
dum  rex  regum  nascitur. 

7  Fecundata  celi  rore 
pretermisso  partus  more 
virgo  parit  hominem. 
Virgo  profert  ex  se  florem, 
creatura  creatorem, 

lucis  plenitudinem. 


8  Sensus  noster  iam  marcescit, 
et  in  nobis  refrigescit 

iam  fervor  ingenii. 
Si  queratur,  quis  hoc  fecit, 
respondemus  :  nos  affecit 
labor  frequens  studii. 

9  Quia  vero  nos  labore 
pressi  sumus,  in  honore 
iesti  da  licentiam ! 

Sic  dignetur  rex  celorum, 
exoptatam  peccatorum 
tibi  dare  veniam. 
10  Regi  regum  occursuri 
studeamus  esse  puri 
sana  conscienlia, 
ut  in  sede  maiestatis 
gaudeamus  cum   beatis 
in  celesti  patria  !     Amen. 


7)  Rhythmus  goliardorum. 

Anfang  :  Tempus  acceptabile,  tempus  est  salutis. 

Wir  besitzen  von  dieser  mahnung  zur  umkehr  auf  dem  wege  der 
sünde  zwei  alte  ausgaben,  die  erste  von  Flacius  Ilfyricus  Varia 
doctorum  piorumque  virorum  de  corrupto  ecclesiae  statu  poemata 
([1556],  neudruck  1754;  nach  letzterem  citier  ich)  145/f  und 
dann  einen  neudruck  von  JWolf  Lectionum  memorabilium  et  recon- 
ditarum  centur.  xvi  (1600)  i  441  ff",  der  text  des  Flacius  Illyricus 
ligt  auch  der  ausgäbe  von  Wright  'olff  zu  gründe,  auf  welche  ich 
mich  im  folgenden  beziehe,  der  titel  lautet  hier  :  Praedicatio  goliae 
ad  terrorem  omnium. 

Lesarten  von  H  in  der  folge  des  Wrightschen  textes. 
Die  ab  weichungen  der  hs.  H  sind  sehr  beträchtlich,  sie  hat  nicht 
nur  6  Strophen  iveniger,  sondern  auch  Umstellungen  ganzer  Strophen 
und  einzelner  verse ,  sowie  lexl-varianlen  in  erheblicher  zahl.  H 
scheint  die  ältere  fassung  zu  repräsentieren,  slr.  1,  2.  excutere. 
3.  gladium  als  accus,  graec.  2,2  u.  3  umgestellt.  3  animam. 
3  u.  4  umgestellt.  4,  1.  lora,  was  als  object  von  reslringamus 
passender  ist,  als  das  vielleicht  auf  einem  versehen  beruhende  ora. 
2.  si  qua.  3.  erigamus  igilur  ad  honesliora,  als  object  zu  erigamus 
müsle  aus  dem  folg.  vers  nos  ergänzt  werden;  oder  sollte  erigamur 
zu  lesen  sein .'        4.  interilum.         5,1.   Torte  quidam   rogitat;  rogilat 


iii;m>m.\(.KK  vai.am i:\liedersahmli  ng 

verschrieben  st.  cogilat.  2.  durioribus,  tu  castigabo  bessei  passend 
als  vilioribus.  3.  et  induar.  1.  donec  (luat  mit  besserem  rhytitmut 
als  das  uns  Horan  Epist.  i  2,  12  entlehnte  dum  deflual  amois, 
♦j,  1.  lies  infelicissima  :  cur  non  confiteris?  1.  ezpectas.  craa  Forle 
iimi  eria  mit  tactwechsel.  7.  1.  Quidquid  ergo  cogitaa.  8 — I" 
fehlen;  11  hat  folgende  fassung: 

iiaie,  cleriei,  qui  e!  qualea  silis ' 

\rl  quod  in  iudicio  dicere  poteatia: 

mm  eril  hie  aliquis  locus  in  digestis, 

idera  ent  dominus  auetor,  iudex,   ii'sti>. 

Gegen  die  echtheil  von  s — 10  erhellt  sich  ein  sweifel.  von 
thi  beschreibung  des  gerichls  in  11  —  l.'l.  die  durchaus  genügt,  und 
in  s — 10  schon  manches  vorweggenommen,  der  gedanke  von  12  bei- 
spielsweise, dost  et  in  im  gerichte  Lein  ansehen  der  person  gibt,  ist 
in  9  in  etwas  andern-  form  schon  ausgeführt.       L2,  2.  dignilaa  papalis. 

14.  \i)    fehlen:     der    hieb     auj     die    lichter    der    damaligen   zeit    (14). 

mit  denen  der  urheber  der  Strophe  vielleicht  schlechte  erfahrung 
gemacht  hatte,  macht  ganz  den  eindruch   eines   einschiebsels. 

16.    1.  2.    Veslros,  ait  dominus,  renes  accingatis, 

hoc  est  sine  dubio  zona   castilatis 

Die  bibelstelle  steht  Exod.  12,11  (Renes  veslros  acciogelis). 
der  ausdruck  renes  accingere  kommt  nur  dieses  eine  mal  in  der 
schrifl  vor.  ganz  geläufig  dagegen  ist  in  der  Bibel  die  redenaart 
lumboa   accingere.     deshalb  ist   Wr.s  lumbos  accingatis  vielleicht  ein 

späterer  ersatz  des  selteneren  renes  acc.  3.  lucernam  manibua  etiam 
feraiis.  zu  anfang  fehlt  eine  silbe;  Wr.  :  banc.  17  fehlt.  18.  2. 
dedit.  3.  informare  moribus,  richtig  statt  des  unverständlichen  in 
[ervore,  moribus  bei  Wr.  4.  ut  vos  et;  UV.  besser  ui  el  vos. 
das  letzte  wort  des  cerses  in  II  undeutlich ,  es  scheint  laureare  zu 
heißen.  19  fehlt.  20  un(er  abweichender  anordnung  der  haupt 
beslandteile  der    Wr. sehen   Strophe   in  folgender  fassung: 

Sacri  vos  presbiteri,  sacri  vos  propbele, 
quod  vobis  paratum  est,  regnuin  possidHf, 
quod  vobis  paratum  est  sine  meta  niete; 
benedicti  filii,  mecum  congaudele! 
Hier     ist    das    quod     vobis    paralum    est    wirkungsvoll    widerholt, 
nährend    bei    Wr.    das    benedicti   filii    von   r.    1    in    v.    1    widerkehrt. 
die    worte    dieser    Strophe    ruft   Gott    den    guten  prieslern   zu.       wir 
müssen  also  in  II  aus   dem  laureare  —  wenn  so  zu  lesen  ist  —  von 
lv  l   ein    verbum    des    verkündens  heraushören,      weil  ihm  das  zu 
kühn  erschien,  hat  vielleicht  der  redacleur  des  Wr. sehen  textes  str.  19 
eingeschoben .     dabei    aber     wider    insofern    eine    unglückliche    band 
bewiesen,  als  das  moribus  erudire  von  19,  2  schon  in   IS.  3  voraus- 
gegangen nur.    auch  diese  möglichheit  bestärkt  mich  in  der  annähme, 

1  übergetchr.  eslis,  was  durch  den  reim  gefordert  wird. 

13* 


196  BÖMER 

dass    H   einen    ursprünglicheren   lext   bietet   als    Wrighls   bezw.    des 
Flacius   Illyricus  vorläge  *. 

8)    Evangelium  de  illo  qni  incidit  in  latrones. 

Der  vulgatatext  von  Lucas  x  25 — 37  mitsamt  einer  mystischen 
uuslegung,  wie  sie  das  mittelalter  neben  der  historischen  und  mora- 
lischen erklärung  liebte,  in  die  poetische  form  der  vagantenstrophe 
gebracht.  der  dichter  will  wie  ein  geistlicher  die  unwissenden 
belehren  und  solche,  welche  sich  an  der  vollen  börse  ihrer  mit- 
menschen zu  vergreifen  wagten,  durch  den  biblischen  appell  an  die 
nächstenliebe  auf  den  rechten  xoeg  führen,  als  vorläge  für  die 
mit  der  12  Strophe  beginnende  mystische  inier pretation  des  evan- 
geliums  scheint  die  Expositio  in  SLucae  Evangelium  des  Beda 
Yenerabilis  gedient  zu  haben  (Migne  Palrolog.  s.  L.  92  (1S50) 
468 ff).,  wo  es  heifst:  Homo  iste  Adam  iutelligitur  in  genere 
humano.  Jerusalem  civilas  pacis  illa  coelestis  a  cuius  beati- 
tudioe  lapsus  in  haue  mortalem  miseramque  vitam  deveuit.  Quam 
bene  lericho  .  .  .  significat  .  .  .  Latrones  diabolum  et  angelos 
eius  intellige  .  .  .  Plagae  peccata  sunt  .  .  .  Sacerdos  et  levita 
.  .  .  sacerdotium  et  ministerium  Veteris  testamenti  est,  ubi  per 
legis    decreta    mundi    languentis    vulnera    monstrari  tantum,    uou 

[*  herrn  pro  f.  WilhMeyer  verdank  ich  den  hinweis,  dass  das  gedieht 
auch  von  Blume  (Analecta  hymn.  xxxiii  292/7)  veröffentlicht  ist.  diesem 
texte  steht  H  näher  als  dem  Wrightschen,  wofür  vor  allem  der  umstand 
spricht,  dass  dort  auch  die  verdächtigen  strr.  8  —  10,  14  und  17  fehlen, 
die  in  H  nicht  überlieferten  strr.  15  und  19  hat  Blume.  19  ist  also 
doch  vielleicht  ursprünglich  und  in  //  irrtümlich  ausgelassen.  4 — 6  er- 
scheinen bei  Blume  in  der  folge  :  5.  6.  4.  am  schluss  hat  er  noch  eine 
slrophe  mehr,  in  einzelheilen  stimmt  H  mit  Blume  gegen  Wright  überein 
in  den  oben  angeführten  lesarten  zu  1,  2.  2,  2  und  3  (xtellung).  4,  1.  3 
(aber :  Erigamur).  5,2.3.4.  6,1.  11,1 — 4  (mit  folgenden  kleinen  ab- 
weichungen  :  1.  qui  vel  .  .  .  estis.  2.  Et  quid.  3.  aücui.  4.  iudex,  actor, 
testis).  12,  2.  16,  1.  2  (mit  der  abweichung  :  Quod  est  absque).  18,  3.  4 
(laureare).  20,  1 — 4  (nur  3  metu).  Blume  steht  mit  ff  rigid  gegen  H : 
1,  3.  6,  4  (forte  cras  non  eris).  7,  1.  18,  4.  endlich  weicht  Blume  von 
Wright  und  H  an  folgenden  stellen  ab  :  1,  2.  regnum  st.  iugum.  3,  2.  Qni 
nos  per  clementiam.  4,  4.  Ne  nos  ad  interitum  (so  auch  H)  trahat.  7,  2.  El 
corde  et  opere.  13,2.  sive  ianjtori.  18,  3.  in  spe.  an  soJistigen  laa.  von 
Blume  sind  noch  zu  verzeichnen  :  2,  3.  animos.  2,  4.  miseros.  4,  2.  Si 
quae.  5,  1.  Forte  tarnen  cogitas.  6,  4.  Exspectando  Senium.  16,  3.  Ac 
lucernam  etiam  manibus  feratis.     18,  2.  iubet.] 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG         197 

auiem  curari  poterant  .  .  .  Samaritanus  .  .  .  dominum  significal 
.  .  .  I  ii  in  *' n  t  ii  in  eius  esl  caro,  in  qua  ad  mos  venire  dignatus 
♦■st  .  .  .  Stabulum  autem  est  Ecclesia  praesens.  .  .  .  Duo  denarii 
muh  duo  Testamenta.  —  von  den  S<>  versen  weisen  nicht  weniger 
als  "21  im  doch,  siebensilbler  und  8  im  sechesilbler  tactwechsel  auf, 
der  eigenartige  bau  des  1  verses  ist  durch  das  beibehalten  de% 
stereotypen  Wendung  gerechtfertigt.  s,  3  fehlt  in  der  ersten  hulfte 
eitie  silbe;  wenn  nicht  ein  versehen  angenommen  wird,  ligt  die 
/onn  _^w-w_  (videns  et  aüdiens)  vor.  12,  1  hat  im  zweiten 
fufs  doppelsilbiye  Senkung,  aufser  dem  1  verse,  der  aus  dem 
genannten  gründe  eine  besondere  Stellung  einnimmt,  findet  sich  3  mal 
hiatus  im  innern  der  vershälften  (7,  3.  9,  2.  13,  4). 

Ewangelium  de  i  1 1 o ,  q u i  i n c i d it  in  I a t r o n e s. 

1  Lectio  saneti  ewangelii  seeundum  Lucam, 
ut  vice  presbiteri  nescientes  ducam 

El  illos  ab  invio  ad  viam  reducam, 

qni  bursani   pre  pondere  faciunt  caducarn. 

2  Quidam  venil  ad  ibesum  legisperilorum 
temptans  et  inlerrogaus  viam  mandatorum: 
•tu  qui  solus,  domine,  deus  es  deorum, 

quid  agam,  ut  partieeps  regni  sim  celoruni  ?  ' 

3  Respondit  :  'ut  per  te  sint  leges  adimplete, 
primum  deum  dilige,  fruetus  dei  mete: 
Secundo  de  pioximo  cura  sicut  de  te, 
biis  duobus  lota  lex  pendet  et  prophete.' 

4  '(Juis  est  mens  proximus?'  'quidam',  ait,  'forte 
bomo  de  iberusalem  descendens  consorte 
careos,  cui  niiserie  patueruut  porle, 

in   latrones  ineidit  miseranda  sorte. 

5  Latrones  buic  obviam  bornini  venerunt, 
quem  veslibus  propriis  expoliaverunt, 
Et  plagis  impositis  eum  reliquerunt 
tamquain  semimortuum ;  post  hoc  abierunt. 
Semivivum  deserunt  illum  vulneratum 
deseruntque  spoliis  suis  spulialum. 
Presbiter  lmnc  transiens  vidit  sauciatum 
indignansque  preterit  eius  et  affatum. 


198  BÖMER 

7  Accidit  et  preteril  postea  levita, 

nudum  panois  vidit  liunc  nudum  fere  viia 
videtque,  quod  illius  viia  est  invita ; 
sicut  primus  fecerat,  secundus  et  ita. 

8  Traoseunlem  repperit  virumque  prophanum 
venieDtem  legimus  et  samaritanuin; 
videns  et  audiens  clamautem  in  vanum 
misertus  auxilii  porrexit  luiic  maoum. 

9  Huius  vino  vulnera  oleoque  lavit 
et  misericordiler  Iota  alligavit; 

In  iumentnm  positum  secum  apportavil 
et  hunc  stabulario  pie  commendavit. 

10  Excrutatur  viscera  proprie  crumene, 

duos  nummos  repperit  dicens  :  "irater,  tene! 
Et  huc  cum  rediero,  reddam  tibi  pene 
et  laboris  prelium  expensasque  plene." 

11  Quis  eorum  proximus  iudicatur  a  te? 
Respondes  :  in  pauperem  motus  pietate. 
Vade,  fac  similiter,  iudicasti  rate ! 
Magnum  est  misterium  pagine  narrate. 

12  Adam  fuerit  homo  hie,  civis  preelectus 
caelestis  ierusaiem,  Jbei  ico  deiectus  ; 
multa  mala  passus  est  ad  terrena  vectus, 
primo  mundus  sordibus  post  bec  est  infectus. 

13  Lairones  sunt  demones,  plage  sunt  peccata, 
que  nobis  peccantibus  ab  hiis  sunt  illata; 
Immortalitatis  est  ade  vestis  data, 

sed  per  eulpam  modo  est  bec  vestis  sublata. 

14  Presbiler  significat  gentilem  obtusum, 
levita  Judaicum  populum  confusum; 
neuter  ade  coutulit  pietatis  usum 

neque  malum  illius  per  hos  est  exclusum. 

15  Tertius  misericors,  qui  samaritanus, 

id  est  cristus  porrigens  pietatis  manus. 
Miseri  misertus  est  nee  est  labor  vanus, 
quo  medico  factus  est  semivivus  sanus. 

16  Vinum  peniteutie  dieimus  rigorem 
et  mysericordiam  olei  liquorem  ; 

1 1,2.  hs.  fälschl.  Respondens.    12,1.  doch  wol  fuit?   14, 2.  hs.  fälschl.  levitam. 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLl  NG         199 

Jumeolum  significal  carnero,  qua  merorem 

cristus  DOBtrum  suatulit,  onus  el  laoguorem. 
n  Stabulum  ecclesia  rede  uuncupatur, 

rede  stabularius  presbiler  vocatur ; 

iah  stabulario  eger  commendatur, 

a  cuius  auxilio  eger  recreatur. 
L8  Eique  deoariis  duobua  oblatis, 

duobus  videlicet  testamentis  datis, 

Jussit  eum  pascere,  ut  sie  vos  credatis, 

lins,  pastores,  epulas  dalas  ut  pascatis. 
19  In(|uit  :  'ego  veoiam  vobis  redditurus, 

quidquid  equum  fuerit,  super  hoc  faciurus. 

()  qui  male  pascitis,  index  est  veoturus 

rationem  asperam  vobis  positurus] 
jii  Ad  cor  coDverlimioi  criatum  conhientes, 

verbis  et  operibus  vobis  referenles; 

laciat  vos  dominus  gregem  sie  pascentes, 

ut  sitis  per  omnia  secula  viventes.' 
Explicit. 

9)  Altercatio  vini  et  cerevisiae. 
In  der  vagantenliteratur  bekannt  sind  zwei  rangstreite  zwischen 
ic ein  und  wasser:  1)  ein  ernsterer,  lehrhafter,  beginnend:  Ctim 
lenerent  omnia  medium  lumultum  [Wright  ST//',  Bömer  in  Zeitschr. 
/.  vgl.  litt.- gesch.  n.  f.  6,  123//).  in  dem  der  berauschte  dichter  sich 
im  träume  in  den  dritten  himmel  versetzt  sieht  und  hier  einer 
auseinandersetzung  zwischen  Thetis  (aqua)  und  Lyaeus.  (vinum)  vor 
dem  throne  Gottes  beiwohnt;  2)  ein  jugendlich  kecker,  anhebend 
Deoudata  veritate  {Du  Meril  Poes.  ined.  du  moyen  dge  303,  brwh- 
stück  bei  Schneller  232/"),  in  dem  der  wein  sich  in  köstlicher 
yrobheit  gegen  eine  Vermischung  mit  dem  wasser  verwahrt,  natürlich 
fällt  der  streit  beide  male  zu  gunsten  des  weines  aus.  vor  ihm  muss 
auch  das  bier  stets  zurückstehen,  dus  ist  auf  serhalb  der  vaganten- 
litteratur  der  fall  in  zwei  lateinischen  gedichten  Feters  von  Blois 
(f  1198)  (Migne  Patrolog.  s.  L.  207,  1155/f),  und  so  lautet 
dus  urteil  auch  in  unserem  stücke,  das  übrigens  mit  Jenen  keinerlei 
Übereinstimmungen  aufweist,  dort  werden  namentlich  gesundheitliche 
gründe  gegen  das  bier  und  für  den  wein  ins  fehl  geführt,  hier 
sin 4  andere  eiwägungen  entscheidend,     dem  biere  wird  seine  weite 


200  BÖMER 

verbreit uny  zu  gute  gehalten,  in  Alemannien,  im  Hennegau,  in 
Brabant  und  in  Flandern,  im  reiche  Friedrichs  —  die  angäbe  wirft 
einiges  licht  auf  die  entstehnngszeit  des  gedicktes:  es  wird  sich  um 
Friedrich  i  handeln  —  und  in  Sachsen,  überall  wird  es  getrunken; 
alle  stände,  classen  und  geschlechter  der  menschen  laben  sich  an  ihm., 
dem  weine  aber  werden  besondere  wunderbare  kräfte  zugeschrieben, 
es  sind  die  allen  oft  besungenen:  er  gibt  den  äugen  doppeltes  licht, 
macht  greise  wider  jung,  nimmt  dem  herzen  die  sorgen  usw. 
natürlich  wird  auch  seines  woltätigen  einflusses  auf  die  ausübung 
der  künste  und  Wissenschaften  gedacht,  der  dichter  bemüht  sich  mög- 
lichst unparteiisch  zu  erscheinen,  indem  er  jedem  der  beiden  getränke 
fünf  Strophen  des  lobes  zuweist,  in  der  13  Strophe  —  zwei  waren 
als  einleitung  vorausgeschickt  —  beginnt  das  urteil,  sicher  hätten 
beide  teile  ihre  Vorzüge,  wenn  man  die  dinge  jedoch  richtig  betrachte, 
wäre  der  irdische  trank  dem  göttersohn  Bacchus  gar  nicht  vergleichbar, 
verf.  xcollte  lieber  über  die  meere  fahren,  als  im  bierkeller  sitzen 
und  den  geruch  der  fässer  dort  ertragen.  Bacchus  dagegen  duftete 
schöner,  als  Weihrauch,  rosen  und  lilien;  ihm  also  wäre  lob  und 
und  alleluja  zu  singen.  —  an  poetischem  wert  überragen  die  beiden 
rangstreite  zwischen  wein  und  icasser  unser  gedieht  bei  weitem, 
hier  stellt  der  dichter  selbst  von  an  fang  bis  zu  ende  in  ziemlich 
trockenem  tone  betrachtungen  über  den  wert  der  getränke  an  und 
zählt  erst  die  Vorzüge  des  einen,  dann  die  des  andern  auf,  um 
darauf  ein  gar  nicht  einmal  besonders  gut  motiviertes  urteil  zu 
sprechen,  dort  werden  die  streitenden  persönlich  auf  den  kampf- 
plalz  geführt,  um  in  rede  und  gegenrede  ihre  sache  zu  verfechten, 
das  belebt  die  darstellung  au fser ordentlich.  —  auch  die  versform 
unseres  gedichtes  besitzt  nicht  die  frische  und  lebendigkeit  der  beiden 
anderen,  es  sind  15  Strophen  aus  je  4  sämtlich  untereinander 
reimenden  zehnsilblem  mit  2  trochäen  als  basis  (vgl.  W  Meyer  Ges. 
abh.  z.  miltellat.  rhythmik  i  300  f).  str.  11  ist  ein  Ovid-vers  (Ars 
am.  i  237)  als  citat  angefügt ;  vgl.  oben  nr  1  dieser  Sammlung,  ein- 
gang  und  nr  4,  str.  9. 

Altercatio  vidi  et  cerevisie. 

1  Ludens  ludis  miscebo  seria, 
ne  fatiscant  mentes  per  tedia  : 
nunc  de  haclio,  nunc  de  cervisia 
traetans  lites  traetabo  iurgia. 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG        201 

_■  Assil  ergo  vestra  inlentio, 

DOQ    tllliliillli,    sed    ciiin    sileutio, 

explicelur  hec  disputatio, 
ad  boc  tendil  mea  petitio. 

Mutti  quidem  laudaol  cervisiam, 
parvipenduot  baclii  potentiam  ; 
laudant,  inquam,  fesluce  lih.nn 
el  coDtempnunt  deorum  gloriam. 

4  Nam  quia  credunt  summum  exisiere 
—  oe  vt'liniiis  verum  deprimere  — 
aquam,  credunt  oasci  <ie  feiere 

et  de  claro  oeptuoi  genere. 

5  Kius  regnum  e>t  alemaonia, 
baouooia,  brabantis,  Qaodria, 
frederici   regnum,  saxonia, 
terra  ponlus  predives,  omuia. 

6  lnde  bibiuit   reges,  pontifices, 
beremite,  archipontifices, 
Continentes,  matrone,  pelices, 
lnde  summas  recundat  calices. 

7  Piacet  letis,  placet  dolentibus, 
placet  parvis,  placel   maioribus, 
placet  sanis,  placet  languentibus. 
Quid  euarrem?  hec  placet  omuibus. 

E  Vestre  quidem  palet  notitie, 

que  sit  virins,  que  laus  cervisie  ; 

videamus  cum  mentis  acie, 

quante  bachus  sit  efficacie. 
9  Bachus  multis  pollet  miraculis  : 

bachus  duplex  dat  lumen   oculis  ; 

bachus  reddit  iuventam   vetulis, 

bachus  oummos  refert  a  loculis. 

10  Bachus  mentes  a  curis  liberal, 
bachus  omne  latens  considerat ; 
bachus  usus  semper  desiderat, 
bachus  nexus  doloris  lacerat. 

11  Bachus  est  fons  totius  «audii, 
bachus  semper  vult  tempus  otii; 


202  BÖMEIi 

bachus  levat  pondus  supplicii 
iuxta  versus  istos  ovidii: 
'Vina  parant  animos    faciuntque  coloribus  aptos.' 

12  Bachus  rethor,  bachus  est  phisicus, 
Est  legista,  est  dyaleticus, 
Gramancans  et  astrouomicus, 
<ieometer  et  bouus  musicus. 

13  Satis  probat  bunc  et  haue  ratio, 
sed  si  veri  hat  discussio, 
parum  valet  hec  comparatio 

de  hoc  potu  cum  dei  Glio. 

14  Ego  mallem  transire  maria, 
quam  sedere  iuxta  cellaria, 
ubi  iacet  festuce  filia: 
tantum  feteut  illius  dolia. 

15  Bachus  vero  viueit  flagranti* 
thus,  aroma,  rosam  et  lilia; 
bacho  demus  laudes  cum  gloria, 
decantemiis  omnes  alleluya! 

Explicit. 

15,  1  hs.  irrtümlich  :  fraglantia.  vgl.  nr  12  dieser  Sammlung,  v.  100 
verschrieben  :  faglantia. 

10)  Principium  magistrale. 

Der  neue  magister  bittet  den  vater  im  himmel,  seinem  gebrech- 
lichen schifflein  günstigen  wind  zu  senden  und  es  vor  dem  drohenden 
Schiffbruch  zu  bewahren,  damit  er  mit  seinem  kindlichen  sinn  nicht 
zum  gespötte  der  mitweh  werde,  auch  den  hl.  geist ,  den  doctor 
praeoius,  und  die  Jungfrau  Maria  ruft  er  um  beistand  an.  neider 
braucht  er  bei  seiner  unbedeutend  hei t  nicht  sm  fürchten,  wenn 
er  bescheiden  ist  und  nicht  mehr  begehrt  als  eben  notwendig,  getreu 
dem  Horazischen  cupias  quodeuuque  necesse,  so  folgt  er  damit 
einer  höheren  Weisung,  die  ihm  im  träume  zu  teil  geworden  ist. 
wie  das  zugegangen,  will  er,  wenns  den  Zuhörern  beliebt,  erzählen  : 

An  einem  schönen  frühlingstage  ist  er  zum  studieren  auf  eine 
blühende  wiese  hinausgegangen,  aber  der  süfse  gesang  der  vögel 
hat  ihn  die  bücher  bald  vergessen  und  in  schlaf  sinken  lassen,  da 
ist  eine  Jungfrau  von  wunderbarer  Schönheit  an  ihn  herangetreten 
und  hat   ihm   die   lehre   gegeben,   wenn   er  jetzt    die   doctorwürde 


HERMUNGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG         203 

erlangte,  nicht  stolz  zu  werden  wie  so  viele  andere,  damit  et  ihm 
nicht    erginge  wie    dem    Pirneos    (str.   17;    16,  i  :  uovus  ardei 
der  geglaubt  habe,  den  muten  gleichkommen  zu  können,  abei   elend 

zu  (jrunde  gegangen  sei.  herablassend  :"  sein  gegen  die  jüngeren, 
seine  tchüler,  und  ehrfurchtsvoll  gegenüber  den  alteren,  dahin  möge 
erstreben,  dannkönne  er  das  übrige  getrost  dem  Schicksale  überlassen, 

Es  ist  bekannt,  mit  welcher  vorliebe  die  dichter  des  mittelaltert 
solche  erscheinungen  fingiert  haben,  wie  hier  eine  erzählt  wird,  m 
tlcm  nächsten  prineipium  magistrale  dieser  Sammlung  (nr  \1>  wird 
uns  eine  ganz  ähnliche  anlaye  des  ganzen  entgegentreten. 

Die  form  unseres  gedichtet  ist  eigenartig  :  Strophen  der  seit 
W  alther  von  Lille  bekannten  art,  in  denen  3  rhythmische,  verse  der 
Vagantenstrophe  mit  einem  yern  aus  der  classischen  litteratur  ent- 
lehnte)! hexameter  als  schluss-  und  recapitulationsvers  —  der  sog. 
auetoritas  —  durch  den  reim  verbunden  sind,  wechseln  mit  Strophen 
aas  4  hexametern.  die  der  ersten  art,  xcelche  das  stück  eröffnen 
und  beschliefsen,  weisen  neben  dem  endreim  yröstenteils  auch  cäsur- 
reim  in  der  form  aaaa  auf;  ausgenommen  sind  die  Strophen  .">. 
11.  17.  19  und  23,  in  denen  die  cäsur  des  Hexameters  nicht  mit 
ileuen  der  rhythmischen  verse  reimt,  bei  den  letzteren  hab  ich  m 
der  ersten  hüljte  12 mal,  in  der  zweiten  'Smal  tactwechsel  gezählt. 
die  vier  hexameter  der  geraden  Strophen  sind  leonini,  die  zugleich 
auch  durch  den  endreim  paarweise  verbunden  (caudati)  sind,  also 
sog.  unisoni  t\V Meyer  Ges.  abh.  z  mittellat.  rhythmik  i  1905,84). 
unregelmdfsigkeit  :  4,  '1.  —  zu  einer  solchen  mischuny  von  accen- 
tuierenden  und  quantitierenden  stücken  in  ein  und  demselben 
gedickte  vgl.   \Y Meyer  i  333. 

Pr i  n  ci  p i  u  m   magistrale. 

1  Summe  clator  munerum  domiuans  in  celo, 
ad  te,  salus  paupemm,  Limidus  anhelo: 
Datum  pande  prosperum  naufraganli  Felo, 
teque  salutiferum  fragili  concede  pliaselo. 

2  Da  imclii  divioam,  deus  alme  pater,  medicinam, 
ne  michi  vicinam  possim  sentire  ruinam. 
Cum  sim  res  humilis,  ue  sim  derisio  vili>, 

Esto  michi  lacilis,  quia  sensu  sum  puerilis] 

3  Veni,  doclor  previe,  salus  generalis, 
virtutis  et  glorie  dator  specialis, 


204 


BÖMEH 


donum  michi  gratie 
Cesset  ut  invitlie 

4  Plena  pudicitia, 
tu  lenis  esto  michi 
0  venie  veoa, 
cor  tene,  cor  frena 

5  Iovidi  non  debeo 
humilis  sum  adeo, 
Livoris  aculeo 
Ingeuium  magnum 

6  Sicut  habel  res  se, 
nam  legis  expresse  : 
Cur  dissentire 

Si  placet  audire, 

7  Sol  wundum  adduxerat 
Sed  iam  relegaverat 
verque  novum  venerat 
terraque  protulerat 

8  Tempus  tarn  gratum 
impulit  in  pratum 
huic  dabat  humorem 
Nulli  maiorem 

9  Dum  crederem  studio 
pulcri  loci  gaudio 
dum  volucres  audio, 
harum  modulatio, 

10  Ut  datus  est  sopor  a 
afluit  absque  mora 
banc  ubi  spectavi, 
Cunctaque  laudavi} 

11  Tanta   pulcritudine 
quod  se  celi  semine 
ratioois  nomine 
atque  loquens  mecum 

12  lTu,  qui  doctor  eris, 
si  michi  credideris 

5,  4  Ovid  Remed.  am.  365. 
müdü,  verschrieben  statt  nüdü,  wir 
10,  2  hs.  :  afbq^. 


dona  spiritalis, 

vis  et  timor  exilialis! 

mundi  spes,   virgo  maria, 

nie  precedente  sophia! 

lux  mundi,  virgo  serena, 

cum  sobrietatis  hahena ! 

morsum  revereri, 

quod  non  licet  queri. 

magna  solent  teri: 

livor  detractat  homeri. 

me  sie  humilem  decet  esse, 

cupias  quodeuuque  necesse. 

michi  non  licet  ex  humili  re, 

cupio  vobis  aperire: 

nimios  calores, 

hyemis  algores, 

terre  pandens  flores, 

natos  sine  semine  flores. 

studio  me  sollicitatum 

redolenti  flore  beatum; 

fons  proximus,  herba  nitorem, 

tribuit  natura  decorem. 

primo  me  teneri, 

cepi  commoveri; 

dum  applaudit  veri 

potui  dormire  videri. 

volucrum  michi  voce  canora, 

coram  me  virgo  decora  ; 

faciern  eultumque  notavi 

quia  dignam  laude  probavi. 

verbo  preminebat, 

natam  ostendebat; 

fungi  se  dicebat 

tali  me  voce  monehat: 

doctoris  honore  frueris, 

et  si  mea  iussa  sequeris, 

6,  2  Horaz  Epist.  i  2,  46.         7,  1  hs. 
der  codex  stets  für  nondum  hat. 


HERDRINGER  V AGANTEN LIEDERSAMM LI  NG 


201 


Subditus  errori 

Meute    teile    metimri 

t::  .Mnlt(»s  magisterio 

superbie  vitio 

|i/(/s  quam  essel  ratio 

Vidi  priocipio 
lt  Hoc  manifeslari 

Musis  laude  pari 

Stliltll>    iter    lernen- 

ipse  mit  propere, 

15  Pyeriaa  dicitur 

per  quem  oovi  traditur 
qui  oimis  aggredilur 
Pennis  ipse  careos 

16  Si  quis  scrutelur, 
Equivalens  rletur : 
A  me  iion  oritur, 
Seil  sicu(   le^itur, 

1"  Pir  boc  idem  i mlicat 
quod  ignis  siguificat 
neu-  in >\  u in  predicat, 
Signatur  oovitas 

i^  Ne  profectura 
Mota  cui  cura, 
Ut  per  te  moniti 
doctores  soliti 

19  Duas  tibi  seniitas 
prior  est  bumilitas, 
Superbie  vanitas 

Esl  via  que  sequitur 

20  Ut  vivas   licite, 
Cures  sollicite 
Cunclis  dedecorem 
haDC  fugiendo  rem 

21  Sis  gralus  minorihus 
et  supplex  maioribus 

13,  3  hs.  fälschlich  :  puls. 
15,4  hs.  fehlerhaft  :  Pennis 
piecipitatu/-  in  den  text  geraten] 


ne  vivas  atque  pudori, 
tibique  succedel   liouori. 

rede   utentes 

\idi  coberentes  ; 

de  se  presumentes, 

tumidos  in  üne  ruentes. 

per  eum  valel  atque  probari, 

qui  credidit  equiparari. 

posl  haa  dum  vellel  abire, 

confractaque  membra  fuere. 

niiisas  imitatus, 

magistrantis  Status, 

appeteos  volatus, 

ad  terram  precipitalur. 

hoc  quod  per  Domen  habetur, 

novus  ardens  invenietur. 

quod  nomeo  sie  aperitur. 

scriptum  libris  reperitur. 

in  lingua  grecorum, 

seosu  latioorum; 

per  quod  magistrorum 

studiumque  fervet  ein  um. 

fugiendo  petas  nocitura, 

venio  te  premooitura, 

sint  te  mediante  periti 

uimis  ad  sublimia  nili. 

mooslro  nee  ignores : 

haue  sequi  labores. 

iuvisa  deo  res, 

niaculans  meritos  sibi  mores. 

iniclii   credas,   ac  humili   te 

semper  supponere  vite, 

mentis  depone  tumorem  ; 

queres  tibi  semper  honorem. 

eos  ioformando 

eos  veneraudo; 

ipse  carens   labitur  fwol   von  glosse   zu 
ad  terram  preeipilatus. 


206  BÖMER 

Sic  placebis  omnibus  laudeoi  tibi  dando. 

Hec  sunt  pre  manibus,  fortune  cetera  mando.' 

22  Verbis  fiue  dato,  monitu  michi  notificato, 
virgo  de  prato  somni  torpore  fugato, 
nescia  virgo  more  fugiens  fugiente  sopore 
Miraudo  more  miro  loca  fudit  odore. 

23  Ergo  te  suppliciter,  divina  maiestas, 
precor  :  michi  iugiter  per  te  sit  bonestas, 
que  bonis  beniguiter  bona  cuncta  prestas, 

Cui   l'uit,  est  et  erit  virtus  et  summa  potestas. 

11)   Castigatio  presbyterornm. 
Anfang:  Viri  beatissimi,  sacerdotes  dei. 
Von  diesem  in  zahlreichen  handschriften  erhaltenen  appell  an 
die  geistlichkeit  liegen  fünf  drucke  vor: 

1)  Flacius  Illyricus  143  ff.  titel  :  Golias  ad  Christi  sacer- 
dotem. 

2)  Wolf  Lect.  memorab.  i  439/f',  nach  Flac.  Illyr. 

3)  Wright  Ab  ff,  gleichfalls  nach  Flac.  Illyr.  (im  folgenden  nur 
Wright  citiert). 

4)  Du  Meril  Poes,  popul.  15/f,  als  teil  eines  gröfseren  gedichts, 
in  stark  abweichender  form. 

5)  Haureau  Not.  et  extr.  vi   13^".     ohne  Überschrift. 

Nachdem  Haureau  Not.  et  extr.  m  306  neun  französische  und 
zwei  deutsche  handschriften  nachgewiesen  (Paris  Bibl.  nat.  1093. 
2962.  3473.  3480.  8259:  Bibl.  de  V Arsenal  950,  Auxerre  23, 
Cambrai  250,  College  Ballice  349,  München  3591.  5015),  trägt 
er  Not.  et  extr.  vi  13  noch  eine  sechste  der  Bibl.  nat.  Paris  nach 
(18082),  um  auf  grund  von  dieser  und  nr  1093-  3473  und  3480 
einen  neudrnck  zu  veranstalten. 

Lesarien  von   H.     Abweichungen  von  Wright  und  Haureau. 

1,1.  Viri  beatissimi HWr.,  Viri  venerabiles  Haur.  3.  Caritate  radii 
fulgentis  H  fehlerh.  st.  Caritatis  radio  (Haur.)  od.  charitatis  radiis  (Wr.) 
fulgentis.  2,  2.  vera  vitis  HWr.,  als  apposition  zu  Christus  mindestens 
ebenso  gut,    wie   Haur.s    verae  vitis,    das  zu  palmites   zu   ziehen  ist. 

3.  avari  H  (näl  Du  Meril),  amari  Wr.,  inanes  Haur.  3,  1.  prolectores 
HHaur.,  portatores    Wr.       4,  3.  nescietur  HHaur.,  non  scietur   Wr. 

4.  Et  ni  pastor  vigilet,  caula  confringelur  H,  Nisi  (Nee  si  Haur.)  paslor 
vigilet,  ovile  frangetur  Wr.Haur.  (mit  laclwechsel  im  2  teile),  5,  3. 
spinas  atque  HHaur.,  et  spinas  et   Wr.         6,  2.  a  palea  grana  sepa- 


HERDRINGER  VAGANTEN  LIEDERSAMMLUNG         207 

ranles  H  (cäsurreim  mit  v.  1),  a  paleis  granum  separantes  Haur..  i 
paleis  grana  segregantes  Wr.  4.  Laicos  corripere  debetis  errantes  H, 
Laici,  i|in  Fragiles  sunt  el  inconstantes  Wr.Haur.  7,2.  credunl 
HWr.,  dicuot  Haur.  ."..  quidquam  H  fehlerhaft  st.  quidquid.  I.  ^< >lli - 
citum    //    falsch   st.    licitum.  s.  :;.  vobis    dod    deficiaui    BHaur., 

sHiiuiii  vestrum  meluanl  Wr.  4.  1  n »^i i um  /dlsclt  st.  ovium.  9j  2.  cibus 
fehlerhaft  st.  ßdes,  vielleicht  durch  ciho  v.  I  veranlasst.  3  ul  // 
UV.,  quod  Haur.  10,  I.  Ovibus  lenemini  veslria  HBaur.,  Omnibus 
tenemini  viris  UV.  2.  quid  quibus  HHaur.,  quibus  quid  Wr.  (m. 
tactwechsel).         11.  2.  dona  dare  BHaur.,  dar«  dona    Hr. 

3/4.     qunsi  sauet»*  fidei  regula  versalis 

vos  lepra  miserrimi  sin  santialis  (/)  // 
mehrfach  verderbt;    Wr.  gibt  die  richtige  lesari  von  dieser  fassung: 

quae  si  contra  fidei  regulas  vendatis, 

vos  lepram  miseriae  ferre  sentiatis 
Baur.  ganz  abweichend: 

Seil  si  cuiquam  fidei  munera  vendatis, 

[neursuros  Giesi  leprain  vos  sciatis. 
12,  2.  Gralisque  conficite,  gratis  baplisate  // 
im  ersten  teil  Wr.  nahekommend  (et  gratis  conficile  m.  tactwechsel 
Wr.,  gratis  confilemini  Haur.),  im  zweiten  mit  Baur.  Übereinstimmend 
(^r.-itis  consecrate  UV.)  '.).  omnia  probate  II  Wr. ,  eunetis  gratis 
dale  Harn.  4.  id  quod  HHaur.  gegen  Imc  quod  Wr.,  aber  bonum 
approbate  HWr.  gegen  vestrum  conservate  Haur.  L3,  3.  vita  H 

aal  fehlerhaft  st.  rania,  vielleicht  durch  viia  v.  2  reraulasst.  in 
der  folge  der  3  nächsten  Strophen  stimmt  II  mit  Wr.  überein,  Haue. 
!/ilit  sie  in  der  Ordnung  16.  1").  11.  14.  1.  paeifici  HWr.,  benevoli 
Haur.     15,  1 — 3.  //  m.  Haur.   übereinstimmend: 

Eistote  breviloqui,  ne  vos  ad  realura 

protrahal  loquacitas,  nutrix  vanitatum. 

Verbum  quod  proponitis  sit  abbrevialum; 

Wr.   beträchtlich  abweichend   und  mehrfach  fehlerhaft: 

Estote  benevoli  [!],  ne  vos  ducat  ad  reatura,  [vers!] 
verbum  quod  proponitis  sit  abbreviatum, 
per  vos  inter  siniplices  bene  adaptatum, 
Iti,  l.    Nulluni    faslum    expriniat    H,    Nullus   fastus    deprimat    Baur., 
Nullus    rastos   expriniat   Wr.        2.  gravitatis    veslium    HRV.,   Paritalis 
mentium  Haur.         4.  regni  sunt   HWr.,    sunt  regni  m.  tactwechsel 
Haur.        Haur.    hat    nach    16    noch    zwei   Strophen,   von  denen  die 
erste   (17)    dem   wünsche  ausdruck  gibt,  itass  die  priester  hur  auf 
erden  ihr  seelsorgeramt  so  versehen  möchten,   dass   Gott  sie  dereinst. 
wenn   sie    die   cblamys  caroalis  ausgezogen,   mit  der  stola  aeternalis 
bekleidete,    während  die  zueile  (18)  weiterhin  ausführt,    dass  Gott 
sie   von   Sünden   reinigen  möge,   damit  sie   in   Abrahams  scho/'s  aul- 
genommen   werden    könnten.      Wr.    bietet    nur  die  erste  der  beiden 
Strophen,   mit  geringfügigen  textvarianlen,    II  keim-  von   beiden,   viel- 


208  BÜMER 

mehr    stall    ihrer    folgende    andere,    die    den  gedanken  von   17  mit 
anderen  Worten  ausdrückt : 

Sic  ergo  vos  singulis  oruaie  virtutibus, 

ut  deduclos  misere  carnis  e  carceribus 

civitatis  supere  vos  iungat  civibus 

rex,  qui  sine  termino  regnal  in  celeslibus. 
die  abweichende  form  der  Strophe  legt  die  Vermutung  nahe,  dass 
sie  anderswoher  entlehnt  sei,  andernfalls  dürfte  angenommen  werden, 
dass  der  dichter  ähnlich  wie  in  stück  3  den  abschluss  des  gedichles 
auch  äuCserlich  hat  hervorheben  wollen,  wie  dem  auch  sein  mag, 
jedes  falls  ist  der  unregelmäCsige  bau  der  verse  wenig  glücklich, 
in  der  zweiten  hälfle  der  zeilen  1.  2  und  4  slehn  siebensilbler 
statt  der  üblichen  sechssilbler,  während  z.  3  eitlen  siebensilbler  mit 
lactwechsel  hat,  den  auch  der  siebensilbler  von  v.    I   aufweist. 

12)  Versus  Primatis  contra  praelatos  et  clericos. 

Anfang  :  Cur  ultra  studeam   probus  esse  probusque  videri. 

Das  einzige  rein  metrische  stück  der  Sammlung.     Flacius  Ilhj- 

ricus  hat  es  nach  einer  hs.  der  Dominicaner  zu  Basel  (B)  zweimal 

publiciert  :  im  Auctarium  zum  Catalogus  testium  veritatis  46  und  in 

Varia  doctorum  piorumque  virorum  .  .  .  poemata  365  ff.     Wolf  Lect. 

memorab.  i  742    reproducierte  diesen  text.     Fierville  in  Notices  et 

extraits  xxxi  1,  129  ff  iceist  das  gedieht  in  ms.  115  der  bibliothek 

von  SOmer  nach,  zerlegt  es  jedoch  in  zicei  teile  :  1)  die  46  ersten 

verse    (nr  lvi);    2)  v.  41ff,  beginnend  Temporibus  nostris  mutari 

secula  ceruo  {nr  lvh).     für  den  ersten  teil  verweist  Fierville  auf 

den   ab  druck   bei  Flacius   Illyricus,   wogegen    er   den  zweiten  für 

ungedruckt   hält,   obwol  er  als  fortsetzung   des   ersten   bei  Flacius 

III.  veröffentlicht  ist.     auch  ms.  710  der  bibl.  von  SOmer  enthält 

eine   copie   der   satire.      abdruck  auf  grund  dieser  beiden  mss.  bei 

Fierville  ao.   130  ff.     Haureau  hat  in  zwei  Pariser  hss.  aufzeich- 

nungen  des  gedichtes  gefunden  :  ms.  14193  (das  ganze  gedieht,  auch 

hier  wider  in  zwei  teile  zerlegt)    (vgl.  Not.  et  extr.  u  349/)  und 

ms.   16699  (der  zweite  teil)  (vgl.  Not.  et  extr.  \2l\ff).     die  69 

ersten  verse  stehn  auch  in  ms.  C  58/275  der  stadibibl.  zu  Zürich  (Z) 

und  sind  nach  dieser  plötzlich  abbrechenden  und  überhaupt  ziemlich 

nachlässigen  niederschrift  von  Werner  ao.  139 /f  mitgeteilt  worden. 

Lesarten  von  H. 
In  der  folge  des   lexles  von  Flacius  lllyr.  (BJ. 

V.  3  fehlt.  6.  probos  HB,  bonos  Z.  10.  Hos  quia  Sublimat  U, 
Hos  fert  sublimes  B,  Hos  quos  Sublimat  Z.  das  unhaltbare  quos  wol 
fehlerhaft  st.  quia,  wie  11  lisl.     stercora  HB,  slercore  Z,  ersteres  vor- 


HERDRINGER  VAGANTENL1EDERSAMMLI  NG         209 

tuxiehen.  11.  me  penitel  esse  poelam  ///  tu  v. 
poemtfi  esse  peritum  li.  12.  quielam  ///.  quietuui  li.  ll./  Pin 
die.  uuj  grund  dieses  Piogo,  das  auch  in  Paris  ms.  L4193  überliefert 
ist,  schreibt  Haureau  das  gedieht  dem  Petrus  Picloi  u.  II  lisl 
statt  Pingo  :  Fingu,  hat  also  die  beziehung  auf  den  urhebei  ■ 
Stückes  [allen  lassen  und  die  stelle  verallgemeinert,  in  II  ligl 
demnach  eine  redigierte  fassung  vor,  ebenso  wie  in  />',  die  /«/■  P 
ein  unhaltbares  1 1 1 <!•■  eingesetzt  hat.  am  schluss  des  verses  hat  II 
mit  /  und  der  Pariser  hs„  aus  der  Haure'au  ciliert,  operari,  während 
in  />'  ein  unglücklicheres  venerari  überliefert  ist.  17.  Natu  mihi 
quid  prosunt  versusque  slilusque  labella  HZ,  Nam  modo  oon  prosunl 
versus  Stylus  atque  labella  />'.  L8.  studiis  ///.  studio  li.  mille 
//.  dura  BZ.  11).  si  loquar  Uli,  colloquar  Z.  20.  leneam  magni  Uli. 
magni  teneam  /.  24.  lurbine  HZ,  11111111111'  li.  2H.  El  pro  ///,  Ah  pro 
li.  valuere  ///.  valvere  li.  27.  ista  quidem  ///,  I ^ t ;•  mihi  B. 
sola  lubons  //.  i>t.i  laboris  li/.  28.  Quid  prosunt  duri  //,  Quem 
[auf  laboris  v.  -1  bezüglich)  faciunt  duri  li,  Que  faciuut  seni  Z 
(kaum  haltbar).  29.  iueudi  HZ,  ;nl  ineudem  B.  30.  relegaul 
HZ,  relegunt  B.  31.  Me  remonetari  Uli  richtig  statt  des  fehler- 
haften Me  1:1111  monetam  Z.  .'!2.  nummicola  HZ,  nummiculus  ß. 
Varro  //,  sicher  versehentlich  statt  Maro  /,  Naso  B.  .'15  prius  //, 
magis  HZ.  .'!ti.  nimirum  IIB,  uon  mirum  /.  .'i7.  miser  esse  |><>iest 
//.  miser  esse  eupit  B\  letzteres  vorzuziehen  und  auch  von  Wernei 
eingesetzt  st.  des  fehlerhaften  cupit  unser  esse  Z.  infatuari  HB 
infamari  Z.  40.  n.imium  studeat  semper  piger  esse  ff,  minimum  studeat, 
discal  piger  esse  B,  uimium  studeat  discal  piger  esse  /;  diese  combi.- 
nation  von  11  u.  B  naht  haltbar,  deshalb  e<>u  Werner  auch  minimum 
gelesen.  41.  homines  ...  perdueunt  HB,  animos  ...  produeunt  Z. 
4."!.  bodie  pigros  //,  hodie  slultos  B,  hominem  pigrum  Z.  44.  Cum 
de  pigritia  fasius  //,  Cui  de  pigrica  [!]  fasius  Z,  Queis  de  pigrilia 
fruetus  B.  [2  teil.  v.  47//'/  4s.  Ecce  veius  //,  Nonne  vetus  B,  Omne 
veius  Fi  (=  Fierville),  Nonne  veius  Z;  Werner  hat  Omne  st.  des  fehler- 
haften Nonne  übernommen.  50-  famam  sine  Iahe  HB,  laudem  sine  labe 
Z,  ramam  cum  laude  Fi.  52.  studel  HBFi,  soletZ.  54.  nunc  H,  modo 
B,  lioc  FiZ.  atque  probavi  //,  gegen  den  reim  verstoCsend,  hoeque 
probatur  FiZ,  brobalur/7j  B.  50.  cito  HFi,  liic  BZ.  57.  Hoc  bodie 
haculus  H,  Huic  bodie  baculus  B.  Hoc  studio  baculus  Fi,  Hoc  hs  ole 
baculo  Z,  wofür  Werner  die  lesarl  von  Fi  übernommen  hat.  58-  ven- 
ilitur  hoc  HFi,  Venditur  hinc  B,  Uiitnr  hoc  Z.  59.  arismeticam  HZ, 
Aerismaticam  B,  erismalicam  Fi.  60.  Hoc  HBFi,  Hinc  Z.  ell'ecii 
potiores  HB,  affeeli  poiiorus  Fi,  facti  posteriores  .'"  Z.  lil  2  von  B 
Fi  fehlen  in  HZ;  die  verse  dürften  zur  erhlürung  des  Aeris- 
maticam  v.  59  eingeschoben  sein.  63.  Esl  gravius  HBFi,  Est  quamvis 
Z,  nach  den  übrigen  zu  rerbessern.  (J4.  Discere  richtig  HBFi 
gegen  Discat  Z.  prudenter  //#Ft  j/e^en  prudenlia  Z.  philosopbari 
//#Z,  versificari  Fi.  65.  nummis  nummos  in  chiaslischer  Stellung 
z.  d.  folg. :  libras  libris  //,  nummos  nummis  ZJ/-7Z.  67  N  feWew  in  / 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  U 


•21i>  BÖMER 

der  dichter  gebraucht  hier  und  im  folgenden  den  ausdruck  Dominus 
vobiscum  (Domnus  vobiscum  Fi),  den  der  priester  während  der  messe 
widerholl  an  die  gläubigen  richtet,  mit  komischer  würkung  zur 
bezeichnung  des  geistlichen  selbst,  der  Schreiber  von  Z  bezw.  seine 
vorläge  hat  den  ausdruck  offenbar  nicht  verslanden  und  deshalb 
v.  67/8,  sowie  r.  72 ff,  in  denen  jene  worle  immer  iciderkehren, 
forlgelassen,  nur  ein  einziger  der  verse  (77)  ist  noch  verständnislos 
angeflickt.  67.  qui  HB,  quia  Fi.  69.  Et  quia  HFi,  Atque  liic 
B.  71.  bos  HFi,  et  B.  72.  Dum  sua  facta  facit  H,  His  sua  festa 
canit  (facit  Fi)BFi.  H.s  facta  zu  verbessern  in  festa. 
73/4.     Dominus  vobiscum  bbros  quos  devoral  ore 

Nou  sapit  intro,  lamen  regitur  falo  meliore  H, 
Fi  mit  H  übereinstimmend  bis  auf  Domnus  und  fato  regitur; 
Dominus  vobiscum,  pingui  cum  murmurat  ore, 
Iam  sapit  intus,  quotl  regitur  fato  meliore  B. 
78.  cum  sit,  sibi  vilis  babetur  HB,  sibi  cum  sit,  nullus  babetur  Fi, 
kaum  hallbar.  79/80  fehlen  HFi.  sie  passen  auch  keineswegs 
zwischen  die  grammalischen  erörterungen.  81.  quaiuloque  H,  ali- 
quando  BFi.  Fi  hat  die  schlussworle  von  81/2  gegenüber  BH 
verlauscht.  83.  nefas  H,  nefasque  BFi,  besser.  84.  non  HB,  nil 
Fi.  85/6  fehlen  HFi.  87.  Est  HFi,  En  B.  89/90  fehlen  H. 
91.  negotia  HB,  pericula  Fi.  93-  meliora  .  .  .  pretiosa  H  (gegen  den 
reim  verstoCsend),  pretiosa  .  .  .  meliora  BFi.  96-  gingiuer  HFi, 
zinziber  B  (verschrieben  st.  zingiberj.  97/8  fehlen  HFi.  98  in  der 
fassung  von  B  kein  vers  u.  sinnlos.  99.  Huuc  pigmenla  favent 
secumque  H,  zu  verbessern  in  Huic  pigmenta  favent,  servitque  Fi; 
Hunc  unguenta  fovent,  servitque  B.  100.  Huius  et  ad  nares 
HB,  Huic  etiam  ad  nares  Fi.  faglantia  H  [ähnlich  wie  nr  9, 
slr.  15,  1  :  fraglantia /,  verschrieben  st.  flagrantia  Fi;  fragranlia  B. 
von  101  an  gehn  die  Überlieferungen  besonders  stark  auseinander. 
B  hat  den  längsten  lexl,  Fi  20  vv.  weniger  als  B,  und  H  wider  10 
weniger  als  Fi.  in  der  versfolge  zeigen  H  und  Fi  Übereinstimmungen 
gegenüber  B  (s.  die  folgende  tabelle),  die  auf  ein  näheres  ver- 
wanlschaftsverhällnis  zwischen  II  und  Fi.s  vorläge  schlieCsen  lassen, 
während  sie  vorher  freilich  in  einzelheiten  des  lexles  häufig  aus- 
einandergiengen  und  H  oft  mit  B  gegen  Fi  übereinstimmte. 


B 

H 

Fi 

101/152 

127/8 

127/8 

— 

129/32 

103/4 

103/4 

101  2 

101/2 

105/6 

105/6 

— 

107/8 

117/20 

117  20 

141  46 

133/40 

121/22 

147  52 

125  26 

— 

HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG        211 

101-  Cuius  HFi,  Huius  /;.  noveril  //.  doctua  BFi.  102  oullum 
facit  ullo  //.  iiiilln  facit  illimi  BFi.  104.  in  unda  //.  ab  unda  BFi. 
105-  pascunl  Mi;  hiernach  poscunl  Fi  sti  verbessern.  L06.  gratis- 
sima  //,  pinguissima  Bl  117.  Ha  quotiea  reseral  //.   Fi   $1.  reseral 

fehlerhaft  referal;  Sed  cum  vult,  reseral  B.  119.  in  illa  HFi  niht,,/ 
$t.  el  illa  /)'.       12.1.  valeal   //,  possil  B. 

127.  Oninis  gramaticus  laceris  paucia  quoque  pannia  // 
Grammaticus  vero  teouis,  laceris  quoque  pannis  BFi 
128.  Visis  eril  studits  //  (gihi  keinen  rechten  sinn),   Ah  obit  in  stodiia 
B,  Immoritur  studiis  Fi.       141.  est  hodie  //.  esl  aeris  li.        1  Vi 
II.  hie   B.      144-  laus  insipienti  //,  laus  omnis,  habenti  B.      14ti.  I'i 
de  gramaticis  plures  faciat  //,  Et  moi  nobilium  plures  faciel  H. 

13)  De  victoria  Parmensi. 

Den  ruhmvollen  sieg  der  Stadt  Parma  über  das  belagerungsheer 
kaiser  Friedrichs  u  im  jähre  1248  feierte  vermutlich  kurz  nachher 
ein  Parmenser  magister  scholarum  und  canonicus  in  drei  lateinischen 
gedickten,  die  in  einer  Münchener  hs.  des  13  jk.s  erkalten  und 
zuerst  von  Hoe/ler  in  der  Bibl.  d.  litt.  ver.  16,  2  ( 1 847)  123//", 
nachher  an  verschiedenen  an/leren  orten,  na.  auch  in  den  Man. 
Germ.  Scr.  xviu  790/^  im  anschluss  an  die  Annales  Parmenses 
maiores  abgedruckt  sind.  der  Verfasser  unseres  Stückes  verrat 
über  seine  person  nur,  dass  er  ein  begeisterter  anhänger  des  papstes 
und  bitterer  kasser  des  kaisers  gewesen  ist.  er  hat  weder  die  dinge 
an  ort  und  stelle  miterlebt,  noch  auf  grund  mündlicher  berichte 
geschrieben,  sondern  eine  schriftliche  aufzeichnung  als  quelle  benutzt, 
str.  22,  1  beruft  er  sich  ausdrücklich  auf  den  Wortlaut  einer  solchen 
(sicut  vere  didici  ex  tenore  carte),  dieses  Schriftstück  ist  uns 
erhalten,  ein  vergleich  ergibt,  dass  es  nicht  nur  an  der  bezeichneten 
stelle,  sondern  das  ganze  gedieht  hindurch  als  vorläge  gedient  hat. 
es  ist  ein  schreiben,  in  dem  'Potestas,  mililes  et  populus  Parmensis' 
der  stadt  Mailand  die  künde  von  ihrer  waffentat  übermitteln  und 
um  beistand  für  den  weiteren  lauf  der  ereignisse  bitten  (gedr.  bei 
Matthaeus  Paris  Hist.  maj.  Anglor.,  Addit.  107;  hiernach  bei 
HuiÜard-Breholles  Hist.  diplom.  Friderici  Secundi.  vi  2  ( 1 861 J 
591  fi.  da  sich  die  abhdngigkeit  des  dichters  von  diesem  briefe 
bis  auf  die  einzelnen  ausdrücke  erstreckt,  führe  ich  den  in  betracht 
kommenden  teil  der  vorläge  im  Wortlaut  an  und  verweise  in  eckigen 
klammern    auf  die   verse   des  gedicktes,  bei  denen  eine  entlehnung 

stattgefunden  hat  : 

14* 


212  BÖMER 

Slrenuis  et  prudentibus  viris  domino  ßonefacio  de  Sal  .  . . 
potestati,  mililibus  et  populo  Mediolanensi,  Philippus  Vicedominus 
potestas,  milites  et  populus  Parmensis  salutem  cum  gloria  et 
honore.  Laudes  retribuimus  [5,  1]  Deo  Patri  Filioque  suo  Domino 
noslro  Jesu  Christo  et  Spiritui  Sancto  trino  Deo  et  uni  majestati 
et  Virgiui  gloriose  que  non  propter  noslrorum  exigentiam  meri- 
torum,  sed  propter  suam  clementissimam  pietatem  civitatem  nostram 
protegil  et  defendit,  regit,  visitat  et  gubernat,  sicut  manifeste 
conspicimus  in  victoria  triumpbali  quam  die  inartis  duodecimo 
februarii  exeuntis  [10,  l]  contulit  nobis  Deus  sue  genitricis  inter- 
ventu  [6  u.  7],  Quamvis  enim  mille  quingenti  de  nostris  ivissent 
inter   Colornum  et  Bersellum   [11,  1.2]  et  preterea  due  porte  in 

integrum et  ille  seviens  draco  [11,  3]  qui  per  tantum 

temporis  obsederat  [8,  1]  terram  nostram,  nos  omuino  crederet 
deglutire  [12,  2],  jam  extra  sua  moenia  eunctis  militum  et  peditum 
suorum  agminibus  ordinatis,  nos  invocato  Dei  auxilio  et  Virginis 
gloriose  [17,  1],  cernentes  quod  potens  est  Deus  deponere  superbos 
et  humiles  exaltare  protinus  exivimus  contra  ipsos  populos  et 
milites  universi,  nequaquam  nostra  vestigia  retardantes  quoad 
usque  dimicantes  junximus  nos  cum  eis,  precedente  vexillo  cum 
forma  Virginis  pretiose  [17,  2/3],  cujus  regebamur  semita  et  ducatu. 
Et  quamvis  duritera  principio  restitissent  [21,  3],  nos  tarnen  iovales- 
centes  durius  in  eosdem  confregimus,  contrivimus  et  proslravimus 
ipsos  omnes.  Et  descendens  impius  Fredericus  per  subterfugia 
[24,  4]  tanquam  latro  [25,  1]  dimisit  suos  et  spolia  sua  prorsus 
[25,  2;  34,  3],  ex  quibus  tria  millia  [34,  2]  cepimus  et  plures. 
Cepimus  quoque  carrochium  [33,  1]  Cremonensium.  Cepimus 
etiam  menia  [33,  2]  que  fecerat  et  omnia  castra  [33,  2]  sua 
cepimus  et  habemus  omnia  sua  que  habebat.  Interfecimus  quoque 
Thadeum  judicem  suum  [29,  3/4.  30],  cubicularios  [29,  2]  et 
camerarios  [29,  1],  omnes  nostros  banneratos  [31,  1]  .  . .  Tandem 
in  civitatem  regressi  cum  Dei  laudibus  et  honore  noslre  disposuimus 
negotia  civitatis,  confidentes  in  illo  qui  est  vera  salus  omnium 
atque  virtus  [35]. 

Nicht  etwa  nur  den  bericht  übe?"  den  gang  des  ereignisses, 
sondern  selbst  die  einleitung  des  Schreibens,  das  lob  Gottes  und  der 
Jungfrau  Maria,  durch  deren  fürbüte  der  sieg  gewonnen,  hat  der 
dichter  übernommen,  indem  er  nach  einer  längeren  apostrophe  an 
den  papst   zum   lobe  .des  herrn  und  seiner  jungfräulichen  mutter 


herdringer  vaganteisliedersammh  ng      213 

auffordert,    die   noch   niemals  einen   im   stich  gelassen,   der  sich 

vertrauensvoll  an  sie  gewendet ,  und  jetzt  auch  wider  die  stmlt 
Parma    aus  grOster   not  errettet  habe,     ah   datum  des   siege»  gibt 

er  dm  12  tag  rar  ende  fehruar  (Fine  februarii  die  duodeoo)  1217 
an  \i),  1 — 3j.  12  17  ist  ein  iritum  statt  12  1\  der  nicht  vor- 
gekommen sein  würde,  nenn  der  In  ief  das  Jahr  verzeichne!  hatte. 
,i  hat  aher  nur  den  tag  der  schlncht  /estgehalten,  und  in  der 
Bezeichnung  desselben   (<li»'  duodeeimo  februarii  exeuntisj   ist  ihm 

der  autor  getreulich   gefolgt,      es   handelt  sich    um   den    1^   jebruar, 

der  12  1^  würklich  der  12  tag  vor  schluss  des  fehruar  nur  [vgl. 
die  anm.  bei  Huiüard-Breholles).  die  beiden  namen  Coloroum  und 
Berseilum  erscheinen  im  gedickte  [11,  1]  als colluvium  und  bessillum; 
statt    carrochium    ist  33,  1  ;  cartbocium    gelesen.  —  übrigens    ist 

der  drief  nicht  die  einzige  quelle  des  dichten  gewesen,  die  poetische 
ausschmÜekung  der  erzählung  mag  seiner  phantasie  entsprungen 
tein,  alter  er  berichtet  auch  über  tatsuchen,  deren  kenntnis  ihm 
anderweitige  quellen  übermittelt  haben  müssen,  dahin  gehören  vor 
allen  die  in  dem  schreiben  nicht  erwähnten,  sonst  aber  vielgepriesenen 
taten  des  päpstlichen  legalen  tiregorius,  denen  die  13  Strophe  der 
dichtung  gewidmet  ist.  von  den  drei  triumphliedern  des  Parmenser 
canonicus  schildert  keines  so  genau  den  verlauf  des  kampfes  wie 
das  unsrige.  <las  erste  ergeht  sich  in  ziemlich  allgemein  gehaltenen 
auf  forder  ungen  zum  siegesjubel,  wahrend  die  beiden  anderen  umfang 
reicheren  und  weiter  ausholenden  mehr  betrachtungen  über  den 
ji  endigen  erfolg  anstellen  oder  bemerkenswert  erscheinende  einzel- 
heiten  des  geschehenen  herausgreifen.  alle  drei  sind  in  reinen 
Vagantenstrophen  gedichtet,  wohingegen  in  dem  vorliegenden  stücke, 
wie  in  nr  10  der  Sammlung,  mit  3  versen  der  vagantenstrophe  ein 
hexameter  bezw.  pentameter  (str.  3.  16.  20.  30.  31.  33)  verbunden  ist, 
der  widerholt,  namentlich  in  den  eingangsstrophen,  als  echte  auetoritas 
erscheint.  in  den  rhythmischen  Zeilen  ist  so  häufig  tactwechsel 
angewant ,  dass  nur  wenige  Strophen  von  ihm  freigeblieben,  viele 
aber  mehrfach  betroffen  sind. 

De  victoria   parmensi. 

1  Cum  ad  verum  ventum  est  veros  per  rumores, 
papa  pater,  dominum  laudes  et  lionores 
Superbos  et  emulos  pellens  detraclores: 
[nquinat  egregios  adiuneta  superbia  mores. 

1,  4  vgl.  nr  20  dieser  Sammlung  51,4. 


214  BÖMER 

2  Gaude,  pater  omoium,  et  clementer  ora, 
quia  per  te  dominus  regens  altiora 
Subvenit  ecclesie  facta  tarnen   mora: 

Grata  supervenit,  quam  nou  speravimus,  hora. 

3  Sancte  pater,  sanctior  adhoc  certe  fies, 
Dum  tu   pati  gravia  patieuter  scies; 
post  laborem  dabitur  tibi  longa  quies: 
Non  faciunt  anni,  quod  facit  una  dies. 

4  Nutu  cuius  oritur  et  occultat  pbebus, 
frederico  nocuit  paucis  in  diebus, 

(jui  mundum  turbaverat  multis  speeiebus: 
Ludit  in  humanis  divina  potentia  rebus. 

5  Laudes  retribuere  domino  debemus, 
falsus  cesar,  decius,  romulus  et  remus, 
perdidit  victoriam,  quam  nos  retinemus: 
Viclorem  a  viclo  superari  sepe  videmus. 

6  Licet  sit  brevissimus  nostre  vite  cursus, 
Graviter  nos  opprimunt  hostium  in  cursus, 
Sed  regina  virginum  nobis  est  succursus: 
Ultimus  est  ad  eam  post  omnia  fata  recursus. 

7  Dum  ad  hanc  recurritur  matrem  pietatis, 
opem  uulli  denegat,  sed  succurrit  gratis; 
nuper  prece  populum  parme  civitatis 
faucibus  eripuit  pia  virgo  draconis  hiatis. 

S  Hanc  nuper  obsederat  hie  draco  versutus, 
fredericus  nomine,  vir  labe  pollutus; 
per  bunc  in  imperio,  quo  est  destitutus, 
Vivitur  ex  rapto,  nou  hospes  ab  bospite  tutus. 

9  Huic  draconi  perfido,  crudeli  et  crudo, 
non  est  ulla  pietas  neque  mansuetudo; 
dici  potest  verius,  breviter  concludo: 

Non  missura  entern  uisi  plena  cruoris  yrudo. 

10  Fine  l'ebruarii  die  duodeno 

In  anno  millesimo  atque  ducenteno 
quadrageno  septimo  vir  plenus  veneno 
preeipit  arma  capi,  satietur  ut  ex  alieno. 

2,  4  Horaz  Epist.  i  4,  14.  4,  4    Ovid  Ex  Ponto  iv  3,  49. 

5,  4  Cato  Dist.  n  10,  1.  9,  4  Horaz  Ars  \ioet.  476. 


EIERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG        215 

u  Cum  inier  colluvium  et  besaillum  forte 
Ivissent  cum  pluribus  parme  »J n«*  porle, 
ille  draco  seviens  sua  ductus  Borte 
lemptat,  ut  haue  capiat  magua  comilante  coborte. 

12  Viso  parme  populus,  quod  haue  maledicius 
rieglulire  satagit  el  eorum  victus, 

cum  iotrare  oequeal  aliler,  cooflictus 

se  paral  ad  pugoam,  couculcet  ut  ictibus  ictus. 

13  Vir  prudens  gregorius,  patrie  legatus 
a  papa  gregorio  quondam  destinatus, 
procuraos  fideliter  honorem  papalus 

affuil  inter  eos,  vir  ad  inclita  facta  paratus. 
L4  Assunt  vicedominus  ei  potestas  ville, 
milites  et  populus  mentis  oon  pusille; 
quilibet  se  reputat  maiorem  achille. 
Omnibus  uiiiis  erat  prineeps  gregorius  ille. 

15  Ilic  ortalur  populum  prudenti  sermone, 
excilent  ut  virginem  laudum  actione, 
Corde,  volo,  lacrimis  et  oratione, 

Martis  ut  bos  dubii  dubio  cooservet  agone. 

16  Ad  bec  totus  populus  clamat  'deus  meus, 
amedeus,  bodie  oon  sis  pbariseus, 

nunc  iil)i  confiteor  quasi  miser  reusl' 

Qeclitur  iratus  voce  roganle  deus. 
IT  Virginia  auxilio  demum  invocato 

rt  eius  ymagine  vexillo  signato 

precedente  aciem  legali  mandato 

Se  minime  dubio  metuunt  exponere  lato. 
IS  Populus  parmensium  utriusque  sexus 

permanet  inlrepidus,  tutus,  uon  perplexus, 

dum  ad  preces  virgiois  matris  et  amplexus 

lilius  uuicus  est  ad  eorum  comoda  flexus. 
l't  Urbem  cives  exeunt  et  lolum  commune, 

In  hoslilcs  acies  instant  oportune; 

qui  regit  expositos  dubie  fortune, 

Ille  dedit  pbebo  radios  et  cornua  lune. 

11,2   zur   bedeutung    von   j>orte   vgl.  Du  Cangr  s.  v.  porta   1,   zusatz 
(porla  pro  milium  turba  videtur  aeeipi). 


216  BÖMER 

20  Sicut  ordinatum  est,  vexillum  precedit, 
armata  per  ordinem  acies  incedil, 

Clamat  :  Miostem  deslrue,  deus,  qui  nos  ledit  I 
Materiam  venie  sors  tibi  nostra  dedit.' 

21  Tunc  in  hostes  irruunt  ac  si  sint  securi 
ex  eventu  dubio  triumphi  futuri; 

hiis  resistuot  duriter  hostes  valde  duri, 
Ignari  penitus,  quod  denique  sint  perituri. 

22  Sicut,  vere  didici  ex  tenore  carte, 
pugna  gravis  extitit  ex  utraque  parte; 
alterum  persequitur  alter  in  hoc  marte: 
hostis  obest  hosti,  sie  ars  deluditur  arte. 

23  Ilic  opus  est  gladiis,  ense  vel  cutello, 
nou  est  opus  legibus,  nota  vel  libello; 
non  auditur  aliquis,  si  dicit  'apello!' 
Non  bene  conveniunt  in  tali  talia  bello. 

24  Diu  dimieaverant  in  bello  fatali, 
needum  locus  aderat  fato  triumphali, 
quando  draco  seviens  plenus  doli  mali 
Cepit  adire  fugam  subnixus  equo  speciali. 

25  Tamquam  latro  latuit  meute  manens  fieta 
sua  supellectili  tota  derelicta 

genteque  multiplici  graviter  afflieta, 
Et  sua  falsa  i'uit  demum  victoria  vieta. 
20  Attendens  astrologos,  signa  et  planetas, 
persequens  apostolos  sanetos  et  prophetas 
hie  senex  non  cogitat,  quod  inter  dietas 
labitur  oeculte  i'allilque  volubilis  etas. 

27  Parva  gens  parmeusium  hostium  respectu 
diniicant  viriliter  et  cordis  affeclu, 

quod  patet  ad  ultimum  ex  rei  effectu; 
Quod  periere  viri  nece  nescio  dicere  nee  tu. 

28  Hostes  parme  populus  persequens  attente 
fugat,  necat,  destruit  duce  fugiente 

et  vindietam  reeipit  ab  hostili  gente; 

Que  resupina  iacet  parma  victrice  manente. 

29  Duces,  camerarios  necat  in  pressura 
nee  cubiculariis  parcit  gens  secura; 


HERDR1NGFR  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG         217 

tbadeus  occiditur  iudex  uece  dura, 

Nil  silii  (udc  valuil  civilia  aoscere  iura. 

30  De  morte  dolendum  est  iudicis  Lbadei, 
qui  profectum  publice  procurabal  i«*i . 
Invictus,  ul  dicitur,  adherebal  ei, 

Qui  luil  ecclesie  pestis  amara  dei. 

31  Banneratos  gladius  ultos  quosdam  ferit, 
(|uiluis  parma  parcere  nee  cural  oec  querit; 
ciiiii  istis  ml, iim.i  mortuis  oon  perit: 

pena  potesl  demi,  culpa  perhennia  erit. 

32  Quos  teoebat  viuculis  vd  captivitate 
de  viris  parmeusibus  carens  pietate, 
liberavil  doroiDus  sua  potestale: 

villa  cremata  fuit  peuilus  parme  feritate. 

Cremona  cartbocium  perdidit  iuvita, 

fredericus  menia  el  castra  munita, 

villas,  loca.  spolia  male  acquisita; 

Perderel  el  vitam,  ni  laluissei   ita. 
i  I><-  suis  railitibus  el   gente  privata 

Parma  iria  milia  teoel  captivata 

preter  >n;i  spolia  uundum  esümata: 

Sic  deus  hec  statuil  ßeri  cum  matre  beata. 
>  Obtenta  victoria  per  summum  viclorem 

Panne  gens  ad  propria  redit  post  laborem 

Et  ad  laudem  virgiois  caotat  et  lionorem: 

'Stirps  Jesse  virgam  produxit  virgaque  Qorem.' 

31,  1  (Ins  durch   correetur  in   der  hs.  verunstaltete  erste  ivort  des 

verses,    von   dem   nur  Ba  .  .  .  tos  deutlich  sichtbar,    ist   an   der  hand  des 

briefes  Banneratos  tu  lesen.            31,  4  Ovid  Ex  Pont,  i  7,  20.  35,  4 
hymnenanfang.     vgl.  Chevalier  Repert.  hymnol.  in  583. 

I  h  Conquestio  Primatis  expulsi  de  domo  leprosorum. 

[»fang  :  Dives  eram  et  dilectus. 

Wiight  Mapes  64  ff  hat  von  diesem  klagegedtcht  nach  ms. 
Huri.  '.i7s  (//')  eine  sehr  unvollkommene  ausgäbe  geliefert  unter 
dem  titel  'Golias  de  suo  infortunio'  statt  des  in  der  vorläge 
überlieferten  kurzen  'Golias'.  einen  besseren  text  bot  Haureau, 
\ot.  et  extr.  vi  128  ff  nach  zwei  Pariser  hss.  (nr  16208  und 
18570).     als  den   Primas,   der  sich  in  den  versen  widerholt  selbst 


•218  BÖMER 

nennt  und  auch  in  der  Überschrift  unserer  hs.  als  Verfasser  bezeichnet 
ist,  ermittelte  Haureau  einen  canonicus  von  Orleans  namens  Hugo 
(primicier  ou  primat  des  ecoles  d' Orleans)  aus  dem  2  viertel  des 
12  jh.s,  der  nach  dem  berichte  des  canonicus  Franc.  Pippino  von, 
Orleans  und  nach  eigener  er  Zählung  (hs.  von  Tours)  eines  lages 
seines  canonicats  beraubt  wurde,  einzelheilen  dieses  misgeschicks 
werden  in  dem  gedichte  weitläufig  erzählt,  doch  vermögen  wir  uns 
kein  klares  bild  von  dem  Sachverhalt  zu  machen*. 

Lesarien  von  II.  In  der  folge  des  lexles  von  Haureau. 
Der  in  diesem  nicht  strophisch  gegliederten  gedichte  besonders 
naheliegenden  Versuchung ,  nach  belieben  verse  auszulassen  und 
einzuschalten,  ist  in  den  verschiedenen  Überlieferungen  häufig  nach- 
gegeben, v.  7.  quibus  HHl,  Quorum  Haur.  8  fehlt.  9.  quis 
uro  HHl,     quibus  Haur.  10.    sed    horr.  HHaur.,     et  horr.  H*. 

12.  infidelis  HHaur.,    homo  procax  H\  13   fehlt  HH\  14  5 

umgestellt.  17.  Dacianus  HIV,  Daciscanus  Haur.  20.  Iransvexit 
HHaur.,  invexil  Hl.  25.  honus  erat//,  erat  bonus  H\  eram  bonus 
Haur.  30.  sed  emunclus  ab  argen to  H,  ut  emunclus  suin  argento 
H^IIaur.  32.  proieclus  H,  dejeetus  Hx,  depulsus  Haur.  lormento 
fehlerhaft  st.  monienlo ,  durch  das  lormento  v.  31  veranlasst,  ein 
solches  versehen  noch  mehrmals  in  diesem  gedichte  (v.  93.  122). 
35.    primas    HH\    prima   Haur.  37.    amplion  HHaur.,    graviori 

Hl.  40.  diguiiale  digniori  auf  traditori  (39J  bezüglich,  vielleicht 
ersalz  für  das  durch  vestri  etwas  anslöCsige,  aber  doch  wol  zu 
haltende    dignilatem    vestri    ebori    WHaur.  41.    honesta    fehler- 

haft st.  honesli  Haur.,  in  H1  fehlt  d.  vers.  42.  viliori  HHaur., 
meliori  Hl  fälschlich.  44.  HHaur.,  fehlt  H*.  50.  collum  mihi  H, 
mihi  Collum  HxHaur.  52.  I'edo  H,  aegro  H*Haur.  56.  Aberravi, 
sed  pro  deo  HHaur.,  Oberravi  eorarn  Duo  Hl.  61  fehlt  H.  62 
fehlt  HH\  63.  vestrae  memor  HHl,  memor  vestrae  Haur.  sanctilalis 
HHaur.,  charilatis  H\  66—68  fehlen  H.  69  vri  (undeutlich) 
H  st.  veslris.  i'atis  H  (wie  es  scheint,  jedoch  das  1"  undeutlich)  H\ 
dalis  Haur.  74.  |)ererro  HH\  purcurro  Haur.  75.  quondam 
HHaur.,  olim  //'.  S4.  et  edoctus  //,  Eruditus  WHaur.  S7.  tarn 
in    brevi    iam    despero    H,      jam    in    brevi,    quod    despero    HlHaur. 

93.  parvo  H  st.   brevi,    wol    wider   durch    parvo    v.   94    veranlasst. 

94.  ero  H,  erit  WHaur.  95.  quod  si  HH\  Et  si  Haur. 
97 — 100    fehlen    HHl;     sie   sind    nicht    unverdächtig,    da    sie    zur 

[1  herr  pro  f.  WilhMeyer  halle  die  gute,  mir  soeben  einen  abdruck 
des  in  den  nächsten  lagen  erscli einenden  zweiten  leiles  seiner  arbeil  über 
'Die  Oxforder  gedickte  des  Primas  magisler  Hugo  von  Orleans'  (Göltinger 
nacltrichten  1907,  113//')  zu  übersenden,  ich  bedaure  auf  die  hier  (158  ff) 
veranstaltete  neuausgabe  untres  gedichts  mit  reichem  commentar  nur 
noch  hinweisen  zu  können.} 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG        219 

einleilung  der  folgenden  erxählung  eingeschoben  tein  dürften. 
]  i»2.    passus    //  fehlerhaft   st.  pulsus.  106.   a  minislro  ganimede 

//  in.  einer  der  beiden  Pariser  hss.,  vielleicht  eingesetzt  statt  da 
bestimmten  namens:  ;i  Willelmo  Palimede  //'.  A  Guillelmo  Palamede 
Haur.  |  in.  der  zweiten  Pariser  hs. ).  1  07  fehlt  dann  ////'.  1  1 2.  man- 
tl;ii;i  ////',  mandalum  Haur.  117  fehlt  clamanlem  IL  dum  adjulo 
IUI, im.  Deus  ndjuto  //'.  118.  nie  pulabara  //.  li  putabam  Hau\ 
rebar  esse  //'.  122.  comes  fui  //  st.  pulsus  rui,  abermals  durch  ihn 
aüsgang  des  vorhergehenden  verses  verursacht.  124  fehlt,  i  2$  fehlt 
////'.  130.  dum  adiulo  HHaur.,  Deus  adiuto  //'  (fälschlich,  wie 
,-.  ii7  I.  132  — ")  fehlen  in  11  wie  in  den  Pariser  hss.,  Haur.  hat  sie 
Wrighl  entnommen,  obgleich  er  sie  auch  für  wenig  klar  hält.  \'M. 
scelus  HHaur.,  opus  Hl.  L39  11  fehlen  II.  143.  dum  HHaur., 
qui  //'.  1  11.  appellarel  HHaur.,  appellabal  //'.  1  15.  aduocar;  ver- 
schrieben st.  adiutorera.  15u.  quo  HHaur.,  qua  //'.  ferre  //.  rcrrel 
ll'Hintr.  151.  Accusalus  •■>!  per  faclurn  //.  besser :  Accusabam  turpem 
actum  ll'Utiiu.  155.  accusalus  (so  auch  156)  //,  judicalus  HlHaur. 
156—60  in  der  reihenfolge:  156.  157.  ir>'.t.  158.  160.  156  fehlt 
in  IV.  1",7.  magis  dou  obedi  (?)  //;  intus  dou  resedi  WHaur, 
Hin.  quidquid  sacre  dedit  eili  //,  qui  quod  sacrae  dalur  aedi  IP  Haur. 

mit  160  Schliefst  das  gedieht  in  II  wenig  glücklich  ab  (darunter: 
ExplicilJ,    nährend    nnrh    dm    anderen    Überlieferungen    161-       1    nmli 

weitere  vorwürfe  gegen  den  verräterischen  caplan  erheben  und  muh 
d<r  Palaraedes  (Palimedes)  von  v.  106  wider  genannt  wird.  ab  der 
Schreiber    tun   II  bexw.  seine    vorläge   wegen  dieser  anspielung  auf 

eine     bestimmte    peTSÖ  iiliehl,  eil  ,     über    die    er    sieh    vorher    durth    eine 

conjeetur   hinweghalf,    die  verse  jetzt  </anz  forlgelassen  hat.      /«' 
ein    streichen    des  /tilgenden    appells    an    die  mitbrüder   (165  —  77 
lag    eigentlich   kein   grund  vor,    dagegen    ist    es    sehr  wol  möglich, 
dass  diese  verse  erst  nachträglich  angeflickt  sind. 

15)  Petitio  Primatis  porrecla  papae  pro  benefit 

obtinendo. 

Anfang  :  Tau  tu  viro  locuturi. 

Den  ersten  druck  dieses  klagerufs  an  den  heiligen  vater  in 
Born  lieferte  Flacins  Illi/ricus  1  //'  unter  dem  langatmigen  titel  : 
'Querela  eruditi  et  pii  hominis,  qua  alloquitur  Papam  ostendens 
Praelaluras  \'  bona  Ecclesiastica  teneri  ab  indoctis  avaris  \"  igna- 
ris  ventribus  :  contemptis  Interim  \  esuhentibus  its,  qui  se  doc- 
trinae  studiis  dediderunt  :  petüque  hör  malum  n  Papa  emendari. 
issignari  tarnen  possunt  hi  rythmi  Gualtero  Mapes  .  .  .'  für  die 
Zuteilung  des  gedichls  an  Mapes  stützte  sieh  Flacius  auf  dessen 
Vita  von  Johannes  Baleus,  die  er  s.  121//'  zum  abdruck  bringt. 
bereits    PLeyser   [Bist,   poetarum    et   poematum  medii  aevi  779 ff) 


220  BÖMER 

konnte  nach  einer  Leipziger  hs.  zahlreiche  versehen  des  textes 
von  Flacius  berichtigen.  später  nahm  Wright,  auf  Flacius 
fufsend,  das  stück  unter  die  gedichte  des  WMapes  (blff)  auf. 
neben  den  drucken  bei  Flacius  und  Leyser  zog  er  Hart.  ms.  978 
(//')  heran,  in  der  Pariser  hs.  8359,  jetzt  3245  erscheint  das 
gedieht  mit  dem  kurzen  titel  Domino  Papae  unter  den  10  stücken 
des  Gualterus  de  Insula,  die  Mütdener  veröffentlicht  hat  (Die  zehn 
gedichte  des  Walther  von  Lille  genannt  von  Chatillon.  [1859]  45/f). 
gegen  die  Verfasserschaft  des  Walther  v.  Chatillon  sind  von  Haureau 
(Not.  et  exlr.  vi  302/)  bedenken  geltend  gemacht,  die  sich  jedoch 
in  der  hauptsache  auf  acht,  nur  in  einer  Pariser  hs.  (Nouv.  acqui- 
sitions  11567)  überlieferte  Strophen  stützen,  welche  sehr  wahr- 
scheinlich ein  späterer  zusalz  sind  (s.  unten  das  lesarten-verz., 
nach  str.  15).  Paris  hat  aufserdem  noch  2  hss.  :  Nouv.  acquis. 
1544  n.  11412.  das  in  H  dem  Primas  zugeteilte  gedieht  ist  hier 
überall,  wie  auch  in  der  Leipziger  und  Londoner  hs.,  anonym. 
Haureau  hat  zwei  ausgaben  geliefert: 

1)  Not.  et  extr.  u  ob  ff,  auf  grund  der  drucke  von  Flacius, 
Leyser.  Müldener  u.  der  2  Pariser  hs.  Nouv.  Acq.  11412  u.  11 867 
(unten  Haur.  i  citiert) 

2)  Not.  et  extr.  vi  299  ff,  unter  Hinzuziehung  von  Paris 
Nouv.  Acq.   1544  (Haur.  u). 

Lesarten  von  H. 

In  der  folge  des  textes  von  Haur.  u.  die  zahlreichen  fehler 
von  Flacius,  die  bereits  von  Leyser  verbessert  sind,  werden  nicht 
angemerkt.  IVright  hat  zu  anfang  nach  Hl  eine  sonst  nicht 
überlieferte  Strophe:  Noslri  nioris  esse  solet  elc ,  auf  die  zunächst 
str.  3  u.  4,  dann  1.  2.  5  ff  der  gewöhnlichen  Überlieferung  (der 
sich  auch  H  anschliefst,)  folgen.  1,  4.  Carinii  ilecet  H  st.  Carinii 
care,  unter  aufgäbe  der  würkungs vollen  allilleralion.  5.  simus  coro 
H,  Legs.,  Müld.,  Haur.  (i  u.  nj,  caro  simus  Fl.,  Wr.  2,  1.  quitleni 
H  st.  eniui.  5.  Homo  novus  H,  Legs.,  Wr.,  Haur.,  Alque  novus 
FL,  et  vir  novus  Müld.  3,  1.  mundi  mores  H,  FL,  Legs.,  Müld., 
bonos  mores  Wr.,  Haur.  4.  reprehendam  H,  Wr.,  Müld.,  Haur., 
non  defemlam  FL,  Legs.  5.  et  eis  non  condescemlnm  H  u.  die 
meisten,  Aut  eos  jam  reprehendam  Fl.  4,  2.  veritatis  H  u.  d.  übr., 
st.  lenitalis  Leys.  5,  2.  coram  tanto  quis  ego  qui  H,  Leys.,  Müld., 
coram  tantis?  quis?  pgo  qui  Wr.,  Coram  Papa  quis  est  [!]  qui 
jrers/]  FL,  Coram  papa?  Quis  ego,  qui  Haur.  6,  1.  Quid  nisi 
desertum  mundus  H  (mit  laclwechsel),  Quid  desertum  nisi  niundus? 
Leys.,  Wr.,  Müld.,  Haur.  i,  Quid  desertum  mihi?  Mundus  Haur.  n. 
3.  respuit  H,    FL,   Leys.,    Wr.,  polluit  Müld.,  Haur.        4.  dici  solet 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMML!  NG         221 

//.  Fl.,    Hr..  Müld.,  Haur,\(xu   verbessern  in:    dici  doletj,   üoci  I 
dolei    Leys.,    esse    dolel    Haur,  u.       .">.    quia    qui    iui  >1<  i    // 

Quia  qui  vernare  solel    UV.,  Müld.,  Haur.',    Nam  quod  fruclum  dare 
solet   Ft.,  Leys.       7,  I.  Qui  solebal   //.  Müld.,  Quis  s.  Leys.    feh 
haß),  Quod  s.  FFr.,  Haur.,  Debel  mundus  /•'/.     5.  afferl  /7  m.  //.  üftr. 
gegen  praeferl  Haur.  u.      s.  1.  Cum   //  »<.  </.   üftr.  gegen  Qu    /■ 
9,  2.  Canes,  catti  //  sf.  canes  muti.       3.  gigantum  Iralerculi  //.  n 
Müld.,  Haur,  fgigantium  m.  tactwechsel  Leys.),   El  Gigantes  efferi  Fl., 
ronservanl    //.    fälschlich    st.   caocervant.        lu.  2.    Nil  //   sc.    Non. 
:;.  id  ipsum  quod  //    (lactwechset)  m.  d.   übr.  gegen    M  quod   prius 
Haur.  li.     (i.  Haur.  n  /<</(  oucA   nundum  st.  aondum,  e/V  //  durch- 
gehends.      12,  1.  Ipsi  //  st.  isti.      1.1.  I.   Vivunl  leno  H,  Müld.,   Vivil 
leno    /•'/.,    Leys.,    Hr.,    Müld.    (als    conjectur),    Vivil  palpo  Haur.  \, 
Vive,   palpo  Haur.  u  fund  dann  im  foiy.  r.   tuis  sJ.  suis,'.     14,  3.  ferl 
7/.   Leys.,    Hr..    Müld.,    Dal  F/.,    Danl   Haur.        1.  quod  esl  //.  oec 
esl  /•/.,  Mahl..  Haur.  1,   uod  est  Leys.,  Hr..  Haur.  11.     5.  provehebanl 
H,  Wr„  Müld.,  Haur.,  provehebal   /•'/.,   Leys.  15.  1.  Anliquilus  el 

//.  Müld.,  Haur.  i.  AntiquilUS  nam  Leys.,  Aiilnjiim  uni  et  MV.,  Anli- 
quoruui  nam  y/</«c.  ii.  3.  Declamantes  yy.  Leys.,  UV.,  Müld.,  Haur.  i, 
Disputantes  Haur.  n  [1 — 3  fehlen  in  Fl.].  die  achi  von  Haur. 
i  u.  n  nacA  Paris,  ms.  Nouv.  acq.  1 1 867  ;»•.  [5  u.  lii  eingesetzten, 
aber  sehr  verdächtigen  Strophen,  auf  welche  oben  schon  hingewiesen 
wurde,  führen  den  ^edanfcen  aus,  dass  in  d»w  Wissenschaft  die  Juristen 
gegenwärtig  völlig  die  Oberhand  gewonnen  hätten,  dass  die  arles  von 
den    leges    überwunden    wären.  in.  I.    Opulenii    solenl    H,Wr., 

Müld.,  Harn.  i.  Opulenii  solebanl  mit  doppelsilbiger  Senkung)  /•'/.. 
gloriosi  solenl  Haur.  u.  4.  Si'ii  //  fehlerhaft  st.  Sive.  6.  rore 
vitreo  JJ,  UV.,  Mahl..  Haur.i,  rore  niveo  /•'/..  Haur.  u.  bei  Leys. 
/i7(/;    16_/.       17,  I.  Super   aquas  //.    /•'/.,    UV..    Si    per    aquas   A-eys., 

Müld.,  Haur.       4.  Sil  7/,    UV.,  Mahl..   Hau:.,    seil    /'/.,  /,<•//.*.        5.    iiik'Iii 

scire  /y.  /.'•//<..  scire  nnlii  /'/.,  UV.,  Müld.,  Haur.  18, 2.  scissus 
//.  Leys.,  Müld..  Haur.,  caesus  /•'/.,  sumptus  UV.  de  altari  y/. 
/'/.,  /.•//>..  UV.,  Müld.,  ab  alt.  7/'*i/r.  19,  5.  Jacob  ooslre  (meae 
Haar.  1 1 >  liberlatis  7/.  /,ey->..  Müld.,  Haur.  i.  n,  Jacob  terrae  liberlalis 
/7.,  Iiniiiii  »erae  libertatis  UV.  6.  prefigurat  H.  Fl.,  Leys.,  UV.. 
praesigoare  Müld.,  Haur.  20,  5.  quia  nostras  y/.  Leys.,  Müld.. 
Jlaur..  Nostras  enim  Fl.,  sie  et  noslras  UV.  21,  1.  sareptene  H, 
Leys.,  UV..  Saraplenae  Müld..  Sareptanae  FL,  Haur.  5.  tli^ne  deo 
digna  H.  UV..  Müld..  Haur..  richtig  st.  dora  <ligne  digna  F/.,  dooo 
iligne  digna  Leys.  22.  2.  per  quod  sanetus  H,  zu  verbessern  in  et 
ler  sanetus  UV.,  Müld.,  Haur;  Pater  sanetus  Fl.,  Leys.  4.  iriuni 
77  fehlerhaß  si.  trinum.  5.  ul  77  fehlerhaft  st.  Ruth.  23,  1.  Sic 
involvit  rota  rotarn  7/,  Müld.,  Haur.,  richtig  st.  rotam  lolam  /-7.. 
rola  lolam  Le»/.>-.,  Secum  volvit  rotam  rola  UV.,  der  sfr.  22  u.  23 
umgestellt  hat,  4.  sie  amictum  par.vipendit  7/,  F/.,  Leys.,  UV..  Haur. 
>u-  vinciri  parvipendit  iUü/'/.  24.  2.  a  geniili  77  in.  d.  üi/r.  richtig 
gegen  a  gentibus  UV.        5.  diserto  H,    UV.,   Müld.,  Haur.   richtig  st. 


222  BÖMER 

deserlo  FL,  Leys.  25,  3.  plus  v;icasse  sludio  H,  Leys.,  vacasse  tali 
sludio  (mit  laclwechsel)  FL,  se  vacasse  studio  Wr.,  Müld.,  Haur. 
5.  et  labore  H,   FL,  Leys.,  Müld.,  Haur.  n,   et  in  ipso  Wr.,  Haur.  i. 

26,  3.  credilur  post  aspera  H,  Credilur  plus  aspera  Leys.,  Reddilur 
post  aspera  übr.  4.  ad  romani  sedem  patris  H  m.  d.  übr.,  ad  istius 
sedein  patris  Wr.  5.  ad  sinus  sancle  matris  H  (unhaltbar,  da  so 
das  ubera  im  folg.  v.  in  der  luft  schwebt),  ad  sacrosanctae  matris 
FL,  Leys.,  Haur.  n,  ad  sanctae  Sion  matris  Wr.,  Müld.,  ad  Sion,  sanctae 
matris  Haur.  i.      6.  reversus  sum  H  mit  taclicechsel  st.  Sum  reversus. 

27,  1.  pastor  H  m.  d.  übr.  gegen  Papa  Fl.  28,  2.  si  prebenda 
muneralus  H  m.  d.  übr.  gegen  Si  sim  ego  muneratus  Fl.  3.  redditu 
H,  Wr.,  Haur.,  reditu  Leys.,  Müld.,  praebenda  (mit  laclwechsel)  FL 
4.  Vivain  licet  H  m.  d.  übr.  gegen  Licet  detur  FL  5.  ut  sie  mihi  H 
st.  Saliern  mihi.  6.  studeam  de  proprio  H  m.  d.  übr.  gegen  Perse- 
verem  sludio  Leys.  am  schluss  hat  Haureau  n  nochmals  eine  sonst 
überall  fehlende  Strophe,   deren   echlheit  widerum  verdächtig  ist. 

16)  Apocalypsis  Go/iardorum. 
Anfang  :  A  tauro  lorrida  lampade  ciutbii. 

Die  apokalypse  gehörte  trotz  ihrer  übermäßig  großen  länge, 
trotz  allen  dichterischen  schwächen  und  dunkelen  stellen  zu  den 
beliebtesten  stücken  der  vagantenlitteratur,  so  sehr  entsprach  die 
Schilderung  der  himmel fahrt  des  dichters  dem  geschmacke  der  zeit, 
und  so  ausgiebig  war  hier  das  Sündenregister  der  geistlichkeit,  vom 
papst  herab  bis  auf  den  einfachen  manch,  geraten. 

Bei  Flacius  Ulyricus  IIb  ff,  der  seinerseits  wider  auf  JohBaleus 
fußt,  trägt  das  werk  den  namen  Walther  Mapes : ' Apocalypsis  Goliae 
pontificis,  super  corrnpto  sni  temporis  Ecclesiae  statu,  edita  rythmis 
facetis,  per  Gualtherum  Mapes  Oxoniensem  archidiaconum,  circa 
annum  domini  1200'.  Flacius  sind  gefolgt  in  älterer  zeit  J  Wolf  Lect. 
memorab.  i  430 ff  und  Eccard  Corpus  hist.  medii  aevi  u  l&blff. 
in  neuerer  zeit  Wright  Mapes  1  ff,  der  16  englische  hs.  nachweist 
und  von  7  derselben,  3  Harleian  mss.  (ff13)  u.  4  Cotton  mss.  (C1"4), 
Varianten  verzeichnet,  in  den  meisten  derselben  lautet  der  titel 
Apocalipsis  Goliae  episcopi,  den  Wright  auch  für  seine  ausgäbe 
übernommen  hat.  in  der  Pariser  hs.  8359,  jetzt  3245,  steht  das 
gedieht  als  viertes  unter  den  10  stücken  des  Gualtherus  de  Insula 
( Müldener  19  ff)  unter  dem  titel  :  Contra  Ecclesiaslicos  iuxla 
visionem  Apocalypsis.  gegen  die  Verfasserschaft  der  drei  ver- 
schiedenen Wallher,  die  für  den  von  Müldener  auf  Walther  von 
Chatillon  gedeuteten  namen  Gualtherus  de  Insula  in  betracht  kommen 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG        223 

könnten ,  wendet  sich  Bauriau  in  Not.  et  exlr.  \\\\  2,  '-".»:■://', 
und  liefen  zugleich  den  nachweis,  dass  die  10  gedickte  weder 
inhaltlich   noch   stilistisch   ein    und  demselben  Verfasser  angehören. 

unser    StÜck    möchte    er    um    eisten    noch   dem    dichter  dir   General 

beichte    zuschreiben,    dem    Cölner  canonicus   im   dienste  Beinaldi 

von    Hasset,     für   seine   ausgäbe   (au.    Tl&ff)   stund    lliiiireuii    nie 
den    drucken  die  l'ni  iser  hs.   11864    zu)    Verfügung  >owie  vor  allen 

die  ihres  alters  wegen  (ende  des  12  oder  an/,  des  \'A jh.s)  besonders 
beachtenswerte  vaticanische  hs.  Christ,  reg.  344,  deren  beschreibung 
sein  au /satz  gewidmet  ist.  eme.  Münchener  hs.  (nr  416),  in  der 
das  gedieht  als  ein  werk  des  Alanus  \de  Insulis]  erscheint,  verzeichnet 
Wattenbach  Zs.   15,  173. 

Die  Überschrift  von  II  teilt  das  stück  keinem  bestimmten 
Verfasser  zu,  auch  nicht  dem  Holms  episcopus,  der  schliefslich  nur 
ein  gattungsname  ist;  sie  macht  es  vielmehr  ausdrücklich  zum 
allgemeingut  des  Goliarden,  indem,  sie  ihm  den  titel  Apocalipsis 
Goliardorum   (jiht. 

I.  es  a  r  i  en   v  o  n   //. 

Es   sollen    hier    nur    die    almeiehuugen     con     ihn    drei    neueren 

ausgaben  con  Wright  (bexw.  den  von  ihm  verglichenen  englischen 
hss.  C1  '. //,Jj,  Müldener  und  llam.  au  verzeichnet  werden,  während 
tu  diesen  drei  texten  das  gedieht  llo  in  der  folge  genau  überein- 
stimmende  Strophen   hat,    weicht   //   sowol  in  der  zahl  wie  in  der 

Stellung  derselben  wesentlich  ab.  str.  60.  98  und  99  fehlen,  dafür 
ist  nach  103  eine  wenig  glücklich  um  anklängen  an  105  ein- 
geschoben,     die  anordnung  der  übrigen  Strophen  ist  gegenüber  der 

gewöhnlichen  Überlieferung  folgende :  1 — 9.  12.  13.  10.  II.  14 — 29. 
32.  30.  31.  33—59.  61—97.  100—103.  104—110.  was  den 
redaclor  zur  Umstellung  veranlasst  haben  mochte,  ist  in  den  meisten 
fällen  nicht  zu  ermitteln.  bei  10 — 13  hat  es  offenbar  seinem 
geschmacke  mehr  entsprochen ,  unter  den  männern  des  alterlums, 
die  dem  dichter  bei  seiner  himmelfahr t  begegnen,  erst  alle  poeten, 
dann  alle  prosaiker  zu  nennen,  er  lässl  demgemüfs  Lueau,  Virgil,  (hui. 
Persius  (12),  Statins  und  Terenz  (13,1 — 3)  vorangehn  und  den 
in  der  eulgata  hinter  den  dichtem  nachhinkenden  Uippocrales  (13,  4) 
Überleiten  zu  Priscian,  Aristoteles,  Cicero,  Plolemaeus  (10).  Boethius 
und  Euclid  (11).  das  mochte  etwas  für  sich  haben,  dagegen  verrät 
die  Umstellung  der  str.  30 — 32,  wenn  sie  beabsichtigt  ist  und  nicht 
auf  einem  versehen  beruht,  eine  durchaus  unglückliehe  band,  da 
30  31  sich  unmittelbar  an  26 — 29  anschliefsen  müssen,  indem  sie 
gründe  für  die  vorher  geschilderte  beschaffenheit  der  vier  wesen 
anführen.  auch  für  die  auslassung  um  60.  98  und  99  ist 
plausibeler  grund  nicht  zu  entdecken,      da  die  niederschrifi  gerade 


224  BÖMER 

dieses  Stückes  auch  im  einzelnen  bei  H  eine  aufsergewöhnlich  groCse 
anzahl  von  versehen  aufweist,  durfte  das  fehlen  der  Strophen  gleich- 
falls auf  einen  irrlum  des  Schreibers  oder  seiner  vorläge  zurück- 
zuführen sein.  die  30  ersten  Strophen  des  gedichles  liegen  in  II. 
wie  oben  bei  der  beschreibung  des  näheren  angegeben,  in  zwei 
aufzeichnungen  vor.  wo  diese  von  einander  abweichen,  soll  die 
erste  mit  H3,  die  zweite  schlechtere  mit  Hh  bezeichnet  werden. 
3,  1.  iuspicio  HClC2,  Müld.,  aspicio  Wr.  (nach  d.  übr.  engl,  hs.), 
Haur.  4,  1.  niicuit  HWr.,  Müld.,  uituit  Haur.  4.  confusis  (in 
H3  aus  fufusis  hergestellt)  verlesen  st.  concussis.  labiis  HWr.,  Haur., 
labris  C\  Müld.  5,  1.  Est  HMüld.,  Haur.,   Mine    Wr.       4.  venit 

H  fehlerhaft  st.  vernat.  6,  3.  el  tolum  HCXC",  qui  tolum  UV., 
Müld.,  Haur.  4.  respice  HC2,  Müld.,  besser  :  inspic»-  Wr.,  Haur. 
7,  1.  aperuit  HC2,  Müld.,  Haur.,  exposuii  Wr.  2.  perspexeram 
HWr.,  JJaur.,  statt  des  unpassenderen  prospexerain  Müld.  4.  eya 
nie.  H  st.  et  tu  nie.  8,  3.  devolviraur  HMüld.,  divolvimur  übr. 
In,  1.  üinc  H  fehlerhaft  st.  Hie.  in  Hh  planis  verschrieben  st. 
palmis,  wie  H"  richtig  hat.  3.  demulcet  H  m.  d.  engl,  hss.,  Müld. 
u.  Haur.,  vi  muleet  Wr.  nach  Flac.  III.  11,  1.  Taxat  H  st.  traclat. 
numerabilia  HMüld.,  Haur.,  innumerabilia  Wr.  4.  taxat  H  fehler- 
haft st.  trahit.  12,  2.  euneos  H  fehlerhaft  st.  aeneas.  4.  procacem 
H3,  dicacem  Hb,  auf  Persius  bezüglich,  besser  :  dicaces  übr.  13,  2. 
delinuit  nie  H.,  detinuit  (deleniit?)  res  Haur.,  Müld.,  delinuil  res  Wr. 
14,  2.    prefulgens    sideri    HC2,    Müld.,    Haur.,       vullus    siderei     Wr. 

3.  suspice  HWr.,  Müld.,  suseipe  Haur.  m.  Flac.  Hl.  oculos  aperi 
HMüld.,  Haur.,  et  coelos  aperi  Wr.  15,  4.  ceolorum  Hb,  fehlerh. 
st.  eelonim  Ha  m.  d.  übr.  auditu  Hh  fehlerh.  st.  adilu  H*  m.  d.  übr. 
16,  1.  qui  HMüld.,  quod  Wr.,  Haur.  2.  reverberaverat  H,  mihi 
reverberat  Müld.,  Haur.,  inde  reverberal  Wr.  17,  1  Sed  visa  scripserat 
HClC2,  Visa  conscripserat  Wr.,  Müld.,  Haur.  3.  scribis  H  st.  scribes. 
eadem  HOC2  st.  eliam.  18,  4.  vox  tube  duet.  H  st.  vel  tube  duet. 
19,  3.  vix  Hh  fehlerhaft  st.  vir  H3  m.  d.  übr.  20,  3.  instar  justitie 
HWr.,  Müld.,  formam  justiciae  Haur.  21,  3.  respieias  HHaur., 
aspicias  Wr.,  adpicias  [!]  Müld.  4.  vota  H  fehlerhaft  st.  nota.  facies 
HC2Haur.;  facias  Wr.,  Müld.  22,2.  Quod  H  st.  quae.  23,2. 
apparuit  H  fehlerhaft  st.  aperuit.  24,  3.  et  fehlt  Hh,  H3  m.  d.  übr. 
richtig.  25,  3.  viluli  ü  fehlerh.  st.  intuli.  4.  perlegens  H  st. 
praelegens.       26,  3.  decorat  Hh  fehlerh.  st.     dedecoral  Ha  m.  d.  übr. 

4.  in  imis  H  ohne  sinn  st.  nummis.  27,  1.  iste  H  st.  ilie.  4.  sagnatus 
Hh  fehlerh.  st.  saginalus  H3  m.  d.  übr.  28,  1.  quod  H  fehlerh.  st. 
quae.  2.  dicil  Hh  fehlerh.  st.  dieitur  H3  m.  d.  übr.  4.  vescitur, 
natürlicher  als  vivilur.  29,  1.  Est  quod  HWr.,  Haur.,  Est  qui  Müld. 
2.  dicamus  H  fehlerh.  st.  decanus.  3.  reputat  opus  iuslitie  H  st.  operil 
forma  iustilie.  30,  1.  Isli  H  fehlerh.  st.  Isla.  2.  inter  H  st.  renun. 
4.  perspiciunt  H,  besser  :  prospiciunl  ClC2,  respiciunt  Wr., Müld.,  Haur. 
31,  3.  mirabili  HCXC1  st.  mulabili.  33,  1.  genti  HWr.,  Haur.  besser 
als  gentis  Müld.     niulilae  HWr.  st.   miserae.       2.  mulilos  HWr.  st. 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG         225 

vilulos.      !!4.  1.  miseriis  //  fehlerh.  st.  miseris.      4.  tiefen  //  st.  refert, 
:;."),  1.  mulgeos  //  Müld.  st.  mungens.     36i  2.    previus  //  il.  de> 
riucens  HWr.,  Müld,  ducit  Haur.      .'17.  .'1.  qui  solo  EP,  cum  solo  Wr.t 
Müld.,  ein  Solu  Ilmir.     penduni  //  st.  pendent      ,'!\  2  3  umgestellt  11. 
39,2.  viribus  IUI1,  viribus  MV,  ETaur.,  faucibus  MO/d.      3.  de  //  s(.  >. 
4(>,  4.  Sed  Polyphemus  esl  iuris  ad  methodum   //  (bis  auf  die  Umstel- 
lung von  iuris  und  ad  m.  TT-//'-,   Haur,  übereinstimmend),  et  Pol. 
psl    ;nl   .utis    metodum    UV.,    sed    Pol.    esl    ad  veri    methodum  Müld. 
-41.  i* .    esl    levius    HC1,   levius  esl    f*mtl   tactto.)  Haur..     >^\    pondus 
Wr.,    Müld.         3.   qui    unuiu    HC1   (mit   hiatus)    st.    unuiii   qui.        esl 
reus  //  st.  reus   est        4.    uisi  qui   solveril  //  st.  des   besseren  oisi 
krni.     42,  2.  rormans  //MV.,  Afüid.,  ffaur.,  formal  C'fl1.      blla- 
ciam  //6'3//',  fallacias   MV..  Müld.,  Haur.      beim   zweiten  aort  also 
gerade   das    umgekehrte  Verhältnis  icie  beim  erSien.        43,  3.    UOtal    //. 
vocat   MV..   Haur..  vacat  Müld.       4.  quoil  autem   veneat  venil   //  st. 
quam   uon    inveniens  venil    ecclesia,    beides   nicht  recht  klar.     Miild. 
vermutet  st.  venil  :  vendit.    44,  2/3.  per  .  .  .  fortunam   HWr..   Haur., 
besser  als  prae  ...  forluna  Müld.     3.  habeat  HWr.  Haur.,  haurial  Müld. 
4.  oiiicii  //MV.,   Haur..  causam  Müld.    45,2.  per  genitivos  seil  //MV.. 
Müld.,  Genitivos  sciat  (mit  tactir.)   Haur.      delictum  st.  dalivos,  mit 
aufhebung  des  Wortspiels  genitivos  .  .  .  dalivos.       4.  fratribus  //MV., 
Müld.,    frucÜbus   Haur.        47,  2.    qui    HWr.  st.   des    besseren    Ouae. 
iiiif  //  fehlerh.  st,  viro.    4S.  1.  iuris  //  st.  viri.      2.  facie  [vgl.  o.  4] 
//  st.  sanie.        3.  virens  //  Haur.,   furens    MV..  Müld.       4!*.  3.  est 
fehlt  HU2.       4.    datis  fi    venditis  est  Concors  Simoni  HWr.,  Müld., 
Dandisque   venditis  eoncors  est  Simo-ii  Haur.       50s  1/2.  sequens  und 
lucri    vertauscht   II.         3/4    umgestellt    H.        magistri   //  fehlerh.    st. 
magister.     ."il.  2.  in  fal>is  habilat   //  st.  falsis  inhabitat.       4.  que  pie 
H  Müld.,    qui  pie   MV.,    dum  pie  Haur.  52,  2.  sie    rerum  //  st. 

nrumque.  3.  sedaverit  monenle  zu  verbessern  in  sedaveris  monete. 
53.  2.  sed  cum  //  Haur.,  sed  si  MV.,  Müld.  3.  prurigine  //  fehlerh. 
st.  pruriginem.  54.  1.  promovet  H  Müld.,  Haur,  prnmovit  MV. 
ersleres  besser  zu  content  passend.       2.  cum  //MV.,  Müld.,  si  Haur. 

3.  Tirii  //  fehlerh.  st.  Tilii.  55,  2.  aperuit  H  Haur.,  arripuit  Wr., 
Müld.  4.  Sicque  II  st.  Ad  hoc.  aperuit  H  fehlerh.  st.  apparuit, 
durch    d.  ausgang   von  v.    1    veranlasst.  56,  2/3.  umgestellt  H. 

4.  qui  H  falsch  st.  que.  57,  3.  dum  in  montibus  rodope  H ;  Wr., 
Haur.  haben  st.  montibus  das  wol  ursprünglichere  colihus  bezic. 
cautibus.  in  C2  ist  zur  erläulerung  von  caulibus  :  vel  montibus 
an  d.  rand  geschrieben.  dura  Rodope  cotibus  Müld.  4.  sceleris 
//,  scelerum  Müld.,  Haur.,  scelorumfl]  Wr.  58.  1.  in  sibimet  in 
tanto  H,  zu  verbessern  in  :  ex  sibimet  innato  MV.,  Haur.,  erraverint 
innato  Müld.  2.  possunt  II  st.  possint.  3.  quid  H  fehlerhaft 
st.  quis.  scribet  //  Müld.,  scrihae  Wr.,  Haur.  511.  2.  namque  // 
st.  nempe.  lit,  1.  adiungunt  //  st.  lucrantur.  62,  1.  ecclesie 
venduntur   //  st.  ecclesias  venantur.           2.  mentio   //  st.  quaestio. 

3.  in   rums   II  Haur.  st.  si    cuius.       fit  H  st.  sit.         63,  1.   In   HC2 
Z.  F.  r».  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  15 


226  BÖMER 

>7.    Hoc.  2.    serael   H  st.    semper.        fit  HWr.,    Müld.,    sit  Haur. 

3.  dicitur  H  st.   ilucitur.         4.    fehlt    H.         64,  1.    Tunc  H  Haur., 
Tum    Wr.,  Müld.       2.   inlonat  H  st.   inlonans.        65,  1.   Viso  capitulo 
legi    proverbium    (prooemium     Wir.,   Haur.)   H  (Wr.,  Haur.),    Viso 
prooemio   perlegi  folium  Müld.  2.  rerum  //  st.  morum.         3.   ul 

H  st.    vae.        verum   H   fehlerh,    st.    rerum.       67,  2.    rede  st.  bene. 

68,  3.   discat  a  populis  H,   diseit  a  populo    Wir.,  Müld.,     Discit  a  pluri- 
mis  Haur.       4.  commissa   minima  II Wr.,  Haur,,  mala  levissima  Müld. 

69,  1.  est  vor  «leo  fehlerh.  H.       2.  necem  H  st.  mortem.       3.  puer- 

peram    HWr.,    Müld.,      puellulam    Haur.  70,  1.    lurpiter    H  st. 

presbiter.       71,  2.  quod  rerum  animam  persolvant  decimam  H  st.  quod 

rerum  decima  non  salvat  animam.       4.  suo  det  HWr.,   Haur.,  solverit 

Müld.       72,  1.   Seit    qne    vulpecula    foveas  H,    zu  verbessern  in  Seit 

quae  vulpeculas  fovea  H3  Haur.,   Sic<|iie   vulpeculas  fovea  Wr.,    Ulque 

vulpeeulas  fovea  Müld.        2.  nee  HWr.,  Haur.,  non  Müld.       3.  in- 

fantes  H  fehlerh.  st.  animas,   durch  d.  ausgang   von  v.  3   veranlasst. 

74,  1.    Hlud    //  st.  Islud.        3.    sublinearibus  H,    inlerliuearibus    Wr., 

Müld.,    inlerlinanbus    Haur.    mit  Vermeidung   doppelsilbiger  Senkung 

im   1  fufs.       75,  3.    voluntas  H  fehlerh.  st.  voluptas.       4.  conlagio 

HC2H3,  Müld.,  Haur.,  eollegio  Wr.        76,  2.   iut  //  fehlerh.  st.  iura. 

3.   reddilus  HWr.  st.   redilus.        77,  2.   aut  H  st.  vel.         3.   singulis 

subjeclis   HWr.,  Müld.,      subiectis  singulis  [ters.'J  Haur.         insidens 

HWr.,    praesideus  Müld.,  Haur.  78,  4.   opelorium   H  fehlerh.  st. 

opertorium   C2,  opertoria   übr.        79,  1.  indagines  HWr.,  Müld.,  ima- 

gines  Haur.         80,  1.  fovet  H  st.  regit.         3.  admitlat  H.    fehlerh. 

st.  amiltat.        4.  prebenda   H  fehlerh.  st.  perdenda.        81,  4.  rerum- 

que  H  st.  et  rerum.         82,  4.  sie  suo  quilibet  HHl,  sie  sors  cuius- 

libet  Wr.,  Müld.,  L't  sors  euiuslibet  Haur.      83,  1.  mensuram  H  fehlerh. 

st.  lonsuram.       respuit  H  m.  d.  übr.  gegen  despicit  Wr.       3.  librans 

liberos  HWr.,  Müld.,   liberos  librans  Haur.        84,  1.  Ad  liaec  HWr., 

Müld.,  Post  baec  Haur.        3.   ex  agmine  H  st.  examine.       85,  3.  fuil- 

que  H  (noch  auf  dux    bezüglich)  st.  stetique.  86,  2.  est    quisque 

(lux  HWr.,  Müld.,   besserer  vers  als  Haur.s  quisque  dux  est.      87,  2. 

ratio  H  st.  passio.        88,  4.  prona  H  fehlerh.,  pronis  Müld.,  pronus 

Wr.,  Haur.        89,  1.  babeant  cor  trilum  H  st.  cor  babent  conlritum. 

Dil,  2.   creberrime  H  st.  celerrime.  4.  spumosus  H  st.  spumoso. 

91,  1.  tenam  HClH'2H3  st.  cenas.       3.  atlolbt  H st.  extollit.      4.  quam 

dissouis  acclamat  H  st.  grandisonis  exclamat.        92,  3.  0  ho  H,  he  o 

If'r.,   Müld.,   Hae  Haur.  4.  stirpi  H  st.  stirpis.         nos  prole  H, 

prole  nos  Wr.,  Müld.,  proles  nos  Haur.        93,  4.  ha  sie  H  st.  ha  hi. 

94j  1.  ulla  H  fehlerh.  st.  illa.        3.   sie  nulla  est  lis  vel  conlentio  H 

(m.  hialus),   hinc  esset  lis  et  conlradiclio    Wr.,   Haur.  (Müld.  cessat 

st.  esset).  '         4.    totum    HHaur.    [der    aber    st.   ad  :  sed    und    st. 

bibilur  :  bibatur  [facJic. /]  hat)  st.  plenum.  95,  1.  faciunt  H  st. 

slatuutit.  3.  sed  sine  HFlac*  (cfr.  Wr.),     sie  sine    Wr.,  Müld., 

Et    sine  Haur.  4.    et    replent    HWr.,  Müld.,      replenlque   Haur. 

96,  3.  sicut  piea  pice  H,  ut  pica  picae  ul  (vel)    Wr.  (Müld.),  ut  picae 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  NG 

pica  vel  Haut.  I.  cui  HWr»  Müld.,  queis  Haur,  incendium  // 
fehlet  lt.  st,  ingeniura.  '.)7,  I.  Hanc  //  fehlerh.  st.  Bis.  ileniiuni 
mola  //  [mit  laclwechsel)  st.  mola  Jenlium.  I.  calorem  //  st.  colorem. 
Doiium  H Wr.,  Müld.,  noclium  Haur.  98/9  fehlen  II.  100, 
si  dalur  //  st.  qui  si  quid  datur  (ileiur).  I02i  l.  De  ilie  decies  // 
U.  Die  Iripudians.  I.  dei  vir  II  Müld.,  vir  dei  (mit  imtic.  n 
Haur.  L03i  '-•  wi  anfang  lücke,  dann  :  in  manibua  //.  dux  meus 
manibus  ü /v /• .  3.  describens  //  st.  discerpens.  nach  ur,  ln.'i  in  H ganz 
unpassend  folgende  Variation  von  l""».  die  trotzdem  noch   nachfolgt: 

Oni  raplus  rueram  ad  celum  terlium, 

lins  gestia  deferor  ad  sunimum  oubium, 

Et  quod  mirabile  vidi  misterium, 

salia  aperui  cuique  mortalium. 
vielleicht  hat  sie  in  eilirr  vorläge  als  ersatx  für  105  am  randi 
■  luden  und  der  betreffende  abschreiber,  der  überhaupt  in  dem 
ganzen  stücke  kein  allzu  grofses  Verständnis  verrät,  —  es  wurdi 
schon  daran/  hingewiesen,  dass  der  fehlerhafte  text  nicht  auf  den 
Schreiber  von  II  geschoben  zu  werden  braucht  —  sie  als  mit  zugehörig 
betrachtet. 

In.").  2.   adusque    lerlium  //  st.    usque   ad    lertium    (mit  hiatus). 
I06i  3.   cousilia    HWr.,   Müld.,    magnalia  Haur.  In7,  1.   vidi 

HWr.  st.  noveram.  2,  magni  consilii  II  Wr.,  Müld.,  sancli  palatii 

Haur.  3.  proponunl  HWr.,  Müld.,  appoounl  Haur.  1.  lelhea  // 
fehlerh.  st.  lelhei.  laticem  HWr.,  Müld.,  calicem  Haur.  propo- 
ount  (vgl.  v.  3)  //  fehlerh.  st.  propinant.  los,  l.  papaveram  // 

(fehlerh.)  st.  palpaveram  Müld.,  comederam  Wr.,  Uaur.  2.  infumli 
//   l-'lac*  st.   infudi.  4.   stire   de  //,   oosse  de   Haur.,   üosse   cum 

Wr.,  Müld.       In!),  2.  conscius  //  st.  uuntius.  scripserit  //  (mU 

tactu-.)  st.   inscripsit.  1.  hec  . . .    securius  //  st.   hoc...   Gdelius. 

Unterschrift  in  II  :  Explicit  apocalypsis  goliardarum. 

17)  Principium  Magistrate. 
Wie  in  dem  princ.  mag.  nr  10  dieser  Sammlung  bildet  auch 
hier  <len  miltelpunct  des  gedicktes  die  erzählung  von  der  erscheinung 
einer  beraterin  im  träume  des  neuen  magisters.  wider  ruft  der 
dichter  zu  beginn  Gott  vater,  Gott  söhn,  den  hl.  geist  und  die 
Jungfrau  Maria  um  beistand  an,  diesmal  auch  noch  das  hl.  kreuz 
Christi,  nachdem  er  hierauf  den  erlauchtesten  der  Versammlung 
besonders  angeredet  positis  pro  nomine  signis,  wendet  er  sich  an 
die  gemeinschaft  der  anwesenden  doctoren  und  bittet,  ihm  gewogen 
zu  sein  und  anzuhören,  weshalb  er  sich  um  das  magisterium 
beworben  habe  :  er  ist  an  einem  sommertage  in  der  frühe  in  einen 
prächtigen  hain  gegangen  und  durch  den  lieblichen  gesang  der 
nachtigall    in    schlaf  versenlct  —  dasselbe   motiv    wie    in  dem  oben 

15* 


228  BÖMER 

genannten  stücke,    wie  er  aber  einmal  aufgeschreckt  um  sich  geblickt, 
hat   er  die  grammalik  auf  sich  zukommen  sehen,     er  ist  indessen 
icider   eingeschlafen  —  ein  nicht   besonders  glücklicher  gedanke,  bei 
dem  man  fast  an  einen  fehler  der  Überlieferung  glauben  sollte  — 
und  hat    weitergeruht  bis  zum  ende  der  nacht,     da  endlich  ist  er 
völlig   erwacht   und  hat   nunmehr  die  grammatik  an  seinem  lager 
erblickt,     'sei  gegrüfst,  o  bruderV  hat  sie  ihn  freundlich  atigeredet 
und   ihm  die  frohe   botschaft  verkündet,  dass  sie  ihm  das  regimen 
scholarum  zu   übergeben  gedenke,   in  dessen  besitz  er  schon  längst 
hätte  sein  können,     nach  ehrfurchtsvollem  grufse  hat  er  versichert, 
dem   officium  magistrale    nicht    gewachsen    zu   sein,    sondern   erst 
noch  weiter  lernen  zu  müssen,    diese  furcht  hat  jedoch  die  grammatik 
leicht  zu   verscheuchen  gewust,   und    nachdem    sie  dem    zaghaften 
vorgehalten,    wie  töricht  es  sei,  immer  als  armer  schlucker  weiter- 
zuleben, anstatt  ein  einträgliches  amt  zu  übernehmen,  hat  er  endlich 
den   entschluss   gefasst ,    sich   um   die  magisterwürde  zu  bewerben, 
wie   der  vortragende    des   früheren  princ.    mag.   betonte,    dass   er 
misgwist   nicht   zu   fürchten    hätte,    so   nimmt   auch   der   unsrige 
nach  beendigung  der  erzählung  veranlassung,  sich  mit  einem  neider 
abzufinden  (slr.  31 — 33),  um  hierauf  zu  erklären,  dass  es  an  der 
zeit  sei  finire  ludibria  (34).    es  folgt  dann  noch  eine  schlussstrophe 
(35),  deren  erklärung  Schwierigkeiten  macht,    sie  beginnt  :  Hiis  clictis 
subticuit  (s.  unten  den  text).     es  fragt  sich,   wer   hat   gesprochen 
und  was  hat   er  gesagt?     die  Sätze   Finire  ludibria  —  mea   uatat 
prora  gehören   sicher   noch    dem  magister  an,   loahrscheinlich  auch 
dazu  das  :  hacteuus  invidiae  respondimus  in  dem  gedankenlos  Ovid 
Rem.  am.  397  entlehnten  vierten  verse  von  34.    es  bleiben  also  nur 
die  beiden  worte  Altrabe  lora!  übrig,    wir  müssen  uns  notgedrungen 
denken,  dass  jemand —  aber  wer?  —  dem  dichter  diese  a%t  ff  orderung 
zugerufen   hat   in  dem  sinne,   dass  er  die  zügel  des   magisteriums 
nunmehr   anziehen    solle,      wenn    nicht   der   4    vers    von   slr.  35 
mit    dem   ausgang:    cur   excusatus   abirem    auf  den  abschluss  des 
ganzen  deutete,  läge  die  annähme  nahe,  dass  die  Strophe  oben  nach 
der   ersten  rede  der  grammatik  (slr.  18)  einzufügen  wäre,    sollten 
die  verse  überhaupt  nicht  in  dieses  gedieht  gehören?  —  wie  in  nr  13 
sind  wider  3  verse  der  vagantenstrophe  mit  einem  hexameler  oder 
penlameter  vereinigt,   doch   sind  hier  die  ersten  künstlicher  gebaut, 
indem    sie   mit  2    ausnahmen    (17,  2,    xeo   aber   vielleicht  spalium 
in  spalio  zu  ändern  ist.  u.  26,  3)  neben  dem  endreim  auch  cäsur- 


HERDRINGER   VAGANTENLIEDERSAMMLl  NG         229 

reim    aufweisen,     may   tactwechsel,    mit    mafs    angewendet,    eine 
willkommene  abwechslung   in   den    gleichmäfsigen  /luss   der    tu 

bringen,  der  dichter  dieses  Stückes  hat  sirli  m  seinem  gebrauche 
derartig  gehn  lassen,  dass  die  zeilen  zum  grofsen  teile  wenig 
ansprechen.  man  lese  zl>.  '.»,  'A.  [0,  1.  19,3  "•  27,:'»,  100  tu 
beiden  vershdlften  der  tact  wechselt.  29,  2  hat  im  zweiten  teile 
nur  ■>  silben.  vielleicht  ist  hier  me  ausgefallen. 
Principi  u  in  m  ;i  gisl  r;i  I  ••. 

1  CuDCtipoteos  genitor,  prioeeps  maiestatis, 
oecultorum  cognitor  ime  deitalis, 

tu  mee  dispositor  esto  voluotatis, 

liuc  adeß  et  dubie  dirige  vela  ratis ! 

2  Consolalor  optime,  criste,  tili  dei, 
dulcis  bospes  anime,               dulcis  requiei, 

da  michi,   piissime,  donum  huius  rei, 

([iioil  possim  cepta  pondera  rerre  meil 
Veoi,  sanete  Spiritus,  quia   in   venu 

null  auderem  penitus  tantas  aggredi  res; 

rege  meos  aditus,  michi  nunc  aspires 

dans  michi  te  placidum,  dederis  per  cetera  vir« 
i  Virgo  dei  tilia,  malcr  salvatoris, 

parem,  paris  uescia  virgo  singulare, 

Sensuni  et  eloquia  michi  largiaris: 

Alma  fave  ceptis  Stella  maria  marisl 

5  0  crux  admirabilis,  o  crux  triumphalis, 
arbor  uua  oobilis,  u u IIa  fuit  lalisl 
Spes  incomparabilis,                s|>es  inuodialis, 
Me,  precor,  attollas  virlulum  quatuor  aus. 

6  Doctor  pollens  inoribus  preconio  dignis, 
cuius  lucet  actibus                    caritatis  ignis, 

fave  meis  preeibus,  prudens  et  insignis, 

Scis  bene,  cui  dicam  posilis  pro  nomine  signis  1 
:  Vos,  doctores  nobiles,  vos  affectu  vero 

satis  precor  faciles,  nam  quod  precor  spero, 

este  favorabiles,  nil  aliud  quero 

perpeluusque  anime  debitor  buius  ero. 
-  Cur  regimen  capio,  forte  michi  quedam 

fiel  prius  «juestio,  quam  ultra  procedam; 

2,  4  /.  cepti  R. 


230  BÖMEK 

ergo  magisterio  quare  sie  attenilam, 

Si  vacat  et  placidi  ratiouem  ammillitis,  edam. 
9  In  estalis  tempore  matulinis  horis 

spaliabar  nemore  quodam  pleno  roris; 

Ludebai  sub  arbore  fons  vivi  decoris, 

Temperie  cuius  capior  specieque  liqtioris. 

10  Fluebat  murmuribus  fons  ille  ioewndis, 
ludebat  in  partibus                   calculus  profundis; 
capris,  feris,  avibus                   non  tactus  iramundis 
fons  erat  illimis,  nitidis  argenteus  undis. 

11  Hunc  ab  omni  latere  silva  precingebat, 
que  sole  tepescere  locum  probibebat. 
Me  iuvabat  visere                      locum,  qui  virebat; 
Gramen  erat  circa,  quod  proximus  bumor  alebat. 

12  Locus  erat  avium  circumcirca  plenus 
dulciter  cantantium                   cantus  omne  geuus; 
omnibus  boc  Studium,               nullus  alienus: 
Me  subicit  sompno  philomene  cantus  amenus. 

13  A  me  motw  penitus  curarum  eiecto 
sompno  fui  deditus  in  cespitis  lecto; 
a  quo  postquam  concitus         buc  et  illuc  speclo, 
Gramaticam  vidi  venientem  tramite  recto. 

11  Noctis  erat  medium,  luna  relucebat 

et  in  meo  radium  tboro  dirigebal; 

nulla  me  tunc  anxium  cura  faciebat, 

publica  me  requies  curarum  sompnus  babebat. 

15  Me  noctis  ad  ultimum  tandem  experreclo 
quendam  motum  minimum      subaudivi  recto 
instansque  quam  plurirnum      buc  et  illuc  speclo: 
Gramalicam  vidi  sensique  accedere  lecto. 

16  Hec  existens  cominus  miebi  dixit  :  'ave, 
o  frater,  quem  dominus  tueatur,  ave! 
audire  me  protinus                   non  sit  tibi  grave 
Et  quod  non  opus  est  neve  loquere,  cave  1 

IT  Gramatice,  fluvio  trium  specierum 

Me  percuim  spalium  mullorum  dierum; 

10,  1  jocondis  H :    der    reim    erfordert    ioeundis.  13,  1  molo  H. 

14,  4  Ovid  Ex  Pont,  m  3,  7.  17,  2  pcur9  //,  aber  undeutlich. 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLI  m.        231 

Cur  te  visaiii,  senio  dicam  tibi  verum: 

1  -ii  ego  letarum  venio  libi  nuntia  rerum. 

IS  Cum  sis  dignus  spargere  Bemen  doctrinarum, 

lilii  volo  tradere  regimen  scolarum, 

Bonus  quondam  sumere  debuisses  liarum: 
Propaganda  etenim  est  rerum  doctrioa  booarum. 

19  40  lux  el  Ions  artium,  decus  triviale, 
aptuin  ;nl  officium  non  Bum  magistralel 
revereor  nimium  incipere  lale, 

de  quo  I .uiia  volans  murmurel  iode  male. 

20  Doctorum  ofßciis  hiis  est  iosistendum, 
quorum  dogma  oesciis            est  proficiendum, 
seil  michi  de  aliis                    quid  sit  lacicndum, 
Non  mich i  sunt  vires  adimo  michi  iusque  regeodum. 

21  (Jnis  regimen  capiat,  in  quo  labores  seit, 
si  male  sufßciat,  si  doecre  nescit? 
armis  ahrenunciat,  qui  non  convalescil 
[ndoctusque  pile  deeiique  trocique  quiescit. 

22  Multum  est  decenlius  non  doctorem    geri, 
quam  regentera  cilius  iuste  derideri; 
liinc  est  michi  melius  adbuc  edoceri, 
quam  merear  doctor  delirus  inhersque  videri.' 

23  Tunc  ait  gramatica:  'frater,  quid  vereris, 

j»ro  re  feie  moilica  cur  sie  deterreris? 

hec  in  corde  publica  verba  recorderis, 

fac  tarnen   ineipias  :  sponte  disertus  eris. 

21  Fiicli,  cum   ineipies,  medium  halieliis. 

ergo  semper  audies  et  nunquam  docebis? 

Sis  audax!  quod  cupies,  tolum  adimplebis: 

Grande  aliquid  si  velle  tenes,  et  posse  lenebis. 
25  Tu  multum  deprimeris  iugo  paupertatis, 

qui  regendo  poteras  acqnirere  salis. 

Cur  igitur  pateris  dampnum  egestatis? 

tolle  moras  :  semper  noeuit  differre  paralis  ! 
■ii'  Nullus  habet  pretium,  nisi  lucro  vacet, 

pauper  parit  tedium.  dives  autem  placet; 

ilives  multum  loquitur,  pauper  vero  tacet, 

dives  honoralur.  pauper  ubique  iacet. 


232  BÖMER 

27  Pauperlatem  fugias,  que  te  diu  pressit, 
magistratum  capias :  multum  lucrum  gessit! 
Sic  laudo,  quod  facias,  sie  volo  quod  res  sil!' 
linierat  monitus  uec  plura  locuta  recessit. 

28  Iuter  omnes  monitus  postquam  recollegi, 
quod  eram  suppositus  paupertatis  legi, 

de  lucro  sollicitus  ultra  noo  auibegi : 

Sumpsi  aoimum  gratesque  deo  dou  territus  egi. 

29  Patet  ergo  ratio,  quare  representem 
iu  doctoris  solio  nimis  egentem; 
honoris  ambitio  nou  allicit  mentem: 
Noo  honor  est  sed  ho  aus  species  lesura  ferentem. 

30  Scolarum  presumere  nollem  nie  rectorem 
adhuc  ita  propere,  nisi  pauper  forem; 
fruetum  volo  querere                lucri  vel  honorem: 
Non  habet  unde  suum  paupertas  pascat  amorem. 

31  Invide,  te  miserum  alloquor  extreme: 
nie  reputas  stolidum,                 malum  dicis  de  nie. 
0  venenum  aspidum,  liuguam  tuam  preme! 
Et  tua  perpetue,  livide,  dampua  gerne! 

32  Invidus  nie  lanial  deute  fraudulento, 
alterius  inhiat  seniper  detriniento; 
ob  hoc  catho  nunciat  suo  docuniento: 
lnvidiam  nimio  cultu  vitare  memento. 

33  Lividus  invidia  semper  limet  niniis, 
ne  quis  ad  sublimia  veniat  ab  imis; 

sed  eius  malitia  torquet  hunc  a  primis: 

Invidus  alterius  rebus  macrescit  opimis. 

34  Finire  ludibria  tenipus  est  et  hora, 
ne  vobis  fastidia                         gignat  longa  mora, 
aqua  iam  in  alia                        mea  natat  prora; 
hactenus  invidie  respondimus.    'attrahe  loral' 

35  Hiis  dictis  subtieuit;  que  cum  exaudirem, 
mihi  cor  intremuit,  quia  pauca  scirem. 

25,  4  Lucan.  i  2S1.  29,  4  Ovid  Her.  9,  31.  30,  4  vgl.  Wright 
Mapes  s.  159  (Missus  sum  [nr  20  dieser  Sammlung]  v.  200).  32,  4  Calo 
Dist.  II  13,  1.     vgl.   Carm.  Dur.  Lxxiva  5.  33,  4    IJoraz  Epist.  I  2,  57. 

vgl.  Carm.  Bur.  lx\i\3  2.  34,3  vacat  H. 


HERDRINGER  VAGANTENL1EDERSAMMH  NG 

Me  «1  u L>i  11  tu  teouit,  utrum  coosentirem, 

l>t.i  tarnen  dixi,  cur  excusatus  abirem. 

Explicit. 

1  ^;  De  transfretantibus. 
Die   meerfahrer   sind   die   teilnehmer  an   item    unglücklichen 
kreuzzuge  Ludwigs  des  Heiligen,     da  der  aufbrach  des  könig»  alt 
unmittelbar  bevorstehend   bezeichnet   wird,   inuss   das  gedieht  kurz 
vor  augutt  1248  ent stunden  sein,    bereits  ende   1211  hatte  Ludwig, 
von  schwerer  krankheit  genesen,  das  gelübde  des  kreuzzuget  getan, 
aber  fast  4  Jähre   lang  zogen  sich  die  Vorbereitungen  hin.    diesmal 
aar     eben    wenig     allgemeine    begeisternng     für     eine     kreuzfahrl 
vorhanden,  und  es  bedurfte  eifriger  Werbung,   um  sie  zustande  zu 
bringen,     diesem    zwecke  ist  auch  unser  lied  gewidmet,     der  dichter 
war  Franzose,    denn    er  nennt  den    könig  6,2  :  o oster  dominus, 
7,  1   :   Qoslrura   dominum,      die    gründe   seiner   aufforderung  sind 
geistliche    erwägungen,    denen    auch    der  papsl    und   seine   prediger 
autdruck  zu  geben  pflegten  :   um  Vergebung  für  unsere  sündenschuld 
zu   erlangen,  müssen  wir  das  kreuz  erheben.     Christus  ist  für  uns 
geboren    und  um  unterer  fehler  willen  am  kreuze  gestorben,     für 
ihn    sollen    wir  also   einmütig   ins  fehl  ziehen!    zu  diesen  beweg- 
gründen  kommt  diesmal  noch  ein  ganz  besonderer  :  Frankreichs  be- 
rühmter könig  ist  von  Christus  selbst  ermahnt  worden,  übers  meer  zu 
fahren,     durch  göttliche  Vorsehung  war  er  bis  auf  den  tod  erkrankt, 
jedoch    der   herr  hat    ihn    in    seiner  barmherzigkeit  gerettet,     nun 
befiehlt    unser  könig,    dass   wir   ihm    folgen   sollen  :  diesem   rufe 
müssen    wir  gehorchen,     sollte  nicht  jeder  dahin  eilen  wollen,   wo 
Christus    vom    tode   erstanden   und   zum   himmel  aufgefahren  ist? 
Die    verstechnik    des   liedes    steht   au/sergewöhnlich  tief.      die 
struphen    bestehen    aus    4    durch   die   cäsur   in   zwei   gleiche   teile 
zerlegten,   durch  end-  und  (mit  ausnähme  von  Str.  1   [aabb])  auch 
durch  cäsurreim   verbundenen  langzeilen,  deren  grundschema  zwei 
jambische  achtsilbler  sind;  indessen  xcerden  die  regelmäfsig  gebauten 
halbzeilen  vvn  solchen  mit  taclwechsel  in  der  form  -v^-^^-w- 
oder   _^w-^-w-    an    zahl    übertrofj'en,    so    dass    die    technik 
fast  auf    Silbenzählung   hinausläuft,    wie    sie    dem     franziisischen 
dichter    von    seiner    nationalen   poesie   her   geläufig  war.     dreimal 
hat  er  sich,  so  vorsichtig  die  Homanen  auch  sonst  in  diesem  punete 
waren,    hiatus  in   der  zeile  gestaltet  :  5,  2.   7,  :;  (mag  das  ue  der 


234 


BÖMER 


hs.,  tcekhes  einen  siebensübler  ergibt,  zu  hallen  oder  noune  zu 
lesen  sein)  und  7,  4.  die  lelzte  stelle,  an  der  mit  dem  hiatus  auch 
noch  doppelsilbige  Senkung  zusammentrifft ,  ist  jedoch  nicht  auf 
rechnung  des  dichters  zu  setzen,  da  er  hier,  wie  iciderliolt  in  den 
vorhergehenden  sti'ophen  als  2  halbzeile  des  verses  den  anfang 
eines  bekannten  hymnus  wirkungsvoll  eingesetzt  hat  (1,  4.  2,  4. 
3,  3.  4,  4.  6,  4.  7,  4.    vgl.  Chevalier  Bep.  hymn.). 

Die  1  halbzeile  des  gedichts  klingt  an  die  eingangsworte  des 
hymnus  Amore  summi  nnminis  an;  mit  Eya  fralres  (6,  4)  beginnt 
eine  ganze  anzahl  beliebter  hymne.n. 


De    transf 

1  Amore  summi  iudicis 
al(|ue  rerum  opificis 
Et  parenles  et  patriam 
culpe  querendo  veniam 

2  Reges,  principes,  comiles, 
duces,  barones,  milites, 
Cives,  burgenses,  pedites, 
Crucem  levando  comites 

y,  Pro  nobis  crislus  nascitur 
Cristus  in  cruce  patitur 
Kos  unanimes  igitur 
viiidicemus,  qui  morilur 

4  Rex  iraucorum,  rex  inclitus, 
dei  gratia  preditus 
transfrelare,  qui  monitus 
crucem  sumpsit  divinftus, 

:>  Rex  lrancorum  dignissimus 
egrotavit,  ut  novimus, 
Sed  cristus  rex  piissimus 
suscitavit,  ut  credimus, 

<i  Adest  en  ecce  terminus; 
quibus  rex,  nosler  dominus, 
templum  crisli,  qui  protinus 
eya,  fratres,  cominus    . 

7  Ergo  nos  plebs  indomila 
per  colles  et  per  compila, 
3,  3  ortu  H.         4.  4  süpcit  H, 


retantibus. 

crucem  debemus  tollere 
uomine  derelinquere 
et  iberusalem  petere 
iam  lucis  orlo  sydere. 
dominalores  gentium, 
ad  exemplar  fidelium, 
suscipite  remedium 
primo  dierum  omnium. 
matre  manenle  virgine; 
pro  solo  nostro  crimine. 
a  solis  orlus  cardine 
pro  bumana  propagine. 
vile  pretiosissime, 
j)arat  elegantissime 
a  te,  criste  piissime, 
eterne  rex  altissime. 
divina  providenlia 
usque  ad  mortis  hostia; 
sua  mysericordia 
beata  nobis  gaudia. 
tempus  diesque  subeunt, 
et  fratres  eius  adeunt 
oceanum  pretereunt; 
vexilla  regis  prodeuntl 
regem  nostrum,  qui  properat 
sequamur,  nam  sie  imperat; 

divitus  //. 


HERDRINGER  VAGANTENUEDERSAMMLUNG 

omnis  mente  composita  illuc  nonne  accelerat, 

unde  \i\  vita  reddita  iam  cristus  astra  ascenderal? 

Explicit. 

7,  3  ne  //. 

19)   Comoedia  de  advcntu  A  nt  ich  i  isti. 

Anfang  :  Dum  conlemplor  auimo  seculi  leitorem. 

Auch  diese  satire  auf  die  Schlechtigkeit  der  zeit  ist  in  die 
form  einer  vision  gekleidet,  der  dichter  wohnt  im  geiste  einer  Ver- 
sammlung der  furien  und  dämonen  bei  und  hört  den  Antichrist 
mit  Alecto  und  Tisiphone  über  den  Untergang  der  weit  verhandeln, 
der  englische  künig  Heinrich  n,  der  einen  Thomas  Hecket  löten 
licfs,  und  der  deutsche  kaiscr  Friedrich  i  werden  als  würdige 
Vorläufer  des  Antichrist s  gebrandmarkt.  in  einem  schlusswort 
fordert  der  herr  der  Unterwelt  die  furien  auf,  sich  in  die  winkel 
der  weit  zu  zerstreuen  und  alle  mit  sich  hinabzuziehen  in  die  tiefen 
der  hülle;  er  werde  ihnen  nachfolgen,  wie  er  es  gelobt  habe. 

Das  gedieht  stellt  in  der  schon  mehrfach  angezogenen  Pariser 
lis.  nr  324ä  unter  den  10  gediehen  des  Guallherus  de  Insula 
und  ist  von  Müldener  1<>//'  abgedruckt.  II  liefert  eine  kürzere 
fassung,  indem  sie  die  Müldenerschen  Strophen  4,  IS  und  25,  welche 
alle  drei  nicht  nur  entbehr/ich  sind,  sondern  auch  den  verdacht 
einer  unglücklichen  interpolation  erregen,  übergeht,  mag  II  muh 
durch  mehrere  versehen  entstellt  sein,  so  bietet  sie  dafür  anderseits 
an  zahlreichen  stellen  die  richtige  lesart,  xeo  Müldeners  vorläge  einen 
fehlerhaften  text  aufweist. 

Lesarien  von  II. 

2,  1.  2.  ylem  und  iubes  umgestellt.  3.  comparas  st.  copulas.  .">,  3.  et 
iiuiiilu  st.  soniluque.  li,  4.  licuii  insanire  mit  doppelsilbiyer  Senkung 
st.  libuit  coire.  7.  1.  furenlum  st.  silentum.  2.  soronini  irinitas 
st.  soror  Trinacria.  3.  que  st.  <|iii.  8.  1.  nee  st.  non.  elealionis 
fehlerh.  sl.  elalionis.       2.  nequilie  Ulms  m.  laclw.  st.  Qlius  nequitie. 

3.  secabat  sl.  secabit.  9.  1.  lacic  prominens  armala  richtig  st.  faciem 
prominens  armata.  3.  unde  quasi  lonilrus  verständlicher  als  verum 
ul  tonilruum.  4.  vos  interrumpens  mtl  doppelsilbiyer  Senkung  st. 
des  vorzuziehenden  vox  erumpens.  1(>,  1.  Pape  richtig  sl.  Papa. 
2.  slatum  fehlerh.  st.  fatum.  3.  pando  fehlerh.  st.  pande.  exi- 
turum  richtig  sl.  exiiiiirnm.  4.  beelsebu  sl.  Beelzebub.  11.  'i.  dissenlio 
fehlerh.  sl.  dissensio.  3.  lumucrunt  richtig  st.  limuerunt,  für  das 
Müld.  irruerunl  conjicierte.  4.  crislum  richtig  st.  ipsum.  nimis 
richtig  st.  minis.  12.1.  Miserens  misereor  recolens  sl.  Miseranler 
imseror    miseros.       4.    instiluam    st.    resliluam.       imlea    iiuleos    mit 


236  BÖMER 

doppelsilbiger  Senkung  st.  Juda  Jiulaeos.  13,  2.  feras  sl.  seras. 
federa  richtig  st.  sidera.  14,  1.  excita  sf.  accita.  15,  1.  el  demomim 
sl.  demonium.  16,  1.  Ut  fehlerh.  st.  Et.  quaeris  fehlt.  2.  reprobum 
st.  perversum  mtl  laclic.  3.  Iriplici  qui  st.  qui  triplici  mit  tacltc. 
17.  1.  sinone  st.  Simone.  2.  quis  .  .  .  veulilat  st.  quid  .  .  .  ventilas. 
4.  rex  vere  st.  re  vera.  19,  2.  3  umgestellt.  2  defricala  s<.  desic- 
cata.  4.  quo  sf.  quod.  20.  4.  hoc  s(.  haec.  debachare  (vgl. 
Du  Cange)  st.  debachari.  21,  1.  Cui  sl.  0  cui.  cruciare,  wie  Müld. 
schon  statt  des  fehlerhaften  conciare  seiner  hs.  vermutete.  2.  in- 
sipientem  mit  auftacl  st.  impotentem.  3.  Cum  sl.  dum.  22,  1.  noslre 
st.  tuae.  3.  Cum  prelatis  principes,  dem  praelali  cum  reprobis  vor- 
zuziehen. 23,  3.  Caput  mundi  st.  mundi  caput.  scismata  fehlerh. 
sl.  schismate.  4.  et  pluraliter  gut,  während  Müld.s  a  veritate  keinen 
richtigen  vers  ergibt.  24,  1.  novisli,  besser  als  vidisli.  3.  scis- 
maticam  gentem  perfecisti  st.  seismaticae  genli  praefecisti.  26,  1.  auditis 
sl.  commota.  2.  post  tumultum  sl.  prae  tumultu.  27,  1.  eahos 
absortum,  gegen  den  reim  verslofsend  st.  chaos  austerum.  2.  discerne 
sl.  disserere.  4.  panditur,  durch  panditur  in  v.  4  veranlasst,  sl. 
cognitus.  28,  2/3  umgestellt.  2.  Suft'ocabo  penitus  sl.  cum  terris 
abstulero.  4.  Micbi  rachel  sl.  Rachel  mihi.  30,  1/2  umgestellt. 
2  ( =  1  in  H)  He  mei  complices  ite  gentium  dii  (einsilbig)  sl.  ad 
vos  omnes  trabite  in  centrum  profundi.  3.  factus  richtig  sl.  des 
unsinnigen  sanclus. 

20)   Comoedia  magistralis  redarguens  vitia. 

Anfang  :  Eliconis  rivulo  modice  respersus. 

Es  gibt  zwei  ältere  ausgaben  :  1)  Wright  Mapes  159/f  unier 
dem  titel  :  'De  pravitate  saeculi ' ;  2)  Müldener  37  ff :  'Contra  statum 
ecclesiae  depravatum'.  für  dieses  stück  trifft  nach  den  Untersuchungen 
Haureaus  Not.  et  exlr.  vi  295/  die  von  Müld.  angenommene 
Verfasserschaft   Walthers  vChatillon  zu. 

Paris  besitzt  aufser  der  von  Müld.  benutzten  noch  3  copieen 
des  gedichtes ,  sämtlich  ohne  nennung  des  Verfassers  :  nr  11412. 
1186"  und  Nouv.  acquis.  1544.  vgl.  Haureau  Not.  et  extr.  n 
42/,  vi  292  ff.  unter  Zuziehung  dieser  3  hss.  hat  Haureau  vi 
293//"  eine  neue  ausgäbe  veranstaltet. 

Das  erste  der  10  von  Müld.  veröffentlichten  Pariser  gedickte 
des  Gualtherus  de  Insula  ist  :  Missus  sum  in  vineanl,  das  zweite  : 
Multiformis  homiDum,  das  sechste  unser  :  Heliconis  rivulo.  diese 
drei  stücke,  die  sowol  im  inhalte  (dem  gedanken,  dass  die  xoelt 
aus  den  fugen  sei  und  die  Sünden  der  geisllichkeit  die  schuld  daran 
trügen)  als  auch  in  der  form  (3  zeilen  der  vagantenstrophe  -f-  tnetr. 
vers)    übereinstimmen,   sind   in    den   verschiedenen  Überlieferungen 


HERDRINGER  VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 

häufig  durcheinandergemengt,  so  sind  zb.  in  Harleian-ms.  978  ua. 
M issns  sinn.  Helicoois  rivulo  und  mehrere  Strophen  anderer  gedichte 

zu  einem  stück  von  .Vi  stn\  vereinigt  (Wright  1V2//.  anf.  :  Missus 
Bum).  dieselbe  he.  hat  aber  aurh  Heliconis  rivulo  allein  als  besondere 
nummer  (s.  oben,  Wright  l.v.)//".  in  Sloane  ms.  1580  sind  aus 
den  :',  gedickten  -1  gemacht,  indem  die  Strophen  bunt  durcheinander 
gewürfelt  und  sogar  ein  und  dieselbe  in  Variation  an  zwei  oder 
mehr  stellen  verwendet  wurde  (vgl.  Hubatschl2).  in  der  ganzen 
vagantenlitteratur  yebn  die  Überlieferungen  nur  sehr  selten  so  weit 
auseinander,  wie  in  diesen  '6  voller  Interpolationen  steckenden 
dichtungen.  der  text  von  Baureau  stimmt  in  der  strophenfolge 
mit  dem  Müldenerschen  überein,  nur  hat  er  nach  der  achten  eine 
strophe  eingeschoben  und  zahlt  somit  ihrer  IS  statt  17.  von  dei 
englischen  Überlieferung  weicht  die  französische  indessen  vollständig 
ab.  Müld.-Ilaur.  haben  nur  die  (.i  eisten  von  Wright. s  2  1  Strophen 
lies  Eliconis  rivulo  und  zwischen  diesen  b  bezw.  '.»  andere  Strophen, 
zt.  mit  anspielnngen  auf  ganz  bestimmte  Zeitverhältnisse,  die 
erwähnte   herschaft    zweier   päpste   traf  zu   für  die  zeit  zwischen 

I  159  und  117  7,  der  das  gedieht  somit  zuzuweisen  ist.  die  franzö- 
sischen aufzeichnungen  repräsentieren  ohne  zwei  fei  die  ursprüngliche 
fassung,  aus  der  man  spater  unter  auslassung  der  nicht  mehr  zeit- 
gemäßen   Strophen    ein    allgemeines   klagelied   zurechtgemacht   hat. 

II  kommt  der  überaibeiteten  englischen  Überlieferung  am  nächsten, 
und  zwar  bis  str.  S  einschl.  dem  Eliconis  rivulo  (Wright  159 ff),  von 
da  dem  combinierten  Missus  sinn  (Wr.  \h1ff),  das  jedoch  nicht 
nur  stark  gekürzt,  sondern  auch  in  beträchtlich  abweichender  folge 
der  Strophen  erscheint,     die  anordnung  ist  folgende  : 

If'r.s  Eliconis   1  —  5  Wr.s  Missus    38—43 

5a,  bei  ff  r.  fehlend,  46 

= '.I  t>.  Müld.Hel.  44 

45 

47—51 

51a  m.  an  kl.  an  str.  1  7 

v.  ff'r.s    Elicc 
52 

Lesarten  von  H. 
1)  Die  ersten  acht  Strophen  von  Wrighls  Eliconis  159/7".  m>1 
einschub  nach  str.  5.  1.  2.  pressus  //  (gegen  den  reim  verstoCsendJ 
si.  mersus.  3.  Et  quoniam  (übergeschrieben  :  besseres  quia  i.uni 
scriptital  //.  quem  uec  scriptitat  (keinen  vers  ergebend)  Wr..  Sed 
quia    illabilur   bezw.    tarn    labitur  Mi'/Id..  Haut.       'i.  '1.  video   //,  ms. 


6—8 
//  r.s  Missus      1 

2 
22 


23S     HOMER  HERDRINGER  VAGANTENL1EUERSAMMLUNG 

Sloane  15S  (S)  st.  videro.  3.  vilia  deslrui  iubebo  H;  nahekommend: 
viiiiiin  destrui  videbo  S,  siquidem  vitio  delebo  Wr.  (vitia  Muli.,  Haut.) 
'.).  2.  mentes  avarilia  nun  premebal  horum  //  ( völlig  abweichend  von 
der  sonstigen  Überlieferung),  quia  ncc  simonia  dilatabat  lorum  Wr., 
quia  Dec  simonia  vendicabat  cliorum  Müld.,  Quando  nee  simonia  vend. 
chor.  Haur.  3.  in  II  fehlerh.  st.  vi.  4,  1.  vineani  amodo  H 
Wr.,  admodo  (amodo)  vineam  Müld.  (Haur.)  5,  1.  quam  diu  II 
Müld..  Haur.,  quanlum  nunc  Wr.  2.  trahit  H,  Wr.,  rapit  Müld., 
Haur.  scismatis  impetus  umgestellt  II.  3.  per  quem  mens  hie 
lenietur  UHaur.  (relevelur  st.  lenietur  Müld.),  per  quem  aeneus 
illimelur  [!]  Wr.  es  folgt  in  H  slr.  9  (v.  33— 36J  von  Müld., 
10  von  Haur.  1.  bbet  HHaur.,  licet  Müld.  2.  delicit  H  fehlerh. 
st.  defecit.  3.  eclipsi  H  fehlerh.  st.  eclipsim  (eclipsin).  (j,  2.  sanrla 
HHaur.,    sacra    Wr.  7,  3.  scoria  HMüld.,  Haur.,     sordido    Wr. 

vel  lulo  H  st.  est  luto.  4.  prineeps  provinciarum  faeia  est  [vers!] 
HWr.,  Est  prineeps  provinciae  facta  (factus)  Müld.,  Haur.  8,  2.  caput 
mundi  HHaur.,  mundi  caput  Wr.,  Müld.  3.  ubi  non  H  fehlerh. 
st.  ubinam.  —  2)  slr.  1  —  3.  22.  38  —  52  des  combinierlen  Missus 
von  Wrighl  152/7*.  reihen  folge  der  slr.  in  H  s.  oben,  hier  die  Wr.sche 
folge  innegehalten.  1,  4.  nunquamne  m.  Müld.  (Missus  sum  s.  1), 
besser  als  numquam  me  Wr.  2,  3.  quainvis  st.  licet,  nee  st.  veL 
3,  1.  riihmis  st.  risu.  22,  1.  veterum  sl.  magnatum.  2/3  umgestellt. 
3.  rilhmulis  st.  lalibus.      38,  1.  Qui  virtutes  appetit,  labitur  in  imum. 

2.  querens  sapienliam  irruit  i'n  limum.  3.  bec  st.  sie.  39,  1.  consi- 
dendo  st.  conhdenler.  41.  2.  Sciat  quia  st.  et  scial  quod.  42,  1.  Scias 
artes  quaslibet.  sis  sl.  sit.  2.  fueris  st.  vixerit.  3.  Cum  te  st. 
illum.      plenus  st.  des  vorzuziehenden  penus.     43,  2.   fugio  sl.  fugiens. 

3.  feret  st.  ferret.  4.  Tuitius  fehlerh.  st.  Tulius.  et  nach  toro 
fehlt.  44,  1.  figurat  fehlerh.  st.  praeßgurat.  45,3.  arclia  fehlerh. 
sl.  archam,  4lj,  2.  cornicanlur  st.  commentantur.  47,  3.  ein  heu 
fehlt,  menlis  st.  menles.  4.  dicere  lucanum  st.  quod  semper  multum. 
48,  4.  satur  richtig  st.  des  fehlerhaften  salus.     50,  4.  pascit  sl.  pascal. 

51,  2.  inflali  hier  besser  als  infiala,  das  v.  4  am  platze  ist.  respuunt 
st.  reprimunt.  3.  Sic  ergo  impletum  mit  hialus  sl.  ex  hoc  iam 
impl.  dieunt  st.  canunt.  4.  Inquirat  fehlerh.  st.  Inquinat.  adiuneta 
st.  inflala.  so  auch  nr  13  dieser  Sammlung  1,  4.  die  in  II  nach 
51  folgende  slr.,  welche  im  combinierlen  Missus  sum  bei  Wr.  fehlt, 
stimmt  im  1  vers  und  dem  anfang  des  2  ten  mit  der  defeclen  drei- 
zeiligen  str.  17   von    Wr.s  Eliconis  überein.     sie  lautet  : 

Sit  pauper  de  nobili  genere  giganlum, 
Sciat,   quantum   currat  sol  et  saturnus  quanlum, 
per  se  solus  babeat  totum  ferme  cantum  : 
Gloria  quanlalibet  quid  erit  nisi  gloria   lanlum? 

52,  2.  Indulgeas,  si  sapis  mit  laclwechsel  sl.  miser  vaca  potius.  3.  quid 
st.  quod.        nolles  sl.  non  vis. 

Münster  i.  W.  A.  RÖMER. 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA. 

Bekanntlich  besteht  auch  heute  noch  hinsichtlich  der  hand- 
schriftlichen Dberlieferung  der  Völuspa  die  zuerst  von  Bugge  in 
seiner  kritischen  ausgäbe  (Fortale  s.  xxiuf)  aufgestellte  und  wol- 
begründete  annähme  bei  den  krilikern  im  princip  zu  recht,  dass  die 
beiden  bauptnss.,  in  denen  das  gedieht  überliefert  ist,  der  codex 
I i »■_; i us  und  die  llauksbok,  an  sich  als  gleichwertig  anzusehen  sind, 
wenn  auch  die  Trage,  in  welchem  gegenseitigen  Verhältnis  sie  zu- 
einander stehn,    ob   sie   auf  ein  und  dieselbe  schriftliche  quelle 

weisen    oder   oh  sie    eine    ganz    oder    nur    teilweise    gemeinsa 

quelle  mündlicher  Dberlieferung  voraussetzen,  verschieden  beant- 
wortet wird,  nachdem  in  der  letzten,  scharfsinnigen  zergliederun.: 
des  gedichts  durch  Boer  (Zs.  f.d.ph.  36,  363)  die  erste  ansieht  mit 
nachdruck  verfochten  wurde,  hat  sich  Sijmons  in  seiner  vor- 
trefflichen Einleitung  zur  Edda  (s.  xxxi)  im  entgegengesetzten 
sinne  entschieden,  und,  wie  mir  scheint,  vorläufig  ein  wahres  und 
durchaus  abschließendes  wort  gesprochen,  wenn  er,  gestützt  auf 
das  Verhältnis  jeder  der  beiden  handschriften  zu  dem  fragmen- 
tarischen Voluspatext  der  Snorra-Edda,  für  beide  Codices  das 
ergebnis  zieht,  dass  sie  auf  verschiedene  schriftliche  aufzeich- 
nungen  zurückgehn.  von  diesen  erweckt  die  II  zugrunde  liegende 
schon  deswegen  das  grüfsere  vertrauen,  weil  sie  offenbar  auf 
einen  selbständigen  und  einheitlichen  sträng  mündlicher  Über- 
lieferung weist,  während  der  11  zugrunde  liegende  urtexi  zwischen 
dem  mündlichen  Überlieferungsapparat  von  II  und  der  Snorra- 
Edda  schwankt. 

Indes  unabhängig  von  dieser  beantwortung  der  schwierigen 
frage  darf  von  vornherein  hervorgehoben  werden,  dass,  wenn 
auch  R  ja  sicher  keine  musterhandschrift  ist  und  sich  im  einzelnen 
bekanntlich  in  der  eddischen  Überlieferung  auch  sonst  grobe  irr- 
tümer  und  fiüchtigkeiten  zu  schulden  kommen  lässt,  hei  der 
Völuspa  doch  in  zweifelhaften  fällen  naturgemäfs  der  verdacht 
der  schlechtem  Überlieferung  entschieden  auf  H  ruht.  schon 
weil,  mag  man  nun  den  ansichten,  die  den  codex  Regius  um  1270 
oder  erst  gegeu  das  ende  des  Jahrhunderts  verlegen,  folgen,  der  in 
der  Haukshok  niedergeschriebene  Voluspatext,  der  um  die  mitte 
des  vierzehnten  Jahrhunderts  gesetzt  wird,  auf  alle  fälle  mindestens 
ein  halbes  Jahrhundert  später  ist.     sodann  aber,  weil  sie  nur  dies 


240  IS1EDNER 

eine  Eddalied  überliefert  und  in  ihm  der  lückenanteil  bedeutend 
gröfser  als  in  R  ist,  und  weil  überhaupt  die  Überlieferung  eddischer 
dichtung  keineswegs  wie  bei  dem  codex  Regius  Selbstzweck  dieser 
sammelhandschrift  war.  endlich  vornehmlich,  weil  auch  ein  ver- 
gleich im  einzelnen  zu  einer  reihe  von  Vorzügen  in  R  führt,  die 
uach  widerholt  angestellten  einzelbeobachtungen  heutzutage  nie- 
mand mehr  bezweifelt. 

Zunächst  die  anordnung  der  Strophen  in  H,  in  der  der  ganze 
mittlere  teil  des  gedichtes  lückenhaft  ist  und  daneben  eine  arge 
Verwirrung  im  einzelneu  zeigt,  die  nur  mit  hilfe  der  Überlieferung 
in  R  beseiligt  werden  kann,  auch  sonst  ist  v.  R  49  Hvat's 
mep  ösom,  hvat's  mep  glfom?  gnyr  allr  jgtonheimr,  äser'  o  ä 
pinge,  stynja  dvergar  fyr  steindurom,  veggbergs  viser  :  vitop  enn 
epa  hvat?  die  einzige  im  gedieht,  die  in  R  nach  der  bisherigen 
auffassung  ihren  richtigen  platz  gewechselt  hat  und  die  man  mit 
hilfe  von  H  nach  Rugges  vorgange  (Edda  s.  8)  an  ihre  angeb- 
lich richtige  stelle  vor  v.  46  in  den  ausgaben  brachte,  ich  hoffe 
später  zu  zeigen,  dass  die  gründe,  welche  Rugge  zu  dieser  Um- 
stellung veranlassten,  bei  näherer  prüfung  nicht  standhalten  :  in- 
des, auch  wenn  man  hier  dem  allgemeinen  urteil  beipflichtet,  so 
kann  dieser  einzelfall  auf  zufall  beruhen  und  könnte  nur  als  aus- 
nähme die  regel  bestätigen. 

Sodann,  fast  in  gleichem  umfange,  und  umsomehr,  als  die 
lexikalische  forschung  in  den  Eddaliedern  vorgedrungen  ist,  ver- 
dient R  den  vorzog  in  der  Überlieferung  des  Wortlauts  im  ein- 
zelnen —  auch  hier  liegen,  wo  einmal  H  würklich  das  bessere 
bietet,  wie  in  der  langzeile  22,  3  seip ,  hvars  kunne,  seip  hug- 
leikenn,  nur  ausgesprochene  schreibflüchligkeiten  in  der  altern 
har.dschrift  vor,  dass  dem  tatsächlich  so  ist,  zeigt  sich  zunächst 
darin,  dass  die  fälle,  in  denen  nach  der  früheren  annähme  R 
mit  H  gemeinsame  fehler  aufweisen  sollte,  immer  mehr  zusammen- 
schrumpfen, ich  erwähne  hierfür  als  besonders  charakteristisch 
das  vel  valtivar  (v.  62),  was  durchaus  mit  unrecht  von  Rask  in 
ve  valliva  gebessert  worden  ist,  eine  besserung,  die  den  guten  sinn, 
der  in  der  handschriftlichen  Überlieferung  ligt,  gewaltsam  heraus- 
interpretiert und  dadurch  nicht  blofs  für  den  Zusammenhang  unsrer 
stelle,  sondern  auch  für  die  ganze  heidnisch-germanische  grund- 
auffassung  des  alten  gedichtes  verhängnisvoll  geworden  ist  (vgl. 
Zs.  41,  42.  307  und  Kauffmann  Ralder  s.  26).     und  in  gleicher 


RAGNARÖK  IN  DKli  VÖLUSPA  241 

weise  den  Zusammenhang  störend  und  den  gesamlaufbau  der 
eigentlichen  Ragnarökepisode  verdunkelnd  ist,  wir  wir  Bpäter 
seilen  werden,  die  beanstandung  der  handschriftlich  beidemal 
durchaus  correct  überlieferten  v.  51,  11  Kjötl  ferr  anstatt,  koma 
mono  MuspdU  of  log  lyper.  dass  hier  durch  die  Buggesche 
besser ung  von  anstatt  in  ttorpan  und  lMnspel/s  in  IJeljar  (Edda  s.  9) 
Snorris  mythiscbgeograpbischem  system  zu  liehe,  der  gesamten 
Überlieferung  zum  trotz,  der  ursprüngliche  sinn  zerstört  ist,  da- 
für kann  ich  mich  einstweilen  auf  Olriks  ausgezeichnete,  von 
gerechter  indigoation  des  mylhenforschers  getragene  bemerkung 
in  seinem  aufsatz  Om  Ragnarok  (Arbeger  n.  r.  17,  222)  be- 
rufen, aher  auch  die  fälle  verschiedener  Überlieferung  in  R  und  II 
andern  an  diesem  fast  grundsätzlichen  Verhältnis  nichts,  mit  recht 
hat  Gering  in  seinem  grofsen  Wörterbuch  die  in  R  überlieferte 
lesart  v.  46,  2  at  eno  (jalla  Gjallarhorne,  die  Wadstein  (Arkiv  15, 161) 
vortrefflich  verteidigt  hat  und  die,  wie  man  auch  die  schwer  ver- 
ständliche halbstropbe  auffasst,  einen  viel  prägnanteren  sinn  gibt, 
als  die  lesart  von  II  at  eno  gamla,  als  selbständigen  wortartikel 
verzeichnet  (s.  316),  und  gewis  hat  Sijmons  nicht  mit  recht  in 
v.  9  die  lesart  von  R  hverr  skylde  dverga  drötten  skepja,  die  allein 
in  das  Dvergalal  einen  einigermafsen  verständigen  sinn  hinein- 
bringt, hinter  die  von  II  zurückgestellt  (aao.  s.  xxvm;  vgl.  Ileiuzel 
Edda  ii   19). 

Auch  was  endlich  die  Überlieferung  ganzer  langzeilen  an- 
langt, darf  man  H  gegenüber  in  der  regel  zum  mistrauen  geneigt 
sein,  noch  niemand  hat  sich  beispielsweise  der  Überlieferung  von 
H  7,  2  afls  kostopo,  alls  freistopo  gegenüber  R  peirs  horg  ok  hof 
hUimbropo  angenommen,  und  es  ist  daher  auch  in  fällen,  wo 
wir  R,  da  durch  Flüchtigkeit  eine  langzeile  ausgefallen  ist,  nicht 
mehr  controlieren  können,  wie  60,  3,  naheliegend  zu  zweifeln, 
ob  II  in  der  langzeile  ok  minnask  par  d  megendöma,  die  merkwürdig 
an  den  regendömr  (v.  65)  erinnert,  der  ebenfalls  nur  in  ihr 
überliefert  und  inhaltlich  höchst  bedenklich  ist,  das  ursprüng- 
liche bietet. 

Es  ist  demnach  bei  aller  anerkeunung  der  principiellen  gleich- 
berechtigung  der  beiden  Codices  auf  grund  des  einzelkritischen 
Studiums  des  handschriftlichen  materials  doch  in  praxi  seit  Müllen- 
hoffs  grundlegender  darstellung  der  Völuspa,  deren  ergebnisse 
sich  auch  praktisch  noch  mit  der  durch  Bugge  inaugurierten  hand- 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  16 


242  NIEDNER 

schriftlichen  auffassung  deckten  (vgl.  DA.  v  10),  schrittweise,  aher 
sicher  eine  Verschiebung  der  beurteilung  zu  gunsten  von  R  ein- 
getreten, erfahrungsgeschichllich  —  wenn  auch  die  theoretische 
annähme  bisher  hestehn  blieb,  somit  ist  es  nur  ein  natürliches 
und  durchaus  methodisches  verfahren,  diese  prüfung  principiell 
einmal  auch  auf  die  für  die  höhere  kritik  so  wichtige  frage  des  in 
II  überlieferten,  entweder  variantenhaft  parallelen,  oder  R  gegen- 
über überschüssigen  Strophenmaterials  auszudehnen. 

Ligt  doch  hier  ein  sicheres  classisches  beispiel,  das  zu 
gunsten  von  R  spricht,  nach  dem  einstimmigen  urteil  der  fach- 
genossen bereits  vor,  nämlich  die  Zeilen  II  30  pd  knä  Vdla 
vigbgnd  snüa,  heldr  vgro  harpggr  hgpt  6r  pgrmom  gegenüber  R  35 
Hapt  sd  liggja  und  hvera  binde  leegjarnlike  Lohn  öpekkjan.  ein- 
stimmig nimmt  man  jetzt  an,  dass  wir  es  hier  mit  Varianten  zu 
tun  haben,  und  dass  nur  R  oder  H  das  ursprüngliche  im  zu- 
sammenhange des  gedichtes  bewahrt  haben  kann,  beide  Versionen 
neben  einander  hat  keine  der  neuern  mafsgebendeu  kritischen 
ausgaben  in  den  text  aufgenommen,  alle  herausgeber  und  er- 
klärer  aber  haben  hier  der  fassung  von  R  den  vorzug  gegeben 
aufser  Müllenhoff.  es  ist  aber  auch  wol  sicher,  dass  dieser  bei 
dem  heuligen  stände  der  forschung  aus  den  von  ihm  in  der 
DA.  v  9f  aufgestellten  erwägungen  heraus  schwerlich  noch  jetzt 
für  den  principiellen  Vorzug  von  H  an  dieser  stelle  plaidieren 
würde,  wie  dem  auch  sei,  auf  jeden  fall  kann  heutzutage,  wo 
durch  ßiürn  Magnüsson  Olsen  (Timarit  15,  1  ff .  16,  42ff.  Um 
Kristnitökuna  56 ff)  die  isländische  herkunft  des  gedichtes  über- 
haupt discutabler  als  jemals  vorher  geworden  ist,  der  isländische 
charakter  der  visa  an  sich  gewis  keinen  ausschlaggebenden  grund 
für  ihre  Zurückstellung  aus  dem  texte  zu  gunsten  von  H  ergeben 
—  ganz  abgesehen  davon,  dass  hvera  lundr  nicht  notwendig 
auf  eine  vulcanlandschaft  deuten  muss  (vgl.  Heinzel  Edda  n  46). 
die  fassung  von  H  stellt  sich  in  jedem  falle,  mag  man  sie  nun 
aus  sprachlichen  oder  stilistischen  erwägungen  heraus,  aus  grün- 
den des  engern  Zusammenhanges  im  gedieht  oder  aus  allgemein- 
mythologischen gesichtspuneten  betrachten,  als  eine  jüngere  dar, 
vermutlich  entstanden  mit  bewusler  anlehnung  an  die  mit  unrecht 
von  Müllenhoff  und  andern  gestrichenen  vv.  32,  3.  4;  33,  1.  2.  die 
von  der  rede  Valis  handeln. 

Dasselbe   Verhältnis,    dh.    dieselbe   bewuste   späte  Varianten- 


RAGNARÖK   IN  DER  VÖLUSPA 

zudichlUDg,   ligt  nun  aber   bei  allen   Übrigen   io   II    überlieferten 
plusstrophen  vor,    auch    wo  dies   die   handschriftliche    Überliefe- 
rung nicht  so  unmittelbar  greifbar  veranschaulicht,     gelegentlich, 
aber  niclit  in  grundsätzlicher  durchfuhrung  isi  darauf  schon   \<>n 
Boer  und  Heinzel  in  den  genannten  arbeiten  mehr  oder  wenig 
ausführlich  hingewiesen  wordeu.    übereinstimmend  isl   bei  beiden 
der  im  gegenwärtigen  Zusammenhang  unursprüngliche   Charakter 
der  v.  40,  .'>.  I  hrdpask  aller  d  helvegom,  <i/ir  Surtar  pann  sef< 
of  gleyper  erörtert    worden,     auch   vv.   48  f  (die  in   II   ganz  frag- 
mentarisch überliefen  sind),  die  Boer  ebenfalls  nachdrücklich  als 
spätere  zudichlung  bezeichnet,  sind  in  Heinzeis  überaus   conser- 
vativer  ausgäbe  nicht  in  den  laufenden  Vüluspatext  aufgenommen. 
dagegen  gelm  beide  gelehrte  in  der  beurleilung  der  für  die  höhere 
kritik  des  gedichtes  allerwichligsten  H-strophe,  der  v.  65  Komr  enn 
rike  at  regendöme,  Qfloyr  ofan,  sds  pllo  räpr  denkbar  auseinander. 
während  Boer  die  überschüssige  halbstrophe  ausdrücklich  als  not- 
wendiges  eigentum    der   Vüluspa,    wenigstens   des   in   ihr  ange- 
nommenen    zweiten    überarbeitenden    dichters,    proclainierl  (aao. 
s.  31311),  hat  Heinzel  gerade  ihr  hinsichtlich  des  beweises  ihrer 
unursprünglichkeil    in   seinem    Bddacommentar  (s.  81  f)  ganz  be- 
sondere Sorgfalt    zugewant.     schon,    dass   die  kühnste   und  sub- 
jectivste  behandlung  der  Vüluspa,  die  im  gedicbte  alles  vom  stand- 
puncl  der  höhern  kritik  allein  betrachtet,   und    die    allerzurück- 
haltendste  und  objectivste,  die  sonst  die  höhere  kritik  als  solche 
principiell  auszuschliefsen  scheint,  in  der  athelese  der  plusstrophen 
in   II  teilweise  zusammentreffen,  ledweise  sich  widersprechend  er- 
gänzen, macht  die  obeu  berührte  systematische    vergleichung  des 
gesamten  II-mehrmateriales,  nämlich  der  vv.  30,  1.  2.  40,3.  4.  4SI' 
und  58,    zu    einer    kritischen    notweudigkeil.      sollte   sich   dabei 
herausstellen,  dass  sie  in  ihrer   unursprünglicbkeit   völlig   gleich 
zu  beurteilen    waren,    so  würde    sich    ein    fesler    kritischer  aus- 
gangspunct  hergeben,  von  dem  aus  eine  neusichtuug    des    über- 
lieferlen    lexles,   zunächst  der   vielumstrittenen    Ragnarökepisode, 
vorgenommen   werden   könnte,  wie  diese  als  grundlage   und  vor- 
trage für  die  psyche  des  gedichtes  und  seiner  allgemeinen   cultur- 
bistorischen    auffassung  unbedingtes   erfordernis  ist.    wir  werden 
aber  diese  nachprüfung  des  wertes  der  H-slrophen  im  zusammen- 
hange nicht  besser  vornehmen  können,  als,  indem  wir  uns  zunächst 
an  der  obengenannten  allgemein  als   Variante   anerkannten   halb- 

1G* 


244  MEDINER 

Strophe  v,  30,  1.  2  den  typischen  Charakter  dieser  varianten- 
dichtung  noch  einmal  greifbar  vergegenwärtigen,  dann  zu  zeigen 
suchen,  wie  in  vv.  40,  3,  4  und  48  f  dieser  erweiterungsprocess 
eine  vollständige  beslätigung  findet,  und  endlich,  wie  in  der  halb- 
strophe  65  und  ihrer  ergänzung  in  den  papierhandschriften,  die 
immerhin  als  solche  relativ  all  sein  kann,  diese  nachdichtenden 
Wucherungen   ihren  höhepunct  erreichen. 

Mislich  ist  in  der  Valistrophe  in  erster  linie,  dass  man  ohne 
besserung   überhaupt  zu  keiner  erklärung  kommen  kann,  da  der 
sprachliche  ausdruck  verderbt  ist,  und  dass  selbst  bei  der  besten 
emendation,  von   Vdla  in    Vdli,  die  wenigstens  in  der  bessern  der 
prosadarstellungen,  die  von  Lokis  söhn  handeln,  der  Gylfaginning, 
eine  stütze  zu  finden  scheint,    der  ausdruck   'der  wolf  dreht  die 
kriegsbande',  wie  Boer  (aao.  s.  337)  richtig  bemerkt,  immer  etwas 
gezwungenes  behält,  wie  denu  überhaupt  die  visa,  wie  ebendort 
mit  recht  betont  ward,  in  ihrer  gekünstelten  construclion  als  uui- 
cum    selbst    unter   den  jüngsten   Zusätzen    der  Völuspa   dasteht, 
ebenso  zeigt  der    Zusammenhang,     dass    eine   andre   Stellung   der 
Strophe,  etwa  als  eingang  der  Vorgänge  von  Lokis  Fesselung,  oder 
als  voregov  tiqötsqov  im  stil  der  Völuspa  hin  skamma  hinter  der- 
selben  bei    der   schonen    geschlossenheit  der  visa  35  in  R  Hapt 
sd  liggja  und  hvera   lunde   Iwgjarnlike   Loka   öpekkjan.   par  sitr 
Sigyn  peyge  umb  sinom  ver  velglyjop  :  vitop  enn  epa  hvat?    ein- 
fach unmöglich  ist.     eudlich  aber  erweckt  die  Strophe   auch  aus 
gründen    des    mythologischen    zusammenbanges    verdacht,     denn 
wenn  auch  in   den    andeutungen    wahrscheinlich    die    darstellung 
der  Snorra-Edda  oder  der  prosa  zur  Lokasenna  hindurchschimmert 
und    die   hgpt   durch    hapt  in    der  R-strophe  äufserlich    zunächst 
veranlasst  scheinen,  die  möglichkeit,  dass  sie  doch  auf  Vali,  den 
rächer   Baldrs,    geht,    die  Heinzel   (Edda  n  48)  an    erster  stelle 
bringt,  ist  nicht  bestimmt   von  der  band  zu    weisen,    zumal  wir 
ja  das  mythologische  Verhältnis  der  beiden    Vali   keineswegs    klar 
überschauen  und  möglicherweise  Kauffmann  recht   behält,    wenn 
er  den  nur  in  Jüngern   quellen    erwähnten  söhn  Lokis   als  mis- 
verständlich  aus  dem  söhn  Odins  entstanden  ausmerzt  (vgl.  Gollher 
Handbuch  s.  396).     übrigens  würde   auch   in   diesem  falle  v.  35 
ihren  charakler  als  variantenstrophe  behaupten  uud   könnte   erst 
recht  nicht  neben  der   echten  Valistrophe  (R  33,  3.  4.  34,  1.  2) 
bestehn,    sich    auch   in    ihrer    überlieferten    Stellung   vollständig 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLÜSPA  245 

dem  charakter  ih'i  gleich  zu  besprechenden  reinen  plusslrophen 
des  gedichtes  nähern,  auf  jeden  rall  bleibt  der  typische  gruod- 
zu^r  dieser  dichtungsart  der  gleiche  :  'minderwertige  Fassung  Dach 
inhalt  und  form  gegenüber  der  in  unmittelbarer  nähe  slehnden 
echten  in  R,  deren  ausdrucksweise  gleichzeitig  benutzt  wird". 

Pen  gleichen  charakter  zeigen  nun  die  beiden  zudichtungen, 
die  Boer  aao.  s.  3331  und  305  f  behandelt  hat,  von  denen  die 
letztere  (vv.  4SI)  widerum  unmittelbar  neben  der  von  ihr  nach- 
geahmten und  benutzten  v.  53  K  (der  Strophe  von  Thors  kämpf 
mit  der  Midgardsschlange)  steht,  also  sich  v.  30  II,  falls  man 
diese  im  landläufigen  sinne  auf  Lokis  söhn  deutet,  bis  auf  ihren 
jdatz  in  der  Überlieferung  vergleicht,  die  erstere  (v.  40,  3.  4) 
zwar  an  ihrer  jetzigen  stelle  in  den  ausgaben  von  ihrer  urbild- 
strophe  in  H  (v.  51)  entfernt  gerückt  erscheint,  aber,  wie  ihre 
engste  Verbindung  mit  15  40  zeigt  (lival's  mep  ösom,  hvat's  me/t 
glfom,  gnyr  allr  jplonheimr,  d-sero  ä  /ringe)  nach  meiner  festen  Über- 
zeugung durch  dieselbe  handschriftliche  Verwirrung,  die  II  auch 
sonst  beherscht  und  der  unbegreiflicherweise  die  obengenannte 
R-slrophe  in  ihrer  fälschlichen  Umstellung  durch  die  kriliker 
zum  opfer  fiel,  an  ihren  jetzigen  laischeu  platz  geriet,  gerade, 
dass  sie  nur  dort  passend  stehn  kann  (v.  51),  wo  nach  dem  Zer- 
klagen t\r*  himmels  mit  der  tat  des  wolfes  der  Weltuntergang  be- 
ginnt, ist  für  mich  ein  gewichtiger  grund  mit,  warum  ich  glaube, 
dass  auch  in  diesem  einzigen  falle,  wo  nach  dem  allgemeinen 
sich  an  Bugge  anschliefseuden  urleile  eine  R-strophe  ihren 
platz  gewechselt  haben  sollte,  II  die  richtige  reihenfolge  nicht 
darstellt. 

Es  ergibt  sich  denn  auch  in  den  Zusätzen  von  40,  3.  4  und 
48  f  ein  deutlicher  parallelismus,  der  sie  widerum  30,  1.  2  nähert, 
wie  jene  nämlich  den  für  den  mittleren  teil  des  gedichtes  so 
wichtigen  act  von  Lokis  fesselung  oder  den  ebenso  bedeutsamen 
von  Valis  räche,  so  paraphrasieren  diese  beiden  visur  die  beiden 
wichtigsten  und  entscheidendsten  götterkämpfe  der  Ragoarük,  die 
mit  dem  tode  Odins  und  Thors  enden,  der  eine  Zusatz  holt  das 
verschlingen  Odins  durch  Fenrir  nach,  was  in  v.  53  nicht  aus- 
drücklich ausgesprochen  ist,  der  zweite  schildert  in  geuauerm 
detail  das  gebahren  der  Midgardsschlange  bei  ihrer  tat,  was  in 
v.  56  ebenfalls  nur  angedeutet  wurde,  sprachlich  und  stilistisch 
aber  widerholen  sich  dieselben  Ungeschicklichkeiten  und  bedenk- 


246  N1EDNER 

Henkelten,  wie  sie  oben  bei  v.  30  hervorgehoben  wurden,  die 
letzte  zeile  40,  4  öpr  hann  Surtar  sefe  of  gleyper  ist  widerum 
nur  unter  Voraussetzung  dieser  Muchschen  besserung,  die  Gering 
in  seinem  grolsen  glosser  (s.  342)  mit  recht  acceptiert  bat,  ver- 
ständlich, und  der  ausdruck  Surtar  sefe  ist  offenbar  au  v.  50 
angelehnt,  übrigens  ein  weiterer  beweis  dafür,  dass  die  halbstrophe 
einmal  in  deren  nähe  ihren  platz  gehabt  hat.  paraphrasiert  doch 
auch  der,  wie  Boer  mit  recht  hervorhebt,  einen  recht  schiefen 
gedanken  enthaltende  ausdruck  hrd'pask  aller  d  heloegom  das 
tropa  haier  helveg  derselben  Strophe,  nur  dort  im  gedieht  ist 
bei  beginn  des  Weltunterganges  dieser  ausdruck  recht  am  platze, 
und  ßoer  hatte  vollkommen  recht,  wenn  er  ihn,  wie  hier  als 
verfrüht,  so  53  R  als  verspätet  ausscheidet  und  dort  (vgl.  mono 
haier  aller  heimslgp  rypja),  worauf  wir  später  zurückkommen,  als 
kriterium  für  die  uuechtheit  des  visuhelming  3  f  in  dieser 
Strophe  verwertet1,  und  ähnlich  ist  es  bei  visa  48  f  H,  die, 
wie  Boer  (aao.  s.  305)  und  Heinzel  (aao.  s.  75)  zeigten,  teils 
aus  der  echten  siropbe  der  Völuspa,  teils  aus  andern  liedern, 
wie  Hymiskvida  und  Ilyndluljod,  ihre  ausdrücke,  die  besonders  in 
ersterem  liede  viel  besser  am  platze  sind,  entlehnten,  in  den 
Zusammenhang  der  Völuspa  aber  passt,  streng  genommen,  weder 
die  zudichtung  vom  verschlingen  des  Fenriswolfes  noch  die  Situation, 
in  der  uns  die  Midgardsschlange  im  einzelnen  vorgeführt  wird, 
jene  zerstört  plump  die  Veredelung,  die  der  Vüluspadichter  in 
der  darstellung  der  Ragnarökkämpfe  mit  seinen  mythischen  motiven 
vorgenommen  hat  —  er  erzählt  nach  Olriks  feinsinniger  bemerkuug 
(aao.  s.  278 f)  absichtlich  nur,  dass  der  göttervater  durch  den 
wolf  fiel,  wie  er  in  der  gleich  folgenden  Strophe  von  seinem 
gegner,  das  unästhetische  des  landläufigen  mythologischen  beriebtes 
vermeidend,  mitteilt,  dass  er  durch  Vidars  schwert  ins  herz  getroffen 
wurde,  wenn  aber  von  der  Midgardsschlange  erzählt  wird,  dass  sie 
hoch  empor  aus  dem  meere  gähnt,   so  entspricht  das  schwerlich 

1  zu  der  slrophenordnung,  die  Much  (Zs.  37,  417  ff)  vornimmt,  um  die 
v.  40,  3.  4  an  der  in  den  ausgaben  üblichen  stelle  zu  halten,  kann  ich  mich 
nicht  entschliefsen,  obwol  sie  Gering  in  seiner  neubearbeitung  von  Hilde- 
biands  Edda  (s.  160  befolgt  hat.  abgesehen  davon,  dass  an  jener  stelle  der 
ausdruck  hrcepask  aller  ä  lielvegom  noch  weniger  am  platze  wäre,  werden 
in  v.  46  die,  wie  die  parallele  v.  27  zeigt,  untrennbaren  Vorgänge  von  Heim- 
dalls  liornblasen  und  0<tins  ausspräche  mit  Mimir  bei  dieser  anordnung  un- 
passend auseinandergerissen. 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA        247 

dem  bilde,  das  der  Völuspadichter  in  seiner  nurdiscret  andeutenden 
Strophe  von  dem  vorgange  gemacht  hat,  da  ein  solches  gebahreo, 
wie  richtig  bemerkt  worden  ist,  wo]  dem  geköderten  ungelüm, 
aber  nicht  dem  freiwillig  herangeschwommenen  zustand,  beidemal 
isl  also  der  künstlerisch  leinen  auffassung  des  dichters  aufdringlich 
die  übliche  Vorstellung  von  dem  zudichter  entgegengestellt,  und 
dasselbe  Verhältnis  spiegelte  sich  ja  auch,  wie  man  sie  nun  aucli 
deuten  möge,  in  der  unechten  Valistrophe  wider,  auf  jeden  fall 
aber  verraten  alle  drei  besprochenen  visur  engste  verwantschaft 
und  lassen  eine  solche  an  sich  auch  schon  für  die  letzte  H-strophe, 
v.  (iö,  die  von  lleiuzel  so  energisch  verworfen  winde,  vermuten. 
.Nach  Heinzeis  Vermutung  wäre  die  visa  das  werk  eines 
christlich  gesinnten  Uberarbeiters  des  gedichts,  'während  der  um- 
gekehrte weg,  dass  jemand  diese  religiös  so  wichtige  Strophe  wi 
gelassen,  vergessen  oder  ausgemerzt  habe,  fast  —  ich  würde 
getrost  sagen  'ganz'  —  undenkbar'  sei.  schon  diese  allgemeine 
erwägung  ist  für  mich  vollkommen  ausschlaggebend  für  die  alhe- 
tese  von  v.  65.  noch  mehr  die  begründung  der  inisverstiiudnisse 
des  christlichen  interpolators  hinsichtlich  der  gesamten  Situation, 
wie  sie  vv.  64  und  66  voraussetzen,  auf  die  wir  unten  bei  der 
besprechung  dieser  visur  zurückkommen,  so  überzeugend  diese 
motivierung  aber  auch  ist,  sie  gibt  keineswegs  den  einzigen  grund 
für  die  lilgung  der  bisher  immer  für  den  gipfelpunct  des  gedichts 
erklärten  visa  ab.  sie  bestätigt  nur  in  höchst  willkommner  weise, 
was  an  bedenklichkeiten  in  sprachlicher  und  stilistischer  hinsieht, 
ferner  aus  gründen  ihrer  Stellung  in  der  tradition  und  dem  Zu- 
sammenhang der  Überlieferung  auch  sonst,  vor  allem  aber  in 
mythologischer  beziehung  von  den  verschiedensten  Seiten  über 
sie  bemerkt  worden  ist.  in  alledem  reiht  sie  sich,  um  dies  gleich 
vorweg  zu  betonen,  den  bisher  behandelten  drei  varianteuzusätzen 
würdig  an,  selbst  in  dem  punet,  dass  auch  sie  in  unmittelbarster 
nähe  der  zu  paraphrasierenden  visa  steht:  es  ist  nur  ein  gradueller, 
kein  principieller  unterschied,  der  sie  diesen  visur  ferner  zu  rücken 
seheint,  denn  offenbar  umschreibt  sie  —  nur  in  bewust  christ- 
lich gefärbtem  sinne  —  v.  62  bols  mon  alz  balna,  vxon  Baldr 
koma,  die  den  wahren  gipfelpunct  des  gedichtes  darstellte,  so  dass 
also  in  ihr  der  unheilvolle  einlluss,  den  II  durch  ihre  zudichtungs- 
stropben  ausgeübt  bat,  sich  am  nachdrücklichsten  offenbart,  dieser 
parallelismus  wird  aber  leicht  begreiflich,  wenn  wir  an  das  äugen- 


24S  NIEDNER 

scheinlich  (freilich  sicher  nicht  io  einem  so  weiten  umfange, 
wie  dies  Kauffmann  aao.  s.  58  annimmt)  durch  Christus  beein- 
flusste  bild  Baldrs  bei  Snorri  denken,  und  im  hinhlick  darauf 
mag  man  gern  über  die  vorliegende  halbstrophe  —  aber  auch 
nur  über  sie  —  das  urteil  fällen,  das  Björn  Magnusson  Olsen 
aao.  s.  81  ff.  85  f.  88  über  sie  aussprach,  sicher  bemerkt  er  über 
sie  ebenso  mit  recht,  wie  über  die  umstehnden  vv.  64.  66  mit 
unrecht,  dass  sie  nichts  weiter  als  Christus  beim  jüngsten  gericht 
ausmalen,  sie  entspricht  tatsächlich  in  ihren  Wendungen  christ- 
lichen ausdrücken,  wie  denen  des  Stockholmer  homilienbuches  aus 
dem  anfange  des  13  jh.s  mep  gope  almötkom  i  himinsrikis  dyrp, 
und  mit  fug  hebt  Olsen  hervor,  dass  in  der  nichtnennung  des 
namens  des  höchsten  gottes  nur  die  —  allerdings  nach  unsrer 
auffassung  durch  den  interpolator  falschlich  —  der  Seherin  in 
den  mund  gelegte  scheu  sich  ausspreche,  den  namen  Christi  zu 
nennen,  wie  dies  ja  in  den  Worten  der  die  Völuspa  nachahmenden 
Völuspa  hin  skamma  :  pd  kernr  annarr,  enn  mötkare,  pö  porek  eige 
pann  at  nefna  direct  und  ohne  jede  Verschleierung  zu  tage  tritt. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  im  detail  die  erdrückende 
fülle  von  längst  schon  an  zerstreuten  stellen  und  in  verschie- 
denstem Zusammenhang  von  gelehrten  beobachteten  kriterien  für 
die  bedenklichkeit  dieser  halbvisa. 

Zunächst  erwecken  die  beiden  substantivierten  adjectiva,  die 
bei  der  Charakteristik  des  neuen  unbekannten  gottes  verwant 
werdeu,  die  grösten  bedenken,  er  heifst  enn  rike  (der  mächtige), 
es  at  gllo  rwpr  (der  über  alles  herscht).  diese  farblos  umschrei- 
bende adjectivische  bezeichnung  für  die  Charakteristik  eines  gottes 
von  so  weittragender  bedeutung  hat  in  der  guten  alten  eddischen 
dichtung  sicher  keine  aualogie.  wol  aber  kehren  jene  ausdrücke, 
wie  oben  angedeutet,  reichlich  in  der  christlichen  litteratur  wider, 
und  ebenso  der  ganz  singulär  dastehnde  ausdruck  regendömr,  der, 
wie  oben  bemerkt,  den  nur  in  H  überlieferten  ausdruck  d  megen- 
döma  (v.  50,3)  möglicherweise  verschuldet  hat,  vielleicht  aber  auch 
erst  durch  misdeutung  der  dortigen  Situation  die  plötzliche  ein- 
flechtung  des  jüngsten  gerichts  durch  Jesus  in  v.  65  mit  veranlasste, 
daneben  werden  in  der  Strophe  aber  echte  worle  des  gedichtes  nach- 
geahmt, so  gflngr  aus  v.  17,  wo  der  ausdruck  als  bezeichnung  der 
drei  menschenschaffenden  Äsen  verwant  wird,  so  lehnt  sich  auch 
enn  rike  an  enn  dimme  an  (v.  66);  nur  dass  dort  der  ausdruck  ord- 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA  249 

nungsmäfsig  durch  das  substaDtivum  dreke  ergänzt  wird,  endlich 
zeigt  der  ganze  Strophenanfang  komr  enn  rike  bewusle  anlehnuog 
nicht  nur  an  den  anfang  eben  dieser  visa  kemr  enn  (limine  dreke 
fljhyande,  sondern  auch  an  v.  53  pd  komr  Hlinar  harmr  annarr 
fram,  v,  54  komr  enn  mikle  mggr  Sifgopor  und  v.  55  kemr  enn 
untre  mogr  Illöpynjar,  ist  übrigens  schon  aus  diesem  gründe, 
worauf  noch  nirgends  mit  genügendem  nachdruck  hingewiesen  ist, 
für  einen  besonders  prägnanten  stroplfenanfang,  wie  ihn  das  er- 
scheinen des  höchsten  goltes  als  bedeutsamster  schlussact  des 
gedichtes  doch  erfordert,  denkbar  ungeeignet. 

Zu  diesen  sprachlichen  und  stilistischen  harten  und  un- 
gereimtheilen tritt  nun  die  unvollständige  Überlieferung  in  metri- 
scher hinsieht,  wir  haben  es  mit  einer  halbslrophe  zu  tun,  und 
die  ergänzung  der  papierhss.,  die  in  diesem  schlussabschnilte  gern 
und  nicht  unglücklich  lücken  auszufüllen  suchen  (vgl.  auch  v.  Gl) 
semr  hann  dumar  ok  sakar  leggr  :  veskpp  selr,  paus  vesa  skolo, 
zeigt  deutlich  dasselbe  fortwuchern  der  christlichen  zudichtung, 
dem  wir  vielleicht,  wie  bemerkt,  auch  zeile  60,  3  verdanken,  je 
besser  die  ergänzung  der  papierhss.  aber  ist  und  je  weniger  sie 
sich  an  dieser  stelle  von  dem  ganzen  tenor  der  halbvisa  unter- 
scheidet, so  dass  sich  der  sonst  so  behutsame  Müllenboff  sogar 
zu  ihrer  aufnähme  in  den  Völuspatext  entschließen  konnte,  um 
so  mehr  bestätigt  sie  die  müglichkeit  einer  spätem  entstehuugs- 
zeit  dieser  ergänzung  in  II,  wie  der  ihr  so  nahe  verwanten  oben 
besprochenen  parallelslrophen. 

Aber  auch  in  den  überlieferten  Zusammenhang  fügt  sich  die 
visa  in  keiner  weise,  schon  Heinzel  (s.  81)  hob  hervor,  dass 
es  nicht  begreiflich  erscheint,  welche  rolle  die  neuen  gülter 
von  w.  59.  60.  61  —  und  wir  können  hinzufügen  auch  von 
v.  62  —  dem  obersten  richter  und  heirn  gegenüber  spielen 
sollen,  man  muss  doch  wol  annehmen,  dass  die  gülter,  die  sich 
so  eifrig  an  Fimboltys  fornar  rünar  erinnern,  ihren  herscher  in 
ihrer  eignen  mute  finden  werden,  auch  Olrik  hat,  wenn  er  auch 
von  seinem  staudpunet  aus,  da  er  den  ganzen  schluss  des  gedichts 
zwar  zum  teil  für  christlich  gefärbt,  aber  künstlerisch  für  einheit- 
lich hält,  von  einer  athetese  der  v.  65  nichts  wissen  will,  doch  den 
episch  wertlosen  Charakter  desselben  klar  erkannt,  und  es  ligt 
ganz  in  der  richlung  Heinzeis,  wenn  er  (aao.  s.  283)  zusammen- 
fassend über  das  erscheinen  des  höchsten  goltes  urteilt  :  ll  VoJospQ 


250 


NIEDNER 


kommer  han  med  stör  dramatisk  virkning;  men  episk  set  er  han 
ganske  overflodig,  da  den  unge  gudeslaegt  selv  mä  kunue  ordne 
den  fornyede  verlden  og  allerede  bar  gjort  det\ 

Das  allerschwerste  bedenken  ligt  doch  aber  sicher  darin, 
dass  dieser  oberste  gott  und  die  art  seiner  erscheinung  sich 
weder  mit  den  mythisch-geographischen  noch  mit  den  mythisch- 
historischen Vorstellungen  des  nordisch-heidnischen  altertums,  wie 
es  uns  sonst  in  den  Eddaliedern  begegnet,  irgendwie  verträgt, 
dass  der  höchste  gott  von  oben  {ofan)  kommen  soll,  was  auf- 
fallend an  die  genannte  stelle  des  Stockholmer  homilienbuches 
erinnert,  ist  ein  unicum  in  der  ganzen  mythischen  geographie 
des  gedichts,  das  nur  in  dem  vindheim  vipan  der,  wie  wir 
später  sehen  werden,  ebenfalls  bedenklichen,  wenn  auch  nicht 
gleichfalls  notwendig  christlich  gefärbten  v.  63  seine  entsprechung 
hat.  wol  können  der  Idavöllr  (v.  60)  und  die  neue  Valhöll  (v.  62 
flröpts  sigtopter)  ohne  Widerspruch  neben  einander  in  der  apo- 
theose  des  gedichts  bestehn,  da  während  seines  ganzen  Verlaufs 
ebenso  wie  götter  und  menschen,  consequent  auch  götterweit  und 
meuschenwelt,  die  ja  ohnehin  so  viel  beziehung  haben,  nicht 
streng  geschieden  werden,  ist  doch  auch  im  ersten  teil,  in  voll- 
kommen genauer  entsprechung,  die  locale  entfernung  des  Ida- 
feldes, wo  die  gölter  zuerst  auf  der  erde  wohnen,  und  der 
Walhallburg,  die  sie  sich  in  Asgard  errichtet  haben,  nirgends 
angedeutet  (vv.  7.  24) :  auch  hier  fehlt  jede  mythisch-geographische 
differenzierung  von  götter-  und  menschenweit,  dass  aber  über 
dem  neuen  Idavöllr  und  der  neuen  Valhöll  (vv.  60.  64)  noch  eine 
neue  oberweit  da  sein  soll,  hat  nirgends  eine  parallele,  das  ofan 
ist  offenbar  ganz  mechanisch  dem  nepan  in  v.  66  nachgebildet, 
das  aber,  da  uns  Nidhöggs  heim  unter  der  erde  schon  aus  vv.  37. 
39  genugsam  bekannt  ist,  dort  sehr  wolverständlich  erscheint, 
und  was  nun  endlich  die  erscheinung  eines  solchen  höchsten 
unbekannten  gottes  an  sich  anlangt,  so  weifs  sie  bekanntlich 
keine  andre  ältere  eddische  quelle,  nur  in  jüngster  dichlung, 
wie  in  der  von  der  Völuspa  abhängigen  Völuspa  hin  skamma,  ist 
davon  die  rede,  seihst  die  doch  christlichen  einfliissen  nicht  un- 
zugängliche darslellung  Snorris  kennt  wol  Gimle,  aber  nicht  diesen 
Üeög  dyvioTog.  nur  die  Vorstellung  von  der  widerkehr  aller  ehe- 
maligen götter  oder  einer  Jüngern  generalion  derselben  kehrt  auch 
sonst  wider,  wenn  auch  die  biirger  des  neuen  olymps  nicht  immer 


RAGNARÖK  UN  DER  VÖLl  SPA  251 

die  gleichen  sind,  von  einem  bestimmten  oder  mehreren  herschern 
dagegen  ist  zwar  direct  auch  nirgends  die  rede,  wol  aber  deutet 
die  alte  bekannte  rälselfrage,  die  Odin  in  Baldrs  ohr  (lästerte, 
eh  man  ihn  auf  »Ion  holzstofs  hob,  die  Vafbr.  54  und  Hervarar- 
i  c.  II  bekanntlich  doppelt  berichtet  wird,  deutlich  genug, 
wie  schon  oben  hervorgehoben  wurde  und  wie  schon  Müllenhofl 
so  nachdrücklich  betonte,  auf  die  in  v.  6*2  erzählte  widerkebi 
Baldrs  in  der  zukünftigen  rolle  Odins. 

Müssen  wir  somit  sämtliche  Zusätze  in  II  für  spätere  ziem- 
lich gleichartige  willkürliche  erQndungen  hallen  und  stellte  sich 
dabei  ebenfalls  schon  vorübergehend  heraus,  dass  auch  das  letzte 
privileg,  was  II  bisher  noch  über  R  hinsichtlich  der  stropben- 
ordnung  betreffs  v.  49  zu  behaupten  schien,  ebenfalls  sehr  ver- 
dächtig erscheint  —  ein  ergebnis,  das  spater  weitere  bestätigung 
erhalten  wird  — ,  so  verliert  diese  jüngere  handschrift,  soweit 
die  höhere  kritik  dabei  in  frage  kommt,  für  uns  praktisch  jeden 
wert,  nur  auf  dem  boden  der  Überlieferung  in  R  betrachten 
wir  daher  nunmehr,  von  der  letztgenannten  alhetese  von  v.  65 
ausgehend,  die  Ragnartikepisode  (vv.  45 — 66)  in  ihrer  gesamlheit, 
um  einen  klaren  blick  über  ihre  anordnung  und  künstlerische 
composition  zu   gewinnen. 

Unzweifelhaft  ist  nämlich  von  den  ergebnissen  unserer  zu- 
gammenfassenden  betracblung  über  die  Wertlosigkeit  der  hs.  II 
das  wichtigste  und  lorderndste  die  erkennlnis  von  der  unechlheit 
der  v.  65.  denn  es  kann  keinem  zweifei  unterliegen,  dass  ihre 
bisher  immer  im  rahmen  des  gedichts  als  berechtigt  und  sogar 
als  notwendig  behauptete  exislenz,  wie  verschieden  sich  auch  die 
gelehrten  zu  ihrem  Charakter  sonst  stellen  mochten,  das  haupt- 
hindernis  bildete  für  die  einheitlichkeit  der  schönen  schlussparlie 
vom  emportauchen  der  neuen  weit  aus  dun  fluten  (vv.  59 — 66). 
besonders  für  alle  die,  die  in  Müllenhofls  sinne  an  die  erklärung 
lies  gedichts  herantraten,  um  es  als  echt  heidnisches  und  alt- 
germanisches  erzeugnis,  wie  es  sich  dieser  im  Zusammenhang 
seiner  Deutschen  allerlumskunde  dachte,  weiter  zu  analysieren, 
bat  die  glanzende  Verteidigung  dieser  Strophe  durch  ihn  (DA.  v 
331)  und  ihre  ergänzung  durch  IlolTory  (Eddastudien  s.  L40) 
immer  etwas  erschweremies  gehabt,  laisächlich  stört  sie  allein 
die  harmonie  des  welterneuerungsabschnittes.  auch  hier  ist  es 
zum  mindesten  zweifelhaft,  oh  Müllenhoff  seine  zuversichtlichkeit 


252  NIEDNER 

in  der  betonuug  des  heidnischen  Charakters  der  Strophe  noch 
heule  festhalten  würde,  wo  der  junge  isländische  Charakter  der 
Völuspa  hin  skamma  feststeht,  deren  v.  65  nachgebildete  visa 
(Hyndl.  44)  pä  komr  annarr  enn  mötkare  : pö  pore  ek  eige  pann 
at  nefna  unter  der  falschen  Voraussetzung  von  dem  hohen  alter 
dieses  gedichls  eine  hauptslülze  seiner  beweisführung  bildete, 
schwerlich  hätte  er,  auf  den  oben  charakterisierten  Wortlaut  der 
Strophe  allein  gegründet,  bei  der  entscheidenden  Wichtigkeit,  die 
auch  er  der  widerkehr  ßaldrs  für  die  gestaltung  des  neuen  lebens 
beimafs,  einer  Untersuchung  unter  der  Voraussetzung  Baldrs  als 
des  gottes  der  neuen  weit,  für  die  durch  die  wolbegründete  tilgung 
von  v.  65  bahn  ward,  principiellen  widerstand  entgegensetzt, 
wenn  wir  Müllenhoff  so  stark  die  widerkunft  ßaldrs  als  nächst 
dem  erscheinen  des  höchsten  gottes  wichtigstes  ereignis  betonen 
sehen,  auch  bei  der  betrachlung  der  Vafbrudnismal  (DA.  v  245), 
und  anderseits  seine  geistvollen,  aber  nirgends  an  sich  beweisenden 
versuche  beobachten,  eine  Charakteristik  und  psychologische  er- 
klärung  des  neuen  herschers  zu  geben,  die  in  Hofforys  annähme 
(Eddastudieu  s.  140),  dass  in  ihm  der  alte  himmelsgolt  lrmintiu 
widerkehre,  ihren  sinnigsten,  aber  auch  unwahrscheinlichsten 
ausdruck  gefunden  haben,  dann  zeigt  sich  uns  selbst  in  seiner 
tiefdurchdachten  darstelluug  ein  riss.  zwischen  Baldr  und  dem 
obersten  herscher  klafft  eine  unüberbrückbare  lücke. 

Genau  dieselbe  Schwierigkeit  tritt  aber  ein,  wenn  man  v.  65 
im  Zusammenhang  des  gedichtes  für  die  darstellung  des  jüngsten 
gerichts  in  auspruch  nehmen  und  mit  den  umgebenden  vv.  64 
und  66  verknüpfen  will,  hier  kann  ich  mich  auf  Heinzel  be- 
rufen (Edda  s.  82).  mit  recht  bemerkt  dieser,  dass  die  vv.  64 
und  66  in  v.  65  keine  stütze  für  ihre  erklärung  finden  können, 
da  hier  der  gegensatz  nicht  ist,  dass  die  menschen  der  gegen- 
wärtigen unvollkommenen  weit  beim  jüngsten  gericht  nach  ihrem 
verdienst  strafe  oder  lohn  erhalten,  wie  es  die  christliche  lehre 
verlangt,  sondern  dass  alle  bewohner  der  gegenwärtigen  weit 
strafen  zugeführt  werdeu ,  wie  sie  v.  38  in  den  höllenstrafen 
schildert  —  wir  können  hinzufügen,  wie  sie  v.  45  brepr  mono 
berjask,  ok  at  bgnont  verpask,  mono  syslrunyar  sifjom  spilla  auch 
für  alle  zu  gründe  gegangenen  menschen  voraussetzt  —  :  alle 
menschen  der  neuen  weit  aber  sollen  in  ewiger  wonue  leben- 
und  der  schlagendste  beweis,  wie  wenig  sich  v.  65  in  dem  gegen- 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLI  SPA 

wärtig   überlieferten    zusammenhange   mit   w.  64    und  66   unter 
der  Voraussetzung  des  jüngsten  gericbts  zusammenfindet,  zeigt 
Notwendigkeit,   in  die  sich  Boer  aao.  s.  315  »ersetzt  siebt,   eine 
gewaltsame   Umstellung   vorzunehmen,     in    <I<t   tat   eine  seltsame 
reihenfolge   :    die    guten    werden    belohnt,    der    oberste    ricbter 

k 1 1 1    zum    gericht,    die    schuldigen    werden    bestraft!      wenn 

Boer,  um  die  von  ihm  gewünschte  Interpretation  der  stelle  zu 
erreichen,  diese  Umstellung  vorgenommen  hat,  hat  er  auf  eine 
erklärung  oder  molivieruog  ihrer  falschen  Stellung  in  II  ohne 
weiteres  verzichtet,  immerhin  seltsam,  da  er  doch  sonst  die  autorität 
dieser  hs.  nicht  principiell  verwirft  und  bei  der  schon  mehrfach 
erwähnten  v.  R  49.  II  11  dieselbe  nach  Bugges  Vorgang  ohne 
bedenken  acceptiert.  ich  meine  gerade  :  in  einem  so  entschei- 
denden falle,  wo  es  sich  um  die  frage  heimischen  sagengutes  oder 
christlicher  einflösse  handelt,  wäre  sie  unbedingt  notwendig  ge- 
wesen, indes,  ich  glaube,  sie  wäre  ihm  kaum  gelungen,  denn 
gerade  unter  der  Voraussetzung  des  gesamtchristlichen  Charakters 
von  w.  64.  65.  66  war  wol  eine  bewuste  Umstellung  oder  auch 
nur  nachlässige  Verwirrung  in  II,  die  den  christlichen  sinn  so 
töricht  entstellt  hätte,  so  unwahrscheinlich  wie  nur  möglich. 

Alle  die  —  von  welchem  gesichlspunct  auch  immer  —  die 
Schlusspartie  ^\c>  gedichts  in  ihrer  totalität  als  christlich  bezeich- 
neten, haben  diesen  durch  Hein/.el  aufgedeckten  liefgreifenden 
unterschied  zwischen  v.  65  und  ihrer  unmittelbaren  Umgebung 
nicht  gesehen,  von  den  drei  hauptversuchen  nach  dieser  richtung 
-eheidet  der  von  EHMeyer  (Voluspa  s.  218  ff)  für  uns  aus,  da  er 
in  dem  mit  seinem  gesamtstaudpuncte  zusammenhängenden  streben, 
das  ganze  gedieht  als  das  werk  eines  gelehrten  Christen  des  12  jh.s 
darzustellen,  soweit  ich  sehe,  in  der  Forschung  allein  geblieben 
ist  (s.  253  f).  ist  er  doch  selbst  Bugge  gerade  in  dieser  letzten 
partie  des  gedichts  in  seiner  mythischen  Christianisierungssucht 
zu  radikal  vorgegangen,  sehr  vielmehr  zu  denken  geben  natürlich 
dessen  einwände  gegen  den  heidnischen  Charakter  (The  home  of 
the  eddic  poems  s.  xxvinll).  aber  irgendwie  überzeugen  können 
sie  ebenfalls  nicht.  zunächst  sind  die  combinationen  von 
angeblich  christlichen  einflössen  alle  gewonnen  durch  das  medium 
einer  reihe  aus  dem  christlichen  England  entlehnter  fremdwörter, 
die  zum  teil,  wie  lüavöllr  und  Nitiavöllr,  strittig  sind,  zum  teil 
allerdings,    wie   'der   fliegende   drache'   in    v.  60    und   'die    halle 


254  N1EDNER 

Gimle'  der  v.  64,  diesen  einfiuss  verraten  :  aber  wie  kann  daraus 
in    diesen    beiden    letzten    lallen    (s.  xxxivf  und  xxxvif)   gefolgert 
werden,    dass  auch  die   in  den  einem  schon  christlichen  stamme 
angehörenden  Fremdwörtern  liegende  bedeulung,  selbst  wenn  sie 
dort   reiuehristlich    wäre,    nur    als   solche    entlehnt    sein  könnte. 
und  dann  sind  die  Zusammenstellungen    des  offenbar  neuen  Val- 
höllsaales  und  des  alten  heidnischen   Zerstörers  Nidhögg,    dessen 
auch  v.  37  erwähntes  beim  in   dieser  selbst  von  den  christlichen 
beanstandern  der  nachbarvisur  nicht  angefeindeten  Strophe  sicher 
nicht  christlich  gedacht  ist,    mit  dem  neuen  Jerusalem  uud  dem 
drachen  der  apokalypse  doch  würklich  nicht  so,  dass  sie  die  Über- 
zeugung notwendigen  Zusammenhanges  erweckten,    vor  allem  aber 
beweisen  sie  gewis  nichts  für  die  herkunft  dieser  Schlusspartie  als 
christlichen  gesamtbesitzes  aus  England,   da  sowol  Norweger  wie 
Isländer   auf   ihren    vikingerzügen   jenen  wortvorrat  —  das   ent- 
scheidende   beweismaterial    Bugges    —    sich    flüchtig    angeeignet 
haben    konnten    (vgl.    auch    Sijmons   Edda  i    s.  cclxxxvi).      wird 
doch  dasselbe  argument  angeblichen  christlichen  Charakters  dieser 
Schlusspartie  von  dem  dritten  der  hauptgegner  ihres  heidnischen 
Ursprungs    Björn    Magnüsson    Olsen    gerade  —  ebensowenig  an 
sich  überzeugend  —  für  die  isländische  heimat  des  ganzen  gedichts 
angeführt,    im  gruude  genommen  bleiben  von  seinen  ausführungeu 
(Timarit  15,  80 ff)  ja  nur  die  dyggvar  drötter  und  die  ynpe,   die 
sie  in  Gimle  geniefsen  sollen,  als  äufserlich  ausdrücken  in  christ- 
lichen   Zeugnissen    vergleichbar,     aber   es  wird    sich   nun    einmal 
nicht   beweisen    lassen,    dass    dyggr,   das   an  der  einzigen  stelle, 
wo    es    sonst    noch    in    der  Edda    vorkommt    (Beginsmal   v.  20), 
von  der  treuen    folge   des  doch  gewis  nicht  in  seinem  beabsich- 
tigten   werk    christlich    gesinnten  raben    «ebraucht  wird,    absolut 
den   prägnant   christlichen   sinn    'rechtschaffen',    den    ihm    Snorri 
unterlegt,  haben  müsse,    und    dass   die  drottar  dyggvar  dieselben 
wie  die  'guten  menschen'  im  glaubensbekenntnis  des  Stockholmer 
homilienbuches  sein  müssen,    oder  dass  die  ynpe,   die  an  andrer 
stelle  (Havamal  96)  die  jarlswonne,    die    der   höchste   heidnische 
gott    bei    seinem    Billingsmädcben    genoss,    darstellt,    hier    nur 
durchaus  die  wonue  der  rechtschaffenen  seelen  im  paradiese  sollte 
darstellen  können. 

Es  wird  vielmehr  die  alte  ansieht  Müllenhoffs  (DA.  v  30 — 37) 
hier  wol   zu    recht   bestehn    müssen  —  falls   man   nur  die  oben 


RAGNARÖK   l.N   DER   VÖLUSPA 

besprochene  parlie  ober  \.  65  ausscheide!  — ,  dass  echl  heid- 
oische  Vorgänge  in  diesem  neuen  götterheime  geschildert  werden, 
immerhin  hal  auch  er  Dach  meiner  aufrassung  noch  dem  dyggr 
eine  allzu  wenig  heidnisch  gefärbte  nebenbedeutung  beigemessen, 
und  auch  das  oben  genannte  törichte  vi  valtiva  von  Hask  be- 
lassen, indem  er  allzueifrig  «l.is  friedliche  m  dem  Charakter  der 
neuen  weit  urgierte.  ich  habe  mich  in  früheren  arbeiten  schon 
nachdrücklich  nach  jener  riebtun g  ausgesprochen,  und  merk- 
würdigerweise werden  die  typisch  heidnischen  züge  gerade  in  der 
ilcn  christlichen  Charakter  der  Schlusspartie  bezeugen  sollenden 
darstellung  Olsens  ins  rechte  licht  gestellt,  auch  er  erwähnt,  dass 
Schlachtengötter  in  der  neuen  Valhöll  wohnen  und  weisl  auf  den 
ausdrücklich  kriegerischen  namen  Bods,  i\w  nur  in  der  Ragnarök- 
darstellung  dieses  liedes  widerkehrt;  ja  er  gehl  sogar  so  weit,  in 
dem  adler,  der  auf  den  bergen  der  ueuentstandenen  weit  fische 
weidet,  eine  kriegerisch-unchristliche  Vorstellung  zu  erblicken,  er 
lieht  ferner  den  von  der  Snorra-Edda  so  stark  helonten  kriege- 
rischen  Charakter  von  Thors  söhn  Magni  hervor  und  fragt  mit  recht, 
was  denn  Magni  und  .Modi  in  den  Valihiudnismal  eigentlich  mit 
dem  bammer  ihres  vaters  in  der  neuen  friedlichen  well  anlangen 
sollen,  freilich,  um  den  unterschied  zwischen  beiden  gedichtet) 
zu  erweisen,  in  würklichkeil  sind  eben  die  kriegerischen  Odins- 
söhne in  der  Völuspa  und  die  kriegerischen  Thorssühne  in  den 
Vaflhrdunismal  vollkommene  parallelen,  und  der  Völuspadichter 
hat  sich  die  neue  bürg  Baldrs  nicht  anders  gedacht  wie  die  alle 
Odins  und  die  mannen  in  Gimle  eben  als  einherjar,  die  in  wonne 
leben,  wie  die  krieger  in  Ueowulfs  Ilrodgarhalle,  und  gewis  vom 
Waffenhandwerk  nicht  zu  trennen  sind,  soll  man  einem  harten 
schlecht,  wie  den  mannen)  der  Egils-  und  Njalssaga,  denen 
ßoer  (aao.  s.  358)  mit  recht  seinen  ersten  dichter  an  die  seite 
stellt,  nur  dass  mau  diese  Vorbilder  getrost  als  cullurelle  Voraus- 
setzung für  die  ganze  Völuspadichtung  in  anspruch  nehmen  kann, 
jedes  gefühl  für  weichere  Vorstellungen  absprechen?  sollte  auch 
bei  ihnen,  gerade  als  coulrast,  vorübergehnde  friedenssehnsucht, 
wenn  auch  gleich  wider  von  neuer  tatkraft  begraben,  nicht  zu 
denken  sein?  wol  kann  ein  bedeutender  dichter  dies  gefühl 
einmal  in  den  gedanken  des  künftigen  heidnischen  paradieses 
taghell  leuchtend  projiciert  haben,  aber  eine  schar  waffenloser 
heiliger   haben    sich   seine   landsleule  sicher  nicht  dabei  gedacht. 


256  NIEDRER 

alle  schuld,  alle  verderblichen  würkungen  des  kriegshandwerks 
wurden  weggedacht;  alle  wonneu,  alle  den  freien  mann  im  kriegs- 
spiel  ergötzende  beseligung  blieb,  die  form  des  alten  lebens  blieb 
in  der  phantasie  ßls  selbstverständliche  Voraussetzung  :  aber  die 
in  den  einherjarkämpfen  längst  vorbereitete  Vorstellung  eines  hei- 
teren, glücklichen  spiels  war  das  neue,  was  nun  ewig  sein  sollte, 
bei  dem  kurzen  prägnanten  stil  der  Völuspa  kommt  dies  daher 
allein  in  v.  64  zum  ausdruck  :  in  der  tat  keine  abschwächung 
der  in  Vafprudnismal  41  geschilderten  Vorgänge,  wie  Wilken  (Zs. 
f.  d.  ph.  33,328)  meint,  sondern  die  denkbarste  Steigerung,  gewis 
ist  in  all  diesem  kein  Widerspruch  in  der  dichterischen  phan- 
tasie. und  ein  reiner  logiker  ist  der  Vüluspadichter  eben  seiner 
ganzen  pythischen  Veranlagung  nach  ebensowenig  gewesen,  wie  die 
Vulva,  der  er  seine  tiefsinnigen  anschauungen  in  den  mund  legt. 

Ich  kann  demnach  auch  Björn  Magnüsson  Olsen  in  seiner 
polemik  gegen  FJönsson  (Literaturhislorie  s.  131  f)  insofern  nur 
völlig  beistimmen,  wenn  er  sich  gegen  dessen  auffassung  wendet, 
dass  die  heiden  sich  eine  ganz  unkriegerische  weit  consequent 
im  jenseits  aus  ihren  anschauungsbedingungen  heraus  hätten 
denken  müssen!  ja,  wenn  sie  abstracte  logiker  gewesen  wären, 
aber  unbewust  empfunden  haben  diese  überkriegerischen 
männer  als  contrast  eine  solche  weit  der  ruhe  gewis  tausendmal, 
und  so  konnte  ein  derartig  kriegerisch-unkriegerisches  jenseits  denn 
in  ihrer  phantasie  sehr  wol  die  Voraussetzungen  abgeben  für  ein 
bild,  dem  danu  ihr  gröster  dichter  in  der  Gimlestrophe  plastische 
gestalt  verlieh,  überhaupt  scheint  es  mir  doch  eine  verkennung 
des  künstlerischen  Charakters  des  gedichts,  wenn  FJönsson  es  als 
eine  bewuste  tendenzdichtung  hinstellt;  dass  die  Völuspa  dem 
Unglauben  entgegentreten  sollte,  kann  ich  ebensowenig  mir  vor- 
stellen, wie  dass  die  Lokasenna  eine  pädagogische  waruung  vor 
demselben  enthielte  (aao.  s.  135.  185). 

Ebensowenig  wie  der  tiefgreifende  unterschied  in  religions- 
philosophischer hinsieht  ist  aber  das  misverhältnis  zwischen  der 
v.  65  und  anderseits  den  vv.  64.  66  in  bezug  auf  die  technik  des 
aufbaues  genügend  gewürdigt,  die  dramatisch  abschliefsende  wür- 
kung  nämlich,  die  v.  66  beherscht  und  sie  geradezu  notwendig 
im  gedieht  macht,  wurde  durch  die  unechte  visa  vom  erscheinen 
des  höchsten  gottes,  die,  wie  ich  oben  hervorhob,  selbst  einen 
dramatischen  höhepunet  darstellte,   abgeschwächt   und  unpassend 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLÜSPA 

vorweggenommen  —  ein  grund  mit  für  mich,  seinerzeit,  unter 
der  Voraussetzung  der  ursprünglichkeil  von  v.  (>."..  die  würksame 
ausgangsstrophe  dem  gedicble  unberechtigter  weise  abzusprechen 
(Zs.  36,  282CT.  41,35). 

Einen  weitern  beweis  für  den  anders  zu  beurteilenden  Cha- 
rakter von  vv.  64.  00  und  v.  r>">  bildet  der  von  Wilken  (Zs.  f.  d.  ph. 
30,  45S)  mit  unrecht  geleugnete  parallelismus  von  vv.  iii — 66  mit 
37 — 39  des  zweiten  leiles  des  gedichts,  der  nach  Müllenhofl  dir 
gegenwarl  schildert,  dass  der  der  sonne  ferne  saal  in  Naströnd 
und  der  mit  gold  gedeckte  saal  auf  Gimle,  dass  ferner  die  durch 
die  eiskalten  ströme  watenden  Verbrecher  und  die  treuen  scharen, 
die   in   Gimle    hausen,     bewusle    ^re»ens.:il/.e    bilden,    darin    treffen 

uer  wie  HolTory  (aao.  s.  133)  und  Boer  (aao.  s.  314),  die 
doch  ganz  andre  beweisführungen  verfolgen,  zusammen,  auch 
dass  der  draehe  Nidhögg  in  v.  39  seine  entsprechung  hat  und 
dass  hier  ebenfalls  ein  hewuster  parallelismus  vorliegen  muss, 
ward  schon  hervorgehoben  und  ward  längst  heohachtet.  es  ist 
indes  völlig  unstatthaft,  aus  diesem  »runde  nur  vv.  3S  1  mit 
w.  64.  66  in  eine  engere  gruppe  zu  rücken,  die,  ohwol  sie  doch 
als  charakteristische  scene  die  vom  slandpunct  des  Germauen 
so  notwendige  wasserhölle  enthalten  (Müllenhoff  DA.  v  120), 
durch  den  christlichen  Charakter  auch  wider  den  besprochenen 
beargwöhnten  Strophen  dir  Schlusspartie  entsprechen  sollen,  denn 
der  parallelismus  von  v.  G4  wie  v.  66  ist  notwendig  auch  auf  die 
von  Boer  streng  von  v.  38  f  geschiedene  v.  37  auszudehnen,  und 
zwar  nicht  hlofs  in  dem  contrast  der  leichentäligkeit  ISidhöggs. 
der  nicht  gegensätzliche  parallelismus  von  v.  64  und  v.  37  ist  nicht 
zu  verkennen,  da  der  goldne  saal  von  Sindris  geschlecht  mit 
dem  goldgedeckten  saal  auf  Gimle  correspoudiert,  wie  der 
'biersaal  des  riesen'  offenhar  auf  ähnliche  Ireuden  deutet,  wie  sie 
in  der  idealisierten  weit  die  hewohuer  der  neuen  Walhall  erwarten 
werden,  fest  und  unauflöslich  schliefst  endlich  auch  beide 
Strophengruppen  in  ihrer  gegenseitigen  totalität  die  gleichuug 
Niüavellir  —  Nifiafjoll  zusammen. 

Damit  ist  nun  aber  auch  eine  feste  brücke  geschlagen  von 
den  endvisur  64  und  66  zu  den  eingangsvisur  (vv.  59 ff)  der 
schönen  schlusspartie,  da  diese  gauz  in  derselben  weise  auf  die 
eingangspartie  des  ganzen  gedichtes  (311)  zurückgreifen  und  auch 
hier    offenbar    lauter    bewusle    gegensätze  sich  finden,     hier  wir 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  17 


258 


MEDNER 


dort  treffen  die  Äsen  auf  dem  Idafelde  zusammen,  liier  wie  dort 
treiben  sie  das  fröhliche  bretspiel,  hier  wie  dort  gibt  es  ein 
goldnes  Zeitalter,  dieselben  ausdrücke  umschreiben  beidemal  die 
alte  wie  die  neue  olympische  Seligkeit/  und  der  parallelismus 
würde  noch  weiter  gehn,  wenn  wir  in  der  unvollständigen  v.  61 
statt  des  mit  Jöusson  in  seiner  ausgäbe  sicher  zu  streichenden 
elenden  lückenbüfsers  pars  i  drdaga  dltar  hofpo  den  ver- 
lorenen visuhelming  halten,  der  offenbar  das  goldne  Zeitalter 
weiter  ausmalte,  denn  der  schon  im  rhyibmus  wuchtige  nach- 
haltige ausdruck  mon  Baldr  koma  scheint  entschieden  mehr 
vorauszusetzen  als  die  andeutende  allerdings  sehr  charakteristische 
noiiz,  'dass  die  ä'cker  fortan  unbestellt  frucht  tragen  sollen', 
auch  die  scheinbare  abweichung  im  eingang  von  v.  59,  wo  er- 
zählt wird,  dass  die  erde  von  selbst  wider  aus  den  fluten  empor- 
taucht, während  sie  im  eingang  der  Völuspa  (v.  4)  von  Burs 
söhnen  aus  den  fluten  emporgehoben  wird,  ist  nicht  imstande, 
diesen  parallelismus  zu  zerstören,  wie  Olrik  (aao.  s.  279) 
richtig  bemerkt,  ist  das  naturphänomen  nur  so  zu  sagen  an 
zweiter  stelle  nackt  widergegeben,  während  es  an  erster  in  mytho- 
logischer umkleidung  auftrilt.  genau  derselbe  Vorgang  widerholt 
sich  ja  v.  57  in  der  mit  v.  59  correspondierenden  darstellung 
vom  untergange  der  weit,  wo  ebenfalls  nur  gesagt  wird,  dass  die 
sonne  zu  dunkeln  beginnt  und  die  hellen  Sterne  vom  himmel 
schwinden,  während  in  der  proleptischen,  dichterisch  so  würksamen 
v.  41  derselbe  nalurvorgang  {svgrt  verpa  sölskin)  unter  dem  bilde 
des  die  sonne  verschlingenden  Ungetüms  in  mythologisch  aus- 
führlicher Umschreibung  dargestellt  wird  (aao.  s.  272). 

Es  gehört  schon  eine  ziemliche  Voreingenommenheit  da- 
zu, wenn  Boer,  dem  bei  seiner  hypothese  von  einem  doppelten 
dichter  der  Völuspa  nach  seinem  eignen  geständnis  gerade  in  dieser 
farbenprächtigen  Schlusspartie  des  liedes  nicht  wol  wird  (s.  33S) 
bei  der  nicht  wegzuleugnenden  ähnlichkeit  der  Strophen  64.  66 
mit  w.  59 ff  in  der  absieht,  in  bewusten  gegensatz  zu  den  ab- 
schnitten des  liedes  vor  der  katastrophe  zu  treten,  sich  mit  dem 
auswege  hilft,  der  jüngere  dichter  (w.  62  ff)  habe  hier  eine  figur 
des  älteren  (w.  59  ff)  nachgeahmt,  für  jeden  unbefangenen  wird 
die  auffassung  die  nähere  sein,  dass  der  ganze  abschnitt  von 
w.  59 — 66  —  mit  ausnähme  natürlich  von  v.  65  und  auch  von 
v.  63,  auf  die  wir  gleich  zurückkommen  —  das  werk  desselben 


RAGNARÖK  IN  DER   VÖLUSPA 

dichlers  und  aus  einem  guss  isl  und  ebenso  einheitlich  auf  die 
vor  dem  Ragnarökabschnilt  liegenden  teile  des  gedieh tes,  den 
Müllenhoffschen  vcrgangenheiis-  und  gegen  war  tsabschniit,  zurück- 
!i.  denn  auch  v.  62  \> « ■  i s t  um  dem  kurzen  prägnanten  aus- 
druck  »ton  lUildv  koma  deutlich  auf  die  als  bekannt  voraus- 
gesetzte breil  und  liebevoll  ausgemalte  miltelpartie  des  liedes 
(vv.  31  —  35),  die  die  ganze  Baldrgeschiclite  umfasst,  —  insbesondre! 
wenu  die  von  uns  später  versuchte  ergänzung  ^ry  unvollständigen 
v.  36  das  richtige  triffl  — ,  als  die  Beele  und  den  Lebensnerv  des 
ganzen  liedes  zurück,  wenn  es  bei  diesem  wichtigsten  ereignis 
vor  dem  Weltuntergang  heilst  'Frigg  beweint  das  weh  Valhölls', 
und  wenn  hier  bei  dem  wichtigsten  ereignis  nach  der  well- 
erneuerung  Baldr  al>  einer  der  'Valtivar'  ausdrücklich  auf- 
gerührt wird,  so  isl  unschwer  zu  erkennen,  dass  auch  dii 
Wendungen  in  fester  und  bewusler  sprachlicher  correspondenz  stehn. 

Ebenso  verlang!  aber  Boer  meiner  auffassuog  nach  viel  be- 
dingungslose oachgiebigkeit,  wenn  mau  ihm  unter  der  Voraussetzung 
seiner  eben  genannten  hypolhese  in  der  annähme  folgen  soll 
dass  sein  sonst  streng  epischer  und  jede  lyrische  anwandlung 
verschmähender  erster  dichter  hier  plötzlich  am  schluss  in  v.  Gl 
empfindsam  weich  und  idyllisch  geworden  sein  soll  (aao.  s.  3441;, 
und  man  fragt  unwillkürlich,  wenn  der  schluss  dieses  älteren 
liedes  hinter  v.  61  unterdrückt  sein  sollte,  in  welcher  Stilart 
dieser  nun  eigentlich  gelautet  haben  möchte?  empfindet  da 
nicht  Olrik,  der  die  souveräne  meisterschaft  des  dichlers  seinem 
Stoff  gegenüber  widerholt  so  treffend  darstellt,  viel  richtiger,  wenn 
er  die  Schaffensfreude,  welche  die  ganze  schlusspartie  durch- 
zieht, in  den  schönen  worten  charakterisiert  (s.  280):  'Her 
hvor  de  andre  kilder  forslumme,  pä  tserskelsen  til  det  nye 
verldensliv,  synes  Voluspädigteren  fortrolig  med  all;  bans  ilemle 
stil  ombyltes  med  rolig  udmaling;  her  elsker  haus  fantasi  at 
dvaele'.  sicher  ligt  grade  die  Stilverschiedenheit  hier  am  seh! 
in  der  sache  seihst,  und  bei  aller  einheitlichkeil.  des  mythologischen 
Zusammenhangs  erfordert  diese  gradezu  eine  mannigfach  abgetonte 
stilistische  darstell ung.  und  wie  hatte  der  dichter  kunstmittel, 
über  die  er  nach  dieser  seite  so  überreich  gebietet,  nicht  ver- 
schwenderisch gebrauchen  sollen! 

Ein  solches  und  zwar  besonders  virtuoses  mittel  ist  meiner 
Überzeugung  nach  auch  das  häufige  fulurische  mon,  das  Boer  (s.341) 

17* 


260 


iMEDiNER 


hauptsächlich  als  beweisrailtel  für  die  partieen  des  jüngeren  dichlers 
verwertet,  mir  scheint,  gerade  in  seiner  verschiedenartigen  Ver- 
wertung zeigt  sich  eine  besonders  weise  Ökonomie  der  dichtung. 
es  tritt  im  gedieht  zum  ersten  male  auf,  wo  tatsächlich  zum 
erstenmal  von  der  Zukunft  berichtet  wird  (v.  45  brepr  mono 
berjask),  und  bildet  für  mich  mit  eine  der  festesten  stutzen  für 
die  allein  berechtigte  dreileilung  des  gedichls,  die  Müllenhoff  so 
glänzend  begründet  hat.  und  wenn  es  der  dichter  hier  zum 
ersten  mal  ausgiebiger  bei  dem  erscheinen  ßaldrs  verwendet,  so 
hat  dies  seinen  sehr  guten  und  wolerwogenen  grund.  denn  das  er- 
scheinen des  höchsten  gottes  Baldr,  des  Odin  der  neuen  weit, 
der  sich  gleich  darauf  mit  seiner  saldrött,  der  elite  der  neuen 
gotter-  und  menscheuwelt,  wie  Valhölls  bewohner  in  der  alten, 
einrichtet,  stellt  allerdings  eine  Zukunft  in  der  Zukunft  dar. 
sehr  fein  eingeleitet  wird  dieser  Übergang  durch  das  prägnante 
mono  epter  (v.  61),  das  aus  der  Zukunft,  die  mit  v.  45  begann, 
und  deren  letztes  bild  die  nach  der  Zerstörung  der  weit  wider- 
kehrenden und  wol  noch  halb  traumhaft  von  der  Vergangenheit 
redenden  götter  (v.  60)  waren,  zu  der  zukunft  in  der  zukunft 
hinüberführt,  in  der  sie  bereits  wider  zu  in  alter  olym- 
pischer ruhe  dahinlebenden  göttern  (v.  61)  geworden  sind,  ich 
werde  auf  die  ungeheure  differeuzierungsfähigkeit  des  Yöluspa- 
dichters  in  der  Zeitendarstellung  noch  in  anderm  zusammenhange 
zurückzukommen  gelegenheit  haben  :  für  die  hypothese  eines 
älteren  und  jüngeren  dichters  scheint  sie  mir  einen  sehr  geringen 
stützpunet  abzugeben,  da  gerade  die  angeblichen  disharmonieen 
der  schlusspartie  bewundernswerte,  ja  die  bewundernswertesten 
künstlerischen  leistungen  im  ganzen  gedieht  überhaupt  darstellen. 
Ist  es  doch  auch  kaum  möglich  einen  riss  oder  eine  naht, 
wie  Boer  sich  auszudrücken  pflegt,  festzustellen,  wo  diese  doppelte 
dichtertätigkeit  oder  auch  zwiefache  recension,  wie  man  es  nun 
am  bezeichnendsten  nennen  mag,  sich  deutlich  verriete,  der  beste 
beweis  ist,  dass  eine  solche,  wo  sie  aufzudecken  versucht  wurde, 
bald  vor,  bald  hinter  die  Baldrstrophe  gerückt  ward,  ich  selbst 
habe  (Zs.  41,  39  f)  bei  meiner  damaligen  annähme  einer  doppelten 
recension,  die,  wie  schon  bemerkt,  die  irrtümliche  annähme  des 
heidnischen  Charakters  von  v.  65  zur  Voraussetzung  halte,  die 
Baldrstrophe  62,  1 — 4  noch  zur  ersten  fassung  gezogeu,  in  dem 
instinktiv  richtigeu  gefühl,    dass  Baldrs  herschaft  einmal  ein  be- 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLI  SPA  261 

sondrer  liedabschluss  gewesen  sein  müsse  —  was  nunmehr,  \\<> 
die  interpolatioa  vom  höchsten  unbekannten  gölte  beseitigt  ist, 
durch  das  gedieht  selbst  erhärtet  ward.  Boer  hat  den  einschnitt 
vor  der  Baldrstrophe  versucht,  andere  endlich,  besonders  die 
Vertreter  der  apokalyptischen  oder  sibyllinischen  bypolhesen, 
haben,  wenn  sie  die  jüngere  zudichtung  nicht  auf  den  ganzen 
abschnitt  vv.  59 — 66  ausdehnten,  auch  wol  erst  von  v.  64  ai> 
ihren  beginn  datiert,  ein  einheitlicher  trennungspunet,  der 
kritisch  überzeugend  wäre,  ist  aber  nie  nachgewiesen  worden, 
weil  er  eben  nicht  existiert,  v.  62  schliefst  sich,  mag  immerhin 
einiges  aus  der  Schilderung  des  neuen  goldnen  Zeitalters  dort  aus- 
gefallen sein,  dem  sinne  nach  doch  vortrefflich  an  das  folgende  an, 
und  mein  früheres  bedenken,  dass  ein  mis Verhältnis  obwalte  zwischen 
der  angäbe,  die  Baldr  erst  schlechthin  kommen  lässt  und  dann 
ihn  nehen  oder  gar  nach  IIOiI  erwähnt,  vermag  ich  nicht  mehr 
aufrecht  zu  erhalten,  dass  Baldr  zunächst  als  herscher  allein 
tannt  wird  und  dann  zusammen  mit  dem  bruder,  mit  dem  er, 
wie  alle  andern  gülter  bekanntlich  in  den  Ragnaröküberlieferungen, 
paarweise  widerkehrt  —  und  mit  wem  als  diesem  sollte  er  sonst 
paarweise  widerkehren  —  dann  ligl  gewis  nichts  auffallendes. 
würde  man  denn,  wenn  etwa  die  drei  allen,  mythologisch  so  oft 
zusammengestellten  gotter  Odin,  Thor.  Frey  in  irias  wider- 
kehrten, und  dabei  Odins  berschaft  in  ahnlicher  weise  vorher 
angekündigt  würde,  darin  etwas  absonderliches  erblicken 7  ich 
kann  daher  weder  wie  in  meiner  genannten  frühem  arbeit  jelzt 
noch  mit  der  gangbaren  Vorstellung  ein  ärgernis  daran  nehmen, 
dass  der  loter  Baldrs  mit  diesem  in  der  neuen  weit  in  eintracht 
widerkehrt,  noch  auch  mit  Boer  gerade  darin  eine  so  tiefpoetische  auf- 
fassung  des  gedichts  linden,  dass  nach  ihm  der  schuldig-unschuldige 
Hüd  mit  dem  unschuldigen  Baldr  dieselbe  herscherehre  geniefseu 
soll  —  beidemal  ist  ein  reflectierender  accent  auf  das  Verhältnis 
der  beiden  gölter  gelegt,  der  dem  Völuspadichtcr  sicher  fremd 
war  :  wie  sonst  die  beiden  radier  Vidar-Vali,  wie  die  beideu 
Thorssohne  Magni  und  Modi,  so  gehören  naturgemäfs  auch  die 
beiden  Odinssöhne  in  der  neuen  weit  zusammen,  bildet  doch 
die  bemerkung,  dass  Baldr  mit  Viid  Hropts  siegreiche  gehöfte 
bewohnt,  zugleich  die  beste  und  unauffälligste  Überleitung  zu 
seiner  'saldröll',  die  dann  in  v.  64  des  genaueren  geschildert  wird. 
An  die  echlheit  des  visuhelmings  btia  Bgpr  ok  Baldr  Hröpts 


262 


MED.NEJt 


sigiopler,  vel  valtivar  :  vitop  enn  epa  Jwatl  ist  also  nicht  zu 
tasten,  und  wenn  Boer  ihn  aus  der  Strophe  ausscheidet  und 
v.  63,  3-  4  ok  burer  byggva  bre'ßra  tveggja  vindheim  vipan;  vilop 
enn  epa  hoat?  als  augebliche  Variante  au  ihre  stelle  setzt,  so  dass 
die  worte  bedeuten  'die  sühne  der  beiden  hrilder,  dh.  Hüds  und 
Baldrs'  sollten  den  himmel  bevölkern,  so  hegeht  er  einen 
doppelten  schweren  irrtum.  zunächst  sind  es  die  auch  nach 
seiner  aulTassung  durchaus  älteren  Zeilen,  die  er  zugunsten  jener 
angeblich  jüngeren  Variante  aus  dem  Völuspatext  ausscheidet, 
mit  der  seilsamen  motivierung,  dass  die  ältere  Variante 
nachträglich  aus  einer  andern  darstellung  der  Völuspa  wider  auf- 
genommen sei.  eine  sehr  unwahrscheinliche  für  mich  den  ein- 
diuck  der  höchsten  künstelei  machende  annähme,  die  dadurch 
kaum  glaubhafter  wird,  dass  er  sich  für  sie  auf  einen  angeblich 
zweiten  fall  dieser  art  in  der  mitte  des  gedichtes  bei  der  dar- 
stellung der  Odin-Yggdrasil-Mimir-episode  (s.  294 ff.  36Sf.),  auf  die 
wir  später  zurückkommen,  berufen  zu  können  meint,  auf  derartige 
unwahrscheinliche  hypothesen  hin  eine  gute  alte  halbstrophe  im 
überliefertem  zusammenhange  zu  beseitigen,  erscheint  mir  aber 
eine  arge  gewaltsamkeit.  sodann  aber  setzt  sich  Boer  durch 
diese  erklärung  mit  der  noch  immer  besten  erläulerung  unsres 
visuhelmings  in  Widerspruch,  die  die  Grundtvigsche  auffassuug 
des  Tveggja  als  genetiv  des  eigennamens  Tveggi-Odin  zur  Vor- 
aussetzung hat,  in  der  Müllenhoff  mit  recht  (DA  v  156)  eine 
erlösende  tat  sah.  ihr  gegenüber  erscheint  mir  die  deutuug 
von  byggva  burer  brepra  tveggja  in  dem  sinne,  dass  die  söhne 
der  beiden  hrilder  (dh.  Baldrs  und  Höds)  nunmehr  den  himmel 
•bevölkern,  gewis  ebenso  künstlich,  wie  Olriks  annähme  (aao. 
s.  264),  die  ebenfalls  tveggja  als  genetiv  pluralis  des  Zahlwortes 
voraussetzt,  die  beiden  brüder  mit  Hönir  zusammenbringt  und 
demnach  an  söhne  Lodurs  und  Odins,  welch  letzterer  dann  Vidar 
sein  soll,  denkt  —  was  schon  deswegen  unwahrscheinlich  ist,  weil 
Vidar  bekanntlich  sonst  in  Hagnarökmythen  mit  Vali  zusammen 
widerkehrt. 

Immerhin  hat  die  erklärung  Olriks  doch  der  engen  Zu- 
sammengehörigkeit der  beiden  helmingar  der  v.  63  rechnuug 
gelragen,  wenn  er  auch  die  echlheit  der  einzigen  langzeile  der 
ersten,  defecten  halbstrophe  pd  knä  Honer  hlautvip  kjösa  dabei 
voraussetzt,     dass    diese    aber    der    ganzen    anläge    und  idee  des 


RAGNARÖK  IN  ULK  VÖLÜSPA 

1  jedes  oach  hier  niemals  ursprünglich  gewesen  seiu  kann,  darin 
stimm  ich  Boer  durchaus  bei  :  nur  mein  ich,  dass  die  be- 
hauptete unechtheil  auf  die  ganze  visa  auszudehnen  ist.  beide 
hallten  sind  augenscheinlich  ergänzungen  eines  interpolalurs,  und 
zwar  glaub  ich,  ist  es  beidemal,  auch  unabhängig  von  der  fraj 
<>li  sie  ursprünglich  seihst  zusammenhängen,  oichl  schwer  zu 
verstehn,  nach  welchem  musler  dieser  die  beiden  gölierpaare 
Iner  einfügen  zu  müssen  glaubte,  das  vorbild  war  für  ihn,  der 
offenbar  durch  die  erwähn ung  von  Baldr  und  Höd  (v.  62)  auf 
den  irrtümlichen  gedanken  gebracht  wurde,  dass  hier  eine  kata- 
logisierung  von  götlern  beabsichtigt  sei,  die  erwähnung  von 
Burs  Bühnen  (v.  1).  was  lag  für  ihn  näher,  als  nach  dein  aus- 
scheiden Odins  durch  den  Weltuntergang  an  dieser  stelle  die 
reste  der  beiden  triade'n  Odin-Hönir-Lodur  und  Odin-Vili-Ve, 
die  beide  schon  im  gedichte  vorher  angedeutet  waren,  bei  der 
widerkebr  der  gölierpaare  in  erinnerung  zu  bringen,  es  kann 
dabei  an  sich  ganz  dahingestellt  bleiben,  ob  er  etwa  die  ebenfalls  aus 
ähnlichem  gründe  sicher  interpolierten,  wenn  auch  gewis  nicht 
jungen  w.  171' von  der menschenschüpfung  schon  vor  äugen  hatte: 
in  diesem  falle  würde  es  doppelt  begreiflich  sein,  dass  er  die 
gültertrias  in  ihrer  altern  und  Jüngern  form,  die  in  zwiefacher 
Bchüpfertätigkeit  bereits  eine  so  grundlegende  rolle  in  der  alten 
weit  gespielt  hatte,  nun  auch  bei  der  constituierung  der  neuen 
Würdig  vertreten  sein  lassen  wollte  indes  v,  1,  also  der  echte 
teil  des  gedichts,  genügte  doch  schon  völlig  für  diese  seine  ab- 
sieht ,  und  nichts  hindert  uns  anzunehmen,  dass  in  v.  63  eben- 
falls wie  in  v.  17  reste  eines  alten  kosmologisch-eschatolngischeu 
gedichtes  in  den  gang  des  alten  liedes  aufgenommen  wurden. 
auf  keinen  fall  gehören  die  gölterpaare  hier  in  die  neue  weh 
hinein,  wenigstens  nicht  mit  namen.  denn  in  dem  punet  hat 
Boer  natürlich  recht,  dass  eine  aufzäblung  von  dem  dichter,  der 
w.  59  ff  die  widerkehr  der  götter  im  allgemeinen  schilderte, 
hier  unmöglich  beabsichtigt  sein  konnte,  erst  zu  erzählen,  dass 
die  götter  zurückkommen,  dann  ihr  treiben  zu  schildern,  darauf, 
dass  Baldr  zurückkehre  zur  herschaft,  und  dann,  dass  eine  be- 
stimmte reihe  gölter  widerkomme,  ist  ein  unding,  und  eine 
solche  Stümperei  hat  mau  kein  recht  dem  Völuspadichter  zu- 
zutrauen, es  bleibe  dabei  dahingestellt,  inwieweit  solche  zusätze, 
besonders    die  hindeutung  auf  Vili  und  Ve,    die  ja  aufsei  lieh  an 


264  MEDNER 

die  christliche  trinilät  erinnern,  durch  misverständliche  aulfassung 
mit  der  ausgangspunct  geworden  sind  für  derartige  christliche 
Wucherungen,  wie  sie  in  II  65  und  der  Fortsetzung  der  papierhss. 
vorliegen,  der  ausdruck  vindheim  vißan  gibt  nach  dieser  richtung 
zu  denken. 

Es  kommt  übrigens  hinzu,  dass  auch  die  auswahl  der 
gölter,  die  v.  63  widerkehreu  lässt,  trotzdem  diese  im  gedieht 
genannt  waren,  wenn  schon  einmal  eine  katalogisierung  beab- 
sichtigt war,  sicher  vom  Völuspadichter  ganz  anders  eingerichtet 
worden  wäre,  der  für  die  frage  der  composition  so  fein  ver- 
anlagte halte  sicher  Thors  sühnen  Modi  und  Magni  nach  dem 
eben  geschilderten  Schicksal  des  vaters  eher  einen  platz  angewiesen, 
als  dem  unglücklichen  Hönir,  der  für  die  echten  teile  des  ge- 
dichts  gar  keine  rolle  spielt,  wenn  auch  seine  widerkehr  im 
Ragnarökmylhus  an  sich  durch  eine  merkwürdige  parallele  ge- 
stützt sein  mag  (Olrik  aao.  s.  281).  geradezu  gefordert  muste 
dann  aber  werden  das  neuerscheinen  Valis  und  Vidars.  beide 
treten  an  entscheidenden  wendepuneten  des  gedichts  (vv.  33  u.  55) 
in  visur,  die  gewis  mit  unrecht  von  Müllenhoff  getilgt  wurden, 
als  rächer  der  höchsten  götter  Baldr  und  Odin  auf,  und  wenn 
überhaupt  andre  Äsen,  so  hatten  sie  das  recht  neben  Baldr  und 
Hod  zu  erscheinen,  aber  der  dichter  überliefs  eben  das  bild 
des  neuen  olymps  sich  auszumalen  seinen  hörern.  nur  das  mag 
noch  hervorgehoben  werden,  dass  er  sich  kaum  eine  so  um- 
fassende widerkehr  gedacht  haben  wird,  wie  sie  ßoer  annimmt, 
der  nur  die  gefallenen  hauptgölter  Odin,  Thor  und  Frey  abzieht 
(aao.  s.  341).  er,  der  nie  einen  strengen  unterschied  zwischen 
göttern  und  menschen  machte,  wird  bei  dem  Strafgericht,  das 
nach  den  v.  45  geschilderten  Vorgängen  hereinbricht,  wonach 
alle  menschen  den  Helweg  antreten  müssen,  kaum  eine  Schuld- 
losigkeit der  götter  in  solchem  umfauge  angenommen  haben. 

Das  gemälde  der  schlusspartie  (vv.  59.  60.  61.  62.  64.  66) 
entrollt  uns  so  in  grofsartiger  weise,  wie  wir  gesehen  haben,  die 
erneuerung  der  weit  vom  auftauchen  der  verjüngten  erde  bis 
zum  ewig  glücklichen  leben  in  der  neuen  Walhall,  und  wir 
sehen  jetzt,  nach  tilgung  der  lästigen  interpolation  v.  63,  erst, 
wie  voi treulich  dieses  leben  in  der  neuen  götterburg,  wo  widerum, 
wie  in  Odins  halle  einst,  götter  und  menschen  zusammenhausei), 
in  den  vorausgehenden  echten  Strophen  vorbereitet  wird,    wie  das 


RAGNARÖK  I.N  DER   \<>LISI'\ 


265 


ni'iie  goldoe  Zeitalter  der  götter  unmittelbar  zu  dem  neuen  goldnen 
Zeitalter  der  menschen  überleitet,  wo  die  Felder  uogesäel  tragen, 
—  so  leitet  das  Walhall-Iebeo  der  ueuen  götter  in  v.  62  ebenso 
unmittelbar  und  ungezwungen  das  Walhall-leben  der  neuen 
menschen  in  ».64  ein.  in  der  mitte  beider  partieen  ahn-,  alles 
überragend,  stein  die  gestall  Baldrs,  dessen  bedeutsamkeit  für  die 

neue   weit   in    der   mittelpartie   des   gedichtes   SO   glücklich   und  mit 

ungewöhnlicher  epischer  breite  vorbereitet  ist:  seine  gestall  knüpft 

die    vv.    ,")'.l  — lil     und    04 — 6(3     unveräufserlich    aneinander,      und 

dann  der  prachtvoll  düstere  und  doch  heitere  abschlussl  zu  den 
Ragnarök  will  der  dichter  eben  auch  diese  partie  gerechnet  wissen. 
der  ausdruck  passt  an  sieh  zur  Weiterneuerung  wie  zur  kata- 
strophe.  auch  jene  gehurt  ja  'zu  dem  grofsen  geschicke  der 
gülter  und  menschen'. 

Dass  der  dichter  tatsächlich  die  besprochene  Schlusspartie  des 
gedichts  noch  in  den  Ragnarökabschnitt  einbegriffen  wissen  wollte 
und  somit  nicht  nur  die  Ragnarökepisode  im  eigentlichen  sinne 
(R  17 — .">1),  —  db.  den  abschnitt,  der  durch  die  sonst  landläufige 
auffassung  des  namens  (Olrik  aao.  s.  203)  charakterisiert  und 
und,  mit  dem  zusammenstofs  der  götter  und  riesen  anhebend,  in 
der  Vernichtung  der  weit  endete  —  unter  diesem  begriff  zu- 
sammenfasste,  vielmehr  diesen  sogar  noch  auf  die  unheilkündende 
Vorgeschichte  (R  41 — 16)  ausdehnte,  zeigt  klar  und  deutlich  die 
Überlieferung  von  R  selbst,  an  die  wir  uns  allein  zu  halten  haben, 
wenn  wir  uns  jetzt  zur  betrachtung  des  gesamtabschnittes  von 
v.  11  an  wenden,  die  Strophe  nämlich  Geyr  Garmr  mjok  fijr 
Gnipahelle  :  festr  mon  slitna,  en  freke  riiina,  fjolp  veit  frepa, 
fram  sek  Jengra  umb  ragna  rok ,  rgmm  sigliva  kehrt  dreimal, 
und  zwar  genau  an  den  stellen  wider,  wo  diese  Ragnarök  im 
weitem  sinne  entscheidende  gedankliche  abschnitte  aufweisen,  das 
erste  mal  (v.  43)  leitet  sie  die  unheilkündenden  aufruhrscenen  in 
der  sittlichen  weit  und  der  natur  ein,  die  der  kataslrophe  un- 
mittelbar vorangeht),  das  zweite  mal  eröffnet  sie  die  Vernichtungs- 
episode selbst  (v.  46).  das  dritte  mal  endlich  leitet  sie  den 
besproebnen  schlussact  des  grofsen  Zukunftsbildes  ein  (v.  5ü). 
das  kann  kein  zufall  sein,  sondern  es  war  die  planmäfsige  ab- 
siebt des  dichter?,  durch  diese  jedesmalige  hindeutung  auf  den  ge- 
fährlichsten  und,  so  zu  sagen  mythisch-populärsten  feind  der  gölter 
und    menschen    die    kommende    wie   die  überwundene  gefabr  in 


266  MEDNER 

diesem  plastischen  momentbilde  auch  im  ersten  und  dritten  teil 
des  erweiterten  Raguarökabschnittes  gegenwärtig  zu  halten ,  um 
durt  die  Spannung  auf  die  kommende  tragödie  möglichst  zu  er- 
höhen, hier  durch  nochmalige  hervorhehung  des  düsteren  gegen- 
satzes  im  schönsten  eiuverständnis  mit  v.  66  den  wert  und  das 
glück  der  erneuerten  weit  um  so  nachdrücklicher  und  greifbarer 
hinzustellen.  sie  ist  also  keineswegs  ein  hlofses  ornament, 
als  das  sie  II  zu  verwenden  scheint,  die  sie  nicht  nur  vor 
v.  41  R  unpassend  vorwegnimmt,  wo  vom  wesen  der  Ragnarök 
überhaupt  noch  nicht  die  rede  ist,  sondern  sie  auch  dann  noch 
einmal  zwischen  R  51  und  53,  wo  von  den  beiden  grofsen 
götterkämpfen  mit  den  Ungetümen  die  rede  ist,  an  möglichst  un- 
passender stelle  einflicht  :  vielmehr  ist  sie  in  dem  erwähnten  sinne 
ein  integrierender  teil  der  handlung  selbst,  nirgends  scheint  mir 
Roer  bei  der  lilgung  von  stefstrophen,  die  er  ja  überall  im  ge- 
dieht vorzunehmen  sucht,  so  unglücklich  zu  sein  wie  gerade  hier, 
denn  seine  beiden  hauptgründe,  warum  er  die  Strophe  nur  vor  v.  50, 
wo  sie  natürlich  als  einleitung  zur  katastrophe  selbst  stehn  muss, 
lassen  will  (aao.  s.  331  fj,  stützen  sich  einerseits  auf  die  hand- 
schrift  H,  wo  die  nur  an  einer  stelle  vollständig  mitgeteilte 
Strophe  aber  keinesfalls  beweisen  kann,  dass  nicht  auch  ihr 
zweiter  teil  als  stef  verwant  wurde,  anderseits  auf  die  behauptung, 
dass  die  visa  kein  typisch  zusammenfassender  ausdruck  für  die 
katastrophe  sein  könne,  die  durch  unsere  obigen  ausführungen 
widerlegt  ist. 

^'ir  haben  gesehen,  wie  Roers  versuche  in  der  Schlusspartie 
auf  grund  von  allgemein  cullurhistorischen  gesichtspuneten  das 
schöne  schlussbild  in  die  werke  zweier  dichter  zu  zerreifseu, 
weder  in  den  ergebnissen  seiner  einzelkritik  noch  in  seinen 
stilistischen  erwägungen  eine  überzeugende  Unterstützung  fanden, 
auch  hier  kann  ich  seinen  athetesenversuchen,  soweit  sie  mit 
seiner  theorie  eines  älteren  und  jüngeren  dichters  zusammen- 
hängen, in  keiner  weise  zustimmen,  dass  Roer  neben  der  oben 
erwähnten  prachtvollen  malerischen  refrai  u Strophe  auch  die 
v.  47,  1 — 4  dem  ältesten  teil  des  gedi'chtes  abspricht,  ligt  in 
derselben  richtung  einer  Unterschätzung  der  bedeutsamkeit,  die  der 
fesselung  und  befreiung  des  wolle»  auch  sonst,  als  landläufig-typi- 
sches ereignis  der  Ragnarök,  beigemessen  wird,  die  worle  Skelfr 
Yggdraseh   askr  standande,    ymr  et  aldyia  tre,    en  jgionn  losnar 


RAGNARÜK   l.\    DER   \«>l.l  SP.A 


gelin  in  der  handschriftlichen  Überlieferung  \<>n  |;  unmitleibai 
der  katastrophe  voraus,  enthalten  also  genau  dieselbe  prägnante 
tendenz  wie  die  slefstrophe,  die  sie  vorbereiten,  und  dass  \.  15 
dem  einheitlichen  gefüge  der  RagnarOkpartie  nicht  fehlen  kann, 
ist  Bchon  widerholl  hervorgehoben:  die  schluss-strophen  des 
ganzen  gedichtes  stebn  ja  mit  ihr  im  engsten  Zusammenhang 
übrigens  erleiden  auch  di«'  gegen  den  heidnischen  Charakter  dei 
Btrophe  erhobenen  bedenken  eine  weitere  wesentliche  eio- 
schränkung,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  dass  es  lediglich 
die  heiligsten  familieninstitutionen  der  alten  Germanenwelt  sind, 
en  die  hier  gefrevelt  wird  (Müllenhoff  DA.  v  140),  und  dass 
alle  bedenken  fortfallen,  wenn  man  von  der  eingeschränkten  be- 
deutung,  die  dem  mono  systrungar  sif/om  spilla  im  hinblick  auf 
die  verbotene  verwantenehe  beigelegt  ist1,  absiebt,  was  mir  durchaus 
natürlich  erscheint. 

Anders  ligts  für  mich,  wie  ich  schon  früher  angedeutet 
habe,  hei  einer  alhelese  Boers,  die  einen  würklichen  späteren 
znsatz  ans  dem  gefüge  des  eigentlichen  Ragnarökabschnitts,  nicht 
zu  dessen  schaden,  ausscheidet  :  ich  meine  seine  reconstruetion 
von  \.  53  K  (s.  306).  mit  recht  hebt  er  hervor,  dass  dort  die 
worte  drepr  kann  af  mö/ie  mijijnrps  veor  sich  weder  stilistisch 
noch  inhaltlich  im  überlieferten  zusammenhange  erklären  lassen, 
und,  wenn  sie  lallen,  trotzdem  der  sinn  bleibt,  dass  Thor  die 
schlänge  tütete,  aber  spater  selbst,  von  ihrem  gift  gelotet.  Bei, 
ohne  jede  misdeutung.  ja  der  ausdruck  gewinnt  unzweifelhaft 
an    prägnanz,    wenn    gerade  der  zug,    der  unterstrichen  werden 

1  besonders  nachdrücklich  von  'Olsen  Um  Krislnilöliuna  s.  5S,  wo  diese 
deutung  neben  den  oben  hervorgehobenen  angeblich  christlichen  einflüs! 
fiir  die  späte  daüening  der  Völuspa,  zwischen  997  und  1000,  wo  die  ent- 
scheidenden Vorgänge  für  den  sieg  des  Christentums  sich  abspielen,  verwant 
wird,  so  sehr  ich 'Olsen  in  der  annähme  isländischen  einflusses  in  den  vul- 
kanischen Anspielungen  des  gedieh ts  beipflichte,  so  wenig  glaub  ich,  dass 
auch  diese  für  eine  so  späte  abfassungszeit  des  liedes  sprechen,  wo  jene 
kirchlichen  verböte  besonders  acut  wurden,  die  seine  deulung  unserer  zeile 
voraussetzte,  du^s  sif/om  spilla  im  Müllenhoflschen  sinne  aufzufassen  ist 
als  parallele  zu  brv]>r  mono  berjask  halt  ich  für  durchaus  wahrscheinlich. 
die  sittliche  Verwirrung  nach  jener  andern  seite  gibt  hördömr  tnikell  viel  bes 
und  drastischer  an.  die  Schlusszeile  mon  nigi-  mapr  pprom  Pyrma  zi  a  . 
dass  die  Vernichtung  des  gcschlechts  durch  gewalttal  die  leitende  auf- 
iung  war.  wie  bedeutsam,  dass  auch  Snoni  (vgl.  Heinzel  5  die  stelle 
auf  den  mord  an  verwanten  deutete! 


26^  INIEDKEIl 

muss  (Olrik  aao.  s.  20S),  dass  nämlich  Thor,  als  die  schlänge  fällt, 
noch  leht  —  da  er  keinen  rächer  im  gedieht  hat  — ,  so  einseitig 
hervorgehoben  würde.  Boer  selbst  vergleicht  aufserdem  aao.  mit  recht 
die  kürze  und  prägnanz  der  darstellung,  die  nach  der  athetese  von 
z.  3  f  eintreten  würde,  mit  der  des  ersten  teiles  in  den  vv.  25  und 
26,  die  ja  von  einem  parallelen  ereignis  aus  der  vorzeit,  dem  kämpf 
der  gütter  gegen  die  riesen,  aus  anlass  der  erbauung  der  Asen- 
burg,  handeln,  es  darf  vielleicht  noch  ergänzend  hinzugefügt 
werden,  dass  der  bedeutsame  gott,  wie  es  ihm  nach  dem  mythus 
zukam,  zwar  beidemal  stark  und  charakteristisch  hervorgehoben 
wird,  aber  doch  verhältnismässig  kurz,  da  das  interesse  des  dichters 
in  der  alten  weit,  nächst  Baldr,  durchweg  zunächst  auf  Odin  und 
seiner  fürsorge  ruht,  dort  wie  hier  spielt  dieser  handelnd  ja  die 
erste  rolle,  deswegen  sind  ihm  in  den  Ragnarük  auch  zwei 
Strophen  gewidmet,  und  es  wird  ausdrücklich  noch  durch  die 
Vöiva  seine  räche  durch  Vidar  berichtet1,  nicht  nur  in  der  bei- 
behaltung  dieser  visa,  sondern  in  dem  ganzen  engern  Raguarök- 
abschnitt  überhaupt,  befind  ich  mich  mit  Boer,  da  hier  die 
theorie  seiner  beiden  dichter  in  seine  darstellung  nicht  eingreift, 
soweit  er  die  conservierung  des  überlieferten  textes  verlangt,  meist 
in  erfreulicher  Übereinstimmung,  nicht  freilich  in  einer  doppelten 
rectificierung  des  codex  Regius,  die  ich  entgegen  der  allgemeinen 
ansieht  für  falsch  halte,  im  Wortlaut  bei  v.  48  und  in  der  strophen- 
ordnung  bei  v.  49.  in  beiden  fällen,  auf  die  ich  nun  ausführ- 
licher eingeh,  muss  ich  unbedingt  für  die  autorität  der  älteren 
haudschrift  eintreten. 

1  dass  diese  Strophe,  die  MüllenhofF  ja  im  letzten  gründe  nur  aus 
gründen  strophischer  gliederung  ausgeschieden  hatte,  beibehalten  werden 
muss,  dafür  hab  ich  mich  schon  widerholt  ausgesprochen,  gewis  mit  recht 
fand  Boer  in  der  bezeichnung  Fi'pars  bröj>er  in  der  oben  besprochenen 
unechten  H-strophe  48,  die  v.  53  R  paraphrasiert,  einen  neuen  indirecten 
beweis  für  ihre  echtheit,  da  sie  diese  offenbar,  die  in  unmittelbarer  nachbar- 
schaft  stand,  ganz  ihrem  früheren  von  uns  besprochenen  verfahren  gemäfs 
ebenfalls  im  sprachlichen  ausdruck  plündert,  wenn  endlich  'Olsen  (Timarit 
15,  S3f)  in  scharfer  polemik  gegen  .MüllenhofT  (DA.  v  152)  und  FJönsson 
(aao.  i  136)  auf  Vafbr.  53  verweist,  wo  die  antwort  erhärtet,  dass  Odins  und 
Vidars  räche  mythisch  unlöslich  zusammengehören,  so  ist  ja  auch  dies  eine 
weitere  stütze  für  unsere  aufl'assung  der  stiophe.  ich  versteh  aber  bei  dem 
stand  der  dinge  nicht,  wie  'Olsen  dann  die  Valistiophe  der  Völuspa,  die  mit 
dem  tode  Baldrs  mythisch  ebenso  unlöslich  zusammengehört,  in  unserem 
gedieht  als  interpolation  ausmerzen  kann. 


RAGNARÖK  IN  DEH  VÖLUSPA 

Es  ligt  ja  nah«- .  bei  den  drei  visur,  die  den  Weltuntergang 
einleiten  (w.  47.  48.  50  !<).  in  dem  anrücken  dreier  riesischer 
beere  vollständig  parallelgebaute  Strophen  zu  sehen,  und  gewig 
ist  der  besonders  in  Müllenhofls  glänzender  darstellung  (DA  i  1  I9ff. 
so  bestechend  commentierte  aufmarsch  riesischer  scharen  von 
osten,  norden  und  Süden  ein  in  den  weiten  rahmen  dreiei 
himmelsrichtungen  gespanntes,  grofsartiges  und  des  Völuspadichters 
durchaus  würdiges  gemitlde,  «Ins  man  ungern  zerstörl  sieht, 
und  es  lässt  sich  wol  dafür  anführen,  dass  die  dreiheil  auch 
sonst  im  gedichte  unläugbar  eine  gewisse  rolle  spielt  \\ ic  in  den 
drei  unlerwellssälen  der  w.  37 — 39  oder  den  drei  den  welt- 
untergangprophetisch herbeikrähenden  hähnen  vv.  27 f  —  selbst 
die  vielbesprochene  ebenfalls  die  phantasie  nach  drei  seilen  hin 
machtig  beschädigende  Nornenscene  (Helgakv.  Hundb.  i  4)  isi  von 
[leinzel  (s.  71  und  318,  vgl.  mich  Bugge  The  homeofthe  Eddie 
poems  s.  81.  96  IT)  ;ils  parallele  herbeigezogen,  auch  dass  die 
drei  visur,  wie  Heinzel  (aao.  s.  76)  zeigte,  in  ihrem  ähnlichen 
Strophenanfang  {Hrymr  ehr  austan,  Kjött  ferr  norpan,  Surlr  ferr 
sunnan)  in  der  gangbaren  lesart  einen  ähnlichen  parallelismus 
zeieen  wie  die  früher  erwähnten  mit  der  anapbora  Kemr  be- 
beginnenden  visur  des  götterkampfes  seihst  (51.  52.  53).  indes 
stimmt  schon,  auch  wenn  man  von  der  handschriftlichen  Über- 
lieferung in  v.  4S  vorläufig  absieht,  dieser  parallelismus  äufser- 
lich  nicht  ganz,  und  dass  sie  alle  drei  inhaltlich  parallel  waren, 
kann  ich  Heinzel  auf  keinen  fall  zugeben,  in  doppelter  be- 
ziehung  nämlich  hängen  bei  näherer  betrachtung  vv.  47  und  4S 
unter  sich  gegenüber  50  enger  zusammen,  sowol  wenn  man  auf 
die  in  den  malerischen  Strophen  dargestellten  gruppen  als  wenn 
man  auf  die  lortschritte  der  dramalisch  bewegten  Handlung,  die 
sich  in  ihnen  abspiegelt,  achtet. 

Was  zunächst  den  ersten  puuet  anlangt,  so  erscheinen  in 
vv.  47  und  48  vollkommen  parallel  die  beiden  bauptungetümi 
der  Ragnarök.  der  wolf,  dessen  typisebes  haften  im  Ragnarök- 
mylhus  unzweifelhaft  feststeht  und  dessen  tat,  wie  Olrik  (aao.  s.  206) 
zeigte,  öfter  als  alle  andern  Vorgänge  desselben  in  Edda-  und 
skaldenpoesie  berührt  wird,  der  also  das  älteste  heimatrecht  in 
ihm  geniefst,  wie  uns  ja  auch  die  dreimal  widerkehrende  stef- 
strophe  v.  43  in  der  betonung  seines  loskommens  typisch  ver- 
anschaulicht,     und    die    schlänge,    der    Midgardsorm,    die   zwar 


270  NIEDRER 

sonst  in  den  RagnarökdarstelluDgen  und  den  anspielungen  darauf 
nicht  erwähnt  wird,  indes  nicht  nur  in  parallelen  mythischen 
kämpfen  eschatologischen  Charakters  wie  im  Beowulf  und  andern 
dracheüsageu  alte  gegenslücke  hat,  sondern  durch  ihr  häufiges 
rencontre  mit  Thor,  wie  es  uns  die  Hymiskvida  uml  die  skalden- 
poesie  widerholt  schildert,  auch  in  diesem  Vorspiel  zur  grofsen 
katastrophe  ihre  berechligung  dort  erweist  und  somit  von 
Olrik  auch  unbedenklich  zum  ursprünglichen  bestand  des 
Ragnarökmylhus  gezahlt  wird  (aao.  s.  207).  mit  recht  hebt  dieser 
hervor,  dass  schon  die  Verwechslungen,  die  wolf  und  schlänge, 
Odin-  und  Thorkampf  nicht  nur  in  unserm  gedieht  in  der  Über- 
lieferung des  codex  Regius,  sondern  auch  in  der  Lokasenna  er- 
fahren, ein  untrügliches  Zeugnis  für  ihre  enge  Zusammen- 
gehörigkeit abgeben,  sicher  sind,  wie  der  gleich  darauf  folgende 
kämpf  lehrt,  sie  die  entscheidenden  kräfte  in  diesen  scharen, 
die  in  vv.  47.  48  gegen  die  götter  anrücken,  indes  sie  sind 
umgeben  von  andern  riesischen  wesen.  neben  der  schlänge  er- 
scheint der  adler  Hräsvelg,  neben  dem  wolf  Loki.  und  führer 
ist  im  ersten  falle  der  riese  Hrym,  im  zweiten  falle  sind  es  je 
nachdem  Muspells  oder  Hels  leute.  dagegen  in  v.  50  tritt  Surt 
ganz  allein  auf,  dessen  hohe  bedeutung  für  den  Ragnarökmylhus 
in  allen  übrigen  quellen  Olrik  (s.  227)  erweist,  zweimal,  in  den 
Fafnismal  14 f.  und  in  den  Vafthrudnismal  17 f,  erscheint  er 
ausdrücklich  nicht  als  einer  unter  den  gegnern  der  götter,  son- 
dern als  gegner  der  götter  schlechthin  :  beidemal  geht  aus  der 
form  der  frage  wie  der  antwort  hervor,  dass  er  die  feindliche 
Widerstandskraft  gegen  die  Asengesamtheit  dort  an  sich  verkörpert, 
keineswegs  aber  hat  er  im  kämpfe  eine  correspondierende  präg- 
nante Stellung  inne  wie  die  beiden  andern  unheimlichen  mächte, 
in  der  Völuspa  selbst  wird  er  mit  der  ziemlich  nichtssagenden 
parenlhese  en  bane  Belja  bjartr  at  Surle  (v.  51)  abgetan,  die  Loka- 
senna aber  nimmt  ihm  sogar  diese  charakteristische  tat  ab,  indem  sie 
den  streit  mit  Frey  auf  Muspells  sühne  überträgt  (v.42).  im  schroffen 
gegensalz  zu  seiner  uncharakteristischen  und  unlypischen  kampfes- 
art  aber  ist  seine  zerstörende  würkung  doch  in  würklichkeit  weit 
gröfser  als  die  der  beiden  ungelüme  :  denn  wenn  er  med  sviga 
laeve  erscheint,  so  kann  das  geisar  eime  ok  aldmare,  leikr  hör 
Itite  vip  himen  sjalfan  (v.  54),  also  der  definitive  weltbraud,  auch 
nur    sein    werk    sein,     sonach    nimmt    die  Surtslrophe  (v.  50) 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA         271 

auch  ihrem  mythischeu  hau  nach  schon  eine  Sonderstellung  ein 
gegenüber  den  völlig  einander  parallelen  vv.  47.  48. 

Ebenso  aber  besteht  der  dreifache  parallelismus  in  diesen 
Strophen  nicht,  wenn  man  auf  den  fortschritt  der  bandlung  in 
ihnen  achtet,  in  den  beiden  ersten  paradiert  lediglich  drohend 
ein  riesisches  beer,  wenn  in  der  ersten  'der  adler  krächzt,  der 
schnabelfahl  leichen  zerreifst',  so  ist  das  vvol  mehr  eine  Charak- 
teristik des  nicht  genannten  namens  Hrsesvelgr  als  eine  hin- 
deutung auf  den  tod  der  menschen,  da  die  zweite  visa  nach 
dieser  richtung  keine  parallele  aggressive  handlung  bringt,  beide- 
mal sind  die  begleiter  in  den  beiden  ersten  Strophen  nur  der 
die  furchtbare  erscheinung  verstärkende  poetische  rahmen  für  die 
noch  nicht  in  tätigkeit  getretenen  wasser-  und  feuerverwanten 
gestalten  der  schlänge  und  des  wolfes,  und  der  tatsächliche 
Untergang  der  menschen  tritt  erst  v.  50,  dort  aber  würklich  ein 
{tropa  haier  helveg).  ganz  anders  dementsprechend  für  die  be- 
deutung  der  handlung  der  Inhalt  dieser  dritten  visa I  hier  schlagen 
aufserdem  steinfelsen  zusammen,  bergriesinnen  stürzen,  und  der 
himmel  spaltet,  hier  haben  wir  kein  blcfses  paradieren  riesischen 
Übermutes  mehr,  hier  hat  die  Zerstörung,  deren  endergebnis 
v.  57  darstellt,  bereits  begonnen,  ja  sie  ist  im  besten  zuge. 

Aus  diesem  doppelten  gründe  kann  ich  die  übliche  gleich- 
stelluug  der  visur  47.  48.  50  nicht  mitmachen1,  nimmt  aber 
v.  50  nun  würklich  eine  deutlich  erkennbare  Sonderstellung  ein, 
dann  kann  ich  auch  durchaus  nicht  verstehn,  weshalb  die 
Buggescbe  änderung,  die  das  austan  der  v.  48  in  norpan 
bessert,  so  durchaus  notwendig  sein  soll,  da  die  beiden  parallelen 
scharen  riesischer  mächte  beidemal  passend  aus  der  gewohnten 
riesengegend,  dem  osten,  kommen,  und  ebensowenig  seh  ich 
ein    Hindernis,    die    Überlieferung  von  R  im  jetzigen  zusammen- 

1  auch  Heinzel  (aao.  s.  76)  hat  dies  misverhältnis,  das  bei  der  Voraus- 
setzung eines  völligen  parallelismus  der  drei  visur  obwalten  würde,  wol 
erkannt,  wenn  er  betont,  dass  v.  50  eine  Steigerung  der  beiden  folgen  in 
vv.  47.  48  darstellt,  also  doch  keine  genaue  parallele  mehr!  und  mit  recht 
hebt  er  hervor,  dass  bei  der  gangbaren  ansieht  die  composition  hier  meik- 
würdig  wäre,  wenn  erst  von  wassersnot,  dann  von  feuersnot  und  dann  noch 
einmal  von  feuersnot  die  rede  sei.  er  hat  daher  sogar  die  athetese  von 
v.  48  in  frage  gezogen,  diese  Möglichkeit  scheint  mir  aber  eben  an -dem 
unzweifelhaft  in  form,  Inhalt  und  mythischem  gehalt  conformen  charakter 
der  vv.  47.  48,  die  sich  notwendig  ergänzen,  zu  scheitern. 


272  NIEDNER 

hange,  die  sich,  wie  wir  gelegentlich  mehrfach  schon  früher 
zeigten,  auch  aus  andern  gründen  empfahl,  beizubehalten,  gewis 
würde  v.  49  mit  ihrer  bemerkung  cesero  d  pinge  und  der  Schil- 
derung der  Zerfahrenheit  in  allen  wellen  hinter  v.  46  f  passen, 
wo  Heimdall  ins  hörn  geblasen  hat,  der  welthaum  wankt  und 
Odin  mit  Minis  haupte  redet,  aber  sie  ist  sicher  nicht  weniger 
am  platze  vor  der  entscheidenden  Surtstrophe  50,  wo  die  kata- 
strophe  beginnt  und  wo  sie  doch  die  beste  handschrift  nun  einmal 
überliefert,  ja  nach  meiner  auffassung  sogar  weit  besser,  zunächst 
iuhaltlich.  denn  die  fürsorge  und  orientiertheit  der  götter  war 
in  v.  46  in  den  Worten  mceler  'Openn  vip  Mims  hgfop  gewis 
genügend  ausgedrückt,  das  gegenstück  ist  die  heranwälzung  der 
riesischen  scharen  in  vv.  47.  48.  v.  49  aber  fasst  dann  die 
ungeheure  aufregung,  die  in  alle  weiten  kam,  noch  einmal  in 
einem  emphatischen  ausruf  zusammen  1  in  zwiefacher  weise  aber 
aus  gründen  der  anknüpfung.  einmal  nämlich  rückt  dadurch, 
doch  gewis  sehr  passend,  die  schlusszeile  (R  45)  en  jgtonn  losnar 
unmittelbar  vor  die  verwante  kehrstrophe  an  zweiter  stelle  (R  46). 
prägnant  will  der  ausdruck  also  sagen  'die  sache  ist  im  gange', 
sodann  aber  correspondiert  v.  49  in  diesem  falle,  in  dem  die  end- 
giltige  bereitschaft  der  götter  und  riesen  noch  einmal  in  dem  gegen- 
satz  gnyr  allrjnonheimr  und  äser  'o  d  pinge  zusammengefasst  wird, 
vortrefflich  auch  darin  mit  v.  50,  dass  das  stöhnen  der  armen 
zwerge  dort  sofort  die  drastischste  motivierung  erhält,  da  durch 
das  grjölbjgrg  gnata  ihr  tröstliches  attribut  veggbergs  viser  voll- 
kommen illusorisch  wird,  und  dass  gewis  die  einzige  nachdrück- 
liche erwähnung  von  der  Vernichtung  aller  menschen  an  keine 
passendere  stelle  kommen  konnte,  als  wiederum  in  v.  50,  wenn 
eben  in  v.  49  unmittelbar  vorher  die  allgemeine  aufregung  und 
Zerfahrenheit  aller  weiten  geschildert  war. 

Wenn  Heinzel  (aao.  s.  69)  hervorhebt,  'dass  eine  solche  gefühl- 
volle betrachtung  über  den  zustand  der  weit  unmittelbar  vor  der 
grösten  gefahr,  der  sie  erliegen  soll,  in  der  altgermanischen  dichtung 
zu  den  grösten  seltenheilen  zählt',  so  kann  diese  trefl'endebeobachtung 
auch  unsrer  ansieht  von  der  beibehaltung  der  Strophe  in  ihrem 
gegenwärtigen  handschriftlich  überlieferten  Zusammenhang  nur 
günstig  sein,  es  ist  wol  klar,  dass  wenn  der  begabte  dichter, 
der  ja  auch  sonst  in  vielen  puueten  singulär  dasteht,  für  die 
Verstärkung  der  poetischen  würkung  zu  diesem  seltenen  stilmiltel 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA         273 

griff,  er  keinen  kritischeren  und  geeigneteren  zeitpunct  wühlen 
konnte,  als  den,  bevor  die  grofse  Vernichtung  unmittelbar  in 
scene  gieng.  denn  erst  die  aus  den  eben  geschilderten  beziehungea 
der  beiden  nachbarvisur  sich  ergebenden  zustände  machen  es 
plastisch  anschaulich,  dass  der  augenblick  der  allgemeinen  auf- 
lösung  bereits  da  ist.  und  so  erscheint  gerade  in  diesem 
mittelpunct  der  gesamten  Ragnarökepisode  dieser  elementare  ge- 
füblsausbruch  nicht  nur  als  vvilrksamer  lyrischer  accent,  sondern 
er  bereichert  gerade  hier  zugleich  durch  die  gedrängte  fülle  der 
contrastierendeu  mythischen  bilder  am  zweckmäfsigsten  das  epische 
detail. 

Wenn  ich  nach  diesen  ausführuugen  der  Ruggeschen  Um- 
stellung nicht  beipflichten  kann,  so  muss  doch  wenigstens  her- 
vorgehoben werden,  dass  sie  in  der  Übereinstimmung  von  H  mit 
der  Snorra-Edda  äufserlich  zunächst  besser  fundiert  war,  als  die 
schon  widerholt  von  uns  berührte  änderung  in  v.  48  Heljar  lyper 
statt  Müspells  lyper'  :  hier  stehts  bekanntlich  so,  dass  nicht  nur  H, 
sondern  auch  sämtliche  handschriftliche  Versionen  der  Snorra- 
Edda  in  der  Überlieferung  im  einklang  mit  dem  codex  Regius 
stehn,  die  änderung  also  eine  handschriftliche  grundlage  über- 
haupt nicht  besitzt,  ich  kann  Olrik  (aao.  s.  222)  nur  vollkommen 
beistimmen,  wenn  er  betont,  dass  es  vollkommen  unzulässig  sei, 
hier  Snorris  mythisch-geographischem  System  zu  liebe,  der  im 
gegensatz  zu  allen  älteren  quellen  Müspells  söhne  und  Surt  zu- 
sammenwirft, eine  so  tiefgreifende  änderung  vorzunehmen,  sie 
eliminiert  die  im  Ragnarökmythus  auch  sonst  wolbezeugten 
Müspells  sühne  —  Lokasenna  42,  3  en  es  Müspells  syner  ripa 
Myrkvip  yfer  —  aus  dem  gedankengange  der  Völuspa.  und 
wenn  auch  ihre  einführung  dort  eine  andere  ist,  indem  sie  zu 
lande  reitend  dargestellt  werden,  und  anderseits  dort,  wie  oben 
bemerkt,  die  rolle  Surts  im  kämpfe  mit  Frey  auf  sie  übertragen 
wurde,  so  kann  man  doch  ihre  Zugehörigkeit  zum  mythus  nicht 
bezweifeln,  ja  die  parallele  Stellung  zu  Surt  spricht  für  ihre 
bedeutung  in  demselben,  anderseits  weist  die  Ruggesche  besse- 
rung  den  scharen  Hels  in  einem  der  mächtigsten  riesenanstürme 
eine  rolle  zu,  die  denkbar  ungeeignet  ist,  da,  wie  Olrik  richtig 
bemerkt,  die  bleichen  toten  den  Äsen  kaum  einen  besondern 
schrecken  eingeflösst  haben  können,  man  wird  ihm  recht  geben 
müssen,  wenn  er  sich  dahin  resümiert,  dass  durch  eine  solche 
Z.  F.  D.  Ä.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  18 


274  NIEDNER 

besserung    der    poetische    charakter    der    stelle    geradezu    zer- 
stört wird. 

In  welchem  innern  Verhältnis  Muspells  söhne  überhaupt  zu 
Surt  stehu,  ist  ja  eine  sehr  schwierige  frage,  die  selbst  Olrik 
nicht  völlig  zu  lösen  vermochte,  auf  jeden  fall  sind  sie  im 
gedieht  streng  differenziert,  und  ihre  Identifizierung  und  gemein- 
same localisierung  mit  Surt  ist  eine  willkürliche  construetion 
Snorris,  wol  begünstigt  durch  Verwechslungen,  wie  sie  die  oben 
genannte  stelle  der  Lokasenna  hinsichtlich  des  kampfes  mit  Frey 
bot.  dieser  ist  uns  indes  doch  viel  zu  undurchsichtig,  als  dass 
daraus  Schlüsse  auf  die  mythische  verwantschaft  der  ihm  an- 
gedichteten geguer  gezogen  werden  könnten,  in  unserm  gedieht 
spielen  sie  eine  gänzlich  verschiedene  rolle.  Muspells  söhne  sind 
ja  nur  nebenfiguren  im  vernichtungsdrama  neben  dem  wolfe,  wie 
ihre  durch  Hrym  geführten  brüder  aus  dem  riesenreich  hinter 
der  schlänge  als  hauptperson  zurücktreten.  Surt  dagegen  ist  der 
bedeutendste  Zerstörer  mit  feuer  und  schwert,  dessen  furchtbares 
werk  schliefslich  in  den  weltbrand  ausmündet. 

Überblicken  wir  nun  das  ergebnis  unserer  besprechung  der 
Buggeschen  Umstellung  und  änderungen,  so  scheint  uns  dadurch 
dem  weltbrand  im  gedieht  sowol  seine  durchaus  dominierende  stelle 
im  zerstörungswerk  wie  sein  nordisch-volkstümlicher  charakter  ge- 
rettet,    ich  glaube,   dass    ihm  Olrik  im  verlauf  seiner  trefflichen 
Untersuchung  beides  mit  unrecht  abgesprochen   hat,  und  dass  er 
ihn  (aao.  s.  290)  am  Schlüsse  seines  aufsatzes  in  der  Übersichts- 
tabelle  über  die  heidnischen  und  christlichen  einflösse  unbedingt 
unter  die  letzteren  verweist,  will  mir  nicht  einleuchten,    ich  denke, 
aus  der  Stellung  von  v.  50  im  gedieht  geht  deutlich  hervor,  dass 
die  Zerstörung  durch  Surt  mit  feuer  keineswegs  hinter  der  Ver- 
nichtung durch  die  Wasserflut  in  der  Völuspa  zurücktritt,  sondern 
einen    gleichen   mythologischen    rang    mit    dieser   und    den   ver- 
herungen  des  Fimbulvetr  an  sich  behauptet,     er  wurzelt  meiner 
Überzeugung  nach  (vgl.  'Olsen,  Timarit  15,  100  f)  durchaus  in  der 
lebendigen    anschauung    localer    isländischer    natur1    und    nötigt 

1  wenn  Olrik  («.  195  IT)  hervorhebt,  dass  die  feuerzerstörung  nicht  den- 
selben natürlichen  boden  gehabt  haben  könne  im  norden,  wie  das  versinken 
der  erde  im  wasser  und  der  Fimbulvetr,  so  nimmt  er  natürlich  immer  Island 
aas,  das  eben  für  ihn  gar  nicht  in  betracht  zu  kommen  scheint,  ich  glaub 
aber  mit 'Olsen,  dass  die  darstellung  in  v.  57  allerdings  auf  die  vulcanische 


RAGNARÜK  IN  DER  VÜLUSPA 


275 


ebenso  wenig  dazu,  christliche  Vorbilder  anzunehmen,  wie  das  ver- 
schwinden der  sonne  und  das  stürzen  der  Sterne  in  derselben 
v.  57  oder  gar  Ileimdalls  Gjallarhornsignal,  die  Olrik  neben  den 
oben  besprochenen  vv.  45.  64  und  66  ebenfalls  auf  christliche 
einflüsse  zurückführt  (vgl.  auch  s.  275  ff). 

Haben  wir  somit  in  der  Raguarökepisode  im  engern  sinne 
eine  wolgeordnete  darstellung,  die  nach  der  einleitenden  kehr- 
strophe  mit  dem  ansturm  der  beiden  parallelen  riesischen  scharen 
mit  wolf  und  schlänge  anhebt,  nach  einer  emphatischen  betonung 
der  allgemeinen  Verwirrung  (dem  hühepunct  des  ganzen  ab- 
schnittes),  Surts  himmelzertrümmerude  tätigkeit  schildert,  dann 
die  grofsen  kämpfe  folgen  lässt  und  endlich  in  der  Vernichtung 
der  erde  durch  wasser  und  vor  allem  durch  feuer  gewaltig  aus- 
mündet, —  so  ist  in  den  einleitenden  visur,  die  diese  katastrophe 
vorbereiten  (vv.  45 — 47),  noch  eine  Schwierigkeit  in  der  text- 
gestaltung  zu  überwinden,  nämlich  die  im  Vollständigkeit,  die  da- 
durch entsteht,  dass  wir  II  40,  3.  4  tilgen  musten.  die  be- 
ängstigenden Vorgänge  in  der  uatur  schildert  nunmehr  noch 
folgende  überfüllte  Strophe  in  R  :  Leika  Mims  syner,  en  mjgtopr 
kyndesk  at  eno  gallo,  Gjallarhorne;  holt  blcess  Heimdallr,  hom's 
d  lopte  :  mwler  Openn  vi[>  Mims  hofop.  Skelfr  Yggdrasels  askr 
standande;  ymr  et  aldna  tre,  en  jolonn  losnar.  es  ist  klar,  dass, 
wenn  der  parallelismus  zu  v.  45,  in  der  die  memorialverse  z.  3f 
(die  auf  einen  deu  Vafthrudnismal  verwanten  Ragnarökmythus 
deuten)  längst  ausgeschieden  sind,  wie  er  inhaltlich  besteht, 
auch  der  form  nach  da  sein  soll,  eine  der  drei  halbstrophen 
fallen  muss.  dass  dabei  nicht  mit  Roer  an  die  letzte  zu 
denken  ist,  da  sie  in  ihrem  schluss  durch  die  erwähnung  vom 
loskommen  des  wolfes  direct  auf  die  katastrophe  weist,  war  bereits 
bemerkt,  und  wird  jetzt,  nachdem  wir  v.  49  R  wider  an  ihren 
alten  platz  gebracht   haben,    um  so  mehr   einleuchten,     dagegen 

eruptionslätigkeit  dieses  landes  deutet  und  dass  diese  partie  der  Völuspa 
wenigstens  isländischen  einfluss  verrät,  dass  damit  aber  nicht  auf  einen  be- 
stimmten vulcanausbrucii  im  jähre  1000  gedeutet  zu  sein  braucht,  ist  ohne 
weiteres  klar,  ein  indicium  temporis,  das  die  übliche  datierung  des  gedichts 
um  950  verschöbe,  ist  also  nicht  daraus  abzuleiten,  auf  Surt  weisen  auch 
die  isländischen  orlsnamen,  die  Olrik  s.  288  ff,  'Olsen  Um  Kristnitökuna  s.  60 
anführen,  sie  beweisen  zugleich,  dass  Surt,  der  feuerdämon,  sich  wol  mit 
einem  unterweltsgotte,  den  Olrik  darin  lindet,  verträgt,  vgl.  übrigens  Brimir 
in  der  unterweit,  den  Heinzel  als  unterirdischen  Surt  bezeichnet  (Edda  s.  54). 

18* 


270  N1EDNER 

die  beiden  ersten  stelin  in  einem  ganz  auffälligen  tautologischen 
Verhältnis  zu  einander,  und  schon  Olrik  (aao.  s.  274)  hat  be- 
obachtet, dass  die  darstellung  hier  ungewöhnlich  breit  ist.  im 
gegensatz  zu  dem  kurzen  und  markigen  ausdruck  der  übrigen 
Ragnarökstrophen  füllt  das  motiv  des  Gjallarhornblasens  in  brei- 
tester ausmalung  fast  die  ganze  Strophe,  und  wenn  man  die 
beiden  visuhelmiugar  im  einzelnen  vergleicht,  so  kann  man  wol 
keinen  augenblick  zweifeln,  dass  sich  der  -zweite  als  der  mytho- 
logisch und  dichterisch  höher  stehnde  erweist.  'Odin  spricht  mit 
Wims  haupte',  in  welchem  sinne  man  es  auch  deuten  mag,  ist 
hier  im  Zusammenhang  einfach  uicht  zu  missen  :  es  ist  der  natur- 
gemäfse,  den  Vorgängen  v.  29  entsprechend  notwendig  geforderte 
Vorgang,  der  ausdruck  leika  Mims  syner,  der,  wie  er  auch  auf- 
gefasst  wird,  auf  jeden  fall  eine  der  götterfreundlichen  handlung 
in  z.  4  entgegengesetzte  täligkeit  darstellt,  ist  aber  neben  Mims 
hpfop  hart  und  kaum  zu  dulden;  auch  hat  er  zu  dem  doppel- 
sinnigen ausdruck  mjoiopr  kyndesk,  der,  wie  Heinzel  (aao.  s.  62) 
richtig  bemerkt,  'der  weltbaum  entbrennt'  oder  'das  ende  kündigt 
sich  an'  bedeuten  kann,  kaum  eine  innere  beziehuug.  dass  ferner 
die  entscheidung  hereinbricht  oder  der  weltbaum  sich  entzündet 
'beim  gellenden  Gjallarhorn',  ist  weder  eine  geschickte  noch  be- 
sonders poetische  ausdrucksweise,  selbst  wenn  sich  der  ausdruck 
zur  not  mit  Gering  im  grofseu  glossar  s.  61  temporal  er- 
klären lässt. 

Dagegen  wird  nun  der  gleiche  Vorgang  in  den  worten  'laut 
bläst  Heimdali,  das  hörn  ist  erhoben'  höchst  dichterisch  anschau- 
lich dargestellt  und  entspricht  völlig  v.  27,  wo  es  unter  dem 
weltbaum  verborgen  wird,  es  bildet  hier  mit  dem  befragen  von 
Mims  haupte  die  naturgemäfse  einleitung  zu  dem  ceser'  o  d  pinge 
(v.  49).  dieser  zweite  visuhelming  hätte  schwerlich  allein  jemand 
auf  den  gedanken  gebracht,  Heimdalls  blasen  durch  die  Zusammen- 
stellung mit  der  posaunentäligkeit  des  erzengels  am  jüngsten 
gericht  als  christlichen  zusatz  zu  verdächtigen,  einen  solchen 
stellt  ja  nun  auch  das  erste  zeilenpaar  in  v.  46  gewis  nicht  dar: 
aber  zugegeben  muss  Olrik  werden,  dass  die  bemerkung,  dass 
sich  der  weltbaum  beim  schalle  des  hornes  entzünde  oder  gar 
dass  das  weltende  sich  bei  seinem  klänge  ankündige,  einen  sinn 
in  die  stelle  hineinbringt,  der  unmöglich  im  plane  des  alten,  auf 
heidnisch-mythologischer  grundlage  stehnden  dichters  liegen  konnte. 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA        277 

Ich  glaube,  die  erste  halbslrophe  ist  das  werk  eines  inter- 
polators,  wie  wir  ihn  auch  aufserhalb  der  unechten  H- Strophen 
schon  in  der  Schöpfung  der  v.  63  und  der  erweiterung  von  v.  53  R 
tätig  sahen,  er  liefs,  wie  an  jenen  beiden  stellen,  den  alten 
dichter  mehr  beabsichtigen,  als  es  in  würklichkeit  der  fall  war. 
denn  das  blasen  Heimdalls,  wo  den  göttern  gefahr  droht,  halt 
sich  allein  noch  ganz  in  den  grenzen  der  rolle,  die  dieser  gott 
sonst  in  kritischer  läge  der  götterweit,  wie  etwa  in  der  alten 
Thrymskvida,  spielt,  heifst  es  dort  (v.  14),  wo  er  den  entschei- 
denden rettenden  rat  gibt:  senn  vgro  ceser  aller  d  pinge  ok  äsynjor 
allar  d  male,  so  ist  dieser  thingversammlung  sicher  wie  der  in 
v.  49  die  berufung  Heimdalls  durch  das  hörn  vor  der  dräuenden 
riesengefahr  vorausgegangen,  auch  hier  ist  das  hornblasen  also 
nur  die  warnung  vor  der  riesenmasse ,  die  gleich  darauf  über- 
mütig paradierend  einherzieht. 

Das  entscheidende  für  die  athetese  von  v.  46 ,  1.2  ist  für 
mich  aber,  dass  offenbar,  wie  schon  oben  angedeutet,  das  Mims 
syner  ganz  in  der  art  oberflächlicher  interpolationen  durch  den 
äufserlichen  gleichklang  an  den  schönen  dichterischen  ausdruck 
Mims  hpfop  anknüpft,  ich  muss  gestehn,  dass  all  die  zweifei 
und  bedenken  derer,  die  diesen  ausdruck  mit  der  in  Völuspa  29 
vorliegenden  form  des  Mimirmyihus  in  einklang  zu  bringen  nicht 
vermochten,  mich  nie  überzeugt  haben,  wenn  man  allerdings 
dabei  an  die  später  in  den  Vanenmythus  verflochtene  gestalt  des 
mythus  denkt,  wie  ihn  die  Ynglingasaga  repräsentiert,  dann  lässt 
sich  ein  solcher  Widerspruch  und  sogar  weiter  ein  Widerspruch 
in  jener  wunderbaren  tiefsinnigen  visa  des  ersten  teiles  des 
gedichts,  wie  dies  Gering  in  seiner  Eddaübersetzung  s.  12  tut,  allen- 
falls wol  construieren.  fasst  man  aber  'mit  Mims  haupte  reden' 
in  dem  ursprünglichen  sich  eng  an  den  volkstümlichen  Sprach- 
gebrauch und  die  volkstümliche  anschauungsweise  anlehnenden 
sinn  Müllenhoffs  (DA.  v  106),  wonach  der  ausdruck  nichts  weiter 
bedeutet  als  'die  äufserste  quelle  der  Weisheit  und  voraussieht, 
die  eben  in  dem  elementargeist  beschlossen  ist,  aufsuchen',  dann 
ist  von  einem  Widerspruch  beidemal  nichts  zu  bemerken,  aber 
eben  mit  dem  uns  aus  Müllenhoffs  tiefsinniger  erklärung  (DA.  v 
101  ff)  geläufigen  bilde  des  welterhaUenden  elementargeistes  lassen 
sich  'die  spielenden  Mims  söhne'  auf  keine  weise  vereinigen,  was 
heifst    überhaupt   Mims  syner  ?     in  Vigfussons    Übersetzung   'die 


27S  MEDKER 

winde'  (Dictionary  s.  432 b),  die  sich  sprachlich  kaum  recht- 
fertigen lässt,  spiegelt  sich  jedesfalls  wol  die  richtige  erkenntnis, 
dass  mau  hei  dem  folgenden  beben  und  ächzen  des  allen  well- 
haumes  doch  an  diese  zuerst  denken  sollte,  bezeichnend  ist  über- 
haupt, dass  dieser  doch  sonst  so  kühne  änderer  des  Völuspatextes 
in  seiner  reconstruction  des  gedichts  (Corp.  Poet.  Bor.  n  626)  mit 
dem  ausdruck  schlechterdings  nichts  anzufangen  wusle  und  ihn 
nicht  einmal  in  den  text  aufzunehmen  wagte,  'die  gewässer' 
übersetzt  es  Gering  im  ausführlichen  glossar  (s.  1324)  :  aber  die 
einsame  bemerkung  'die  gewässer  spielen,  dh.  geraten  iu  be- 
wegung',  bevor  irgend  ein  beginn  der  katastrophe  da  ist,  ist 
gewis  merkwürdig  genug,  und  wollte  man  sich  auch  mit  einem 
solchen  präludium  eines  Ragnarökereignisses  schon  an  dieser 
stelle  befreunden,  was  ja  im  hinblick  auf  andere  schon  erwähnte 
pioleptische  hindeutungen  im  gedieht  an  sich  möglich  wäre,  sollte 
man  dann  nicht  eher  einen  ausdruck  wie  'Rans  tüchter'  erwarten? 
denn  das  Weltmeer  ist  es  doch,  in  dem  später  die  erde  versinkt, 
nicht  die  überquellenden  wasser  des  naturdämonen  Mimir,  die 
im  gegenteil  den  weltbaum,  die  weit,  erhalten1. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  aber  noch  einmal  die  Zu- 
sätze in  R  in  der  Ragnarökepisode,  so  sind  sie  doch  wesentlich 
andrer  natur,  als  die  nur  iu  H  bewahrten,  von  einer  flickarbeit 
mit  benutzung  echter  ausdrücke  des  gedichts  ist  hier  keine  rede, 
man  könnte  sich  alle  drei  wol  als  reste  paralleler  lieder  denken, 
so  v.  63  aus  einem  gedieht,  wo  das  aufzählen  von  göllern  in  der 
neuen  weit,  vielleicht  noch  schematischer  als  in  den  Vafthrudnis- 

1  Heinzel  in  seinem  commentar  s.  61  liebt  hervor,  dass  Mims  syner 
die  riesen  darstellen,  und  vergleicht  die  ausdrücke  Ymes  nipjar,  Sultungs 
syner,  jptna  syner;  er  meint  also,  dass  die  stelle  bedeute  'die  riesen  ge- 
raten in  hewegung'.  mir  erscheint,  wenn  man  den  worten  einen  sinn  bei- 
legen will,  dies  tatsächlich  auch  die  einzige  möglichkeit.  denn  der  ganze 
Zusammenhang  erfordert  diese  deulung.  dies  ist  aber  für  mich  ein  grund 
mehr,  weshalb  ich  mir  die  Strophe  nicht  im  Zusammenhang  des  folgenden 
helmings,  der  von  Mims  haupte  redet,  denken  kann,  denn  den  grösten  er- 
halter  der  götter  neben  Oilin  unmittelbar  neben  seine  söhne  als  Zerstörer 
zu  stellen,  wäre  ein  unglaublicher  contrast  und  stimmte  nicht  mit  der  auf- 
fassung  Mimirs  als  quelldämon.  wol  aber  könnte  man  sich  in  einem  liede 
parallelen  Inhalts  einen  derartigen  ausdruck  in  ähnlicher  Situation  denken, 
und  das  bestärkt  mich  nur  darin,  den  visuhelming  vom  Gjallarhorn  als  ver- 
sprengtes stück  aus  einem  solchen,  das  hier  unter  dem  eindruck  der  gleich- 
klänge von  Mims  syner  und  Mims  lipfo]>  eingefügt  wurde,  mir  vorzustellen» 


RAGNARÜK  IN  DER  VÖLÜSPA  279 

mal,  zum  vorwarf  des  dichters  gehörte,  so  die  überschüssigen 
zeilen  in  der  Thorstrophe  56  als  bruclislilcke  eines  Raguarük- 
liedes,  in  dem  die  tat  Thors  noch  eine  entscheidende  rolle  spielt' 
so  dass  sein  tod  dort  tatsächlich  veranlasste,  dass  'alle  menschen 
die  heimstatt  räumten'  —  die  wichtige  rolle,  die  die  Thorssöhne 
mit  dem  hammer  in  der  neuen  weit  nach  den  Vafthrudnismal 
spielen,  lässt  die  einstige  exislenz  eines  solchen  liedes  wol  ver- 
muten, so  die  letztbesprochene  visa,  die  gleichfalls  aus  einem 
parallelen  eschatologischen  gedichte,  das  den  Weltuntergang  in 
andrer  form  schilderte,  stammen  mag  und  dessen  misverstandener 
torso  vielleicht  ähnlich  wie  die  heidnischen  göttertrinitäten  in 
v.  63  die  oft  genannten  christlichen  zusätze  in  H  und  den  papier- 
hss.  mit  verschulden  halfen,  zu  all  diesen  drei  eingefügten  lied- 
resten  hüte  dann  die  überschüssige  halbstrophe  in  v.  45,  die 
längst  von  der  forschung  ausgeschieden  ist,  ein  treffliches  ana- 
logon  :  skeggpld,  skalmgld,  sküder'o  klofner;  vindgld,  vargpld,  äpr 
vergld  steypesk.  die  ausdrücke  'wiudalter',  'wolfsalter'  hat  schon 
Müilenhoff  (DA.  v  141)  auf  den  letzten  grofsen  winter  bezogen, 
der  dem  Weltuntergänge  voraufgieng.  und  stellte  dieser  nach 
Olriks  nachweis  in  andern  Ragnarükversionen  selbst  die  endgillige 
Zerstörung  dar  —  wofür  die  überlieferten  Vafthrudnismal  widerum 
ein  deutliches  beispiel  abgeben  — ,  so  könnten  eben  diese  zeilen 
der  Völuspa  sehr  wol  bruchstück  eines  auf  jenem  mylhenboden 
erwachsenen  eschatologischen  gedichts  sein,  da  es  ihnen  an  selb- 
ständigem poetischen   gehalte  nicht  gebricht. 

Nachdem  wir  nunmehr  den  künstlerischen  aufbau  der  ganzen 
Ragnarökepisode  nach  abzug  aller  zusätze,  die  wir  auszuscheiden 
uns  genötigt  sahen,  in  ihrer  gesamtheit  überblicken,  lohnt  es  wol, 
ihn  noch  einmal  in  seiner  gedanklichen  gliederung  innerhalb  des 
in  R  überlieferten  Strophenschemas  zusammenfassend  zu  ver- 
anschaulichen. 

i.  Die  einleitung,  und  zwar  1.  die  kehrstrophe  (v.  43 
=  Rugge  44).  2.  die  beiden  parallelen  Strophen  von  den  unheil- 
kündenden anzeichen  (vv.  44.  45,5—12  =  R.  45,  1 — 6.  11  —  12. 
46,5—8.  47,1 — 4).  n.  die  hauptpartie  (die  Ragnarökepi- 
sode im  engern  sinne),  und  zwar  1.  die  kehrstrophe  (v.  46  = 
R.  49).  2.  die  beiden  parallelen  Strophen  von  den  anrückenden 
riesenheeren  (vv.  47.  48  =  B.  50.  51).  3.  der  angstschrei  des 
tiefinnerlich  an  seinem  Stoffe  anteilnehmenden  dichters  (v.  49  = 


2S0  NIEDNER 

B.  48).  4.  der  beginn  der  Zerstörung  durch  Surt  (v.  50.  =  B.  52). 
5.  die  drei  parallelen  Strophen  von  den  entscheidenden  götter- 
kämpfen  (w.  51.  52.  53,  1—4.  8—12  =  B.  53.  55.  56,  1—4. 
8 — 12).  6.  der  abschluss  der  zerstöruug  (v.  54  =  B.  57).  in.  der 
Schlussabschnitt,  und  zwar  1.  die  kehrstrophe  (v.  55  =  B.  58). 
2.  die  drei  Strophen  von  der  welterneuerung  und  der  widerkehr 
der  götter  und  menschen  (vv.  56.  57.  58  =  B.  59.  60.  61).  3.  der 
neue  herscher  Baldr  (v.  59  =  B.  62).  4.  die  beiden  parallelen 
Strophen  von  der  neuen  Walhall  und  Nidhögg,  des  Helrepräsen- 
tanten,  endgiltigem  verschwinden  (vv.  61.  62  =  B.  64.  66). 

Unzweifelhaft  ist  die  Ragnarökpartie  innerhalb  des  gedichts 
ein  bewundernswertes  künstlerisches  ganze  für  sich  :  inhaltlich 
geschlossener,  formell  feiner  gegliedert  und  stilistisch  reizvoller 
variiert  als  alles  vorhergehnde,  konnte  man  sie  fast  für  ein  selb- 
ständiges kunstwerk  zu  halten  versucht  sein. 

Trotzdem  ist  dies,  wie  schon  unsere  bisherige  erörterung 
widerholt  zeigte,  sicher  nicht  der  fall,  und  die  episode  ist  gewis 
nur  in  jenem  festen  Zusammenhang  mit  dem  ganzen  denkbar, 
wie  ihn  Müllenhoff  in  seinem  gedanklichen  aufbau  und  seiner 
äufseren  gliederung  der  beiden  ersten  teile  des  gedichts,  die  die 
Vergangenheit  und  gegenwart  umfassen,  so  meisterhaft  darlegte, 
nirgends  treten  die  ergebnisse  unserer  Ragnarökbetrachtung  mit 
seiner  kritischen  sichtung  der  beiden  ersten  abschnitte  des  liedes, 
wo  seine  forschung  im  eigentlichsten  sinne  aufbauend  genannt 
werden  kann,  in  Widerspruch,  im  gegenteil,  sie  erhalten  gerade 
durch  sie  ihre  beste  bestätigung.  dies  im  einzelnen  erschöpfend 
darzulegen  und  auf  die  neuerlichen  versuche,  über  seine  kriti- 
schen ergebnisse  hinaus  umfangreiche  athetesen  in  diesen  beiden 
abschnitten  vorzunehmen,  principiell  hier  einzugehn,  fiele  aus 
dem  rahmen  dieser  arbeit  heraus,  dass  ich  hier  nicht  nur  dem 
radicalsten  jener  vorschlage,  dem  von  Wilken  (Zs.  f.  d.  ph.  30,  464. 
477.  481  und  33,  290),  der  den  ganzen  ersten  abschnitt  bis  zur 
Völuspastrophe  27  ausscheidet,  sondern  auch  den  vorsichtigeren 
kritischen  eingriffen  Boers  (aao.  s.  291  ff)  nicht  beipflichten  kann, 
ergibt  sich  naturgemäfs  aus  den  engen  beziehungen,  die  wir 
überall  im  verlauf  unsrer  darstellung  mit  den  ersten  beiden  ab- 
schnitten des  gedichtes  fanden,  unabhängig  aber  von  einer  solchen 
erschöpfenden  erörterung,  die  ja  im  gründe  einer  gesamtbetrachtung 
des    gedichts    gleichkäme    und   allein  die  innerste  seele  desselben 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLÜSPA  281 

enthüllen  könnte  —  und  mit  der  Ragnarökepisode  als  mit  der 
verhältnismäßig  bestüberlieferten  und  übersichtlichsten  milste  eine 
derartige  Untersuchung  immer  einsetzen  — :  scheint  es  mir  doch 
zum  schluss  angebracht,  ja  notwendig,  auf  die  hauptsäch- 
lichen Übereinstimmungen  zwischen  dem  letzten  teil  der  Völuspa 
und  den  beiden  ersten  abschnitten  noch  einmal  zurückzukommen, 
um  durch  ihre  etwas  eingehendere  betrachtung  die  tatsache  der 
engen  Zugehörigkeit  des  Ragnarökabschnitts  zum  ganzen  gedieht 
unbeschadet  ihrer  künstlerischen  Sonderstellung  im  liede  noch 
einmal  scharf  zu  beleuchten  und  die  bisher  dafür  vorgefundenen 
gründe  zu  vertiefen   und  zu  verstärken. 

Es  ist  zunächst  bei  besprechung  der  interpolalionen  in  R 
im  ersten  teil  schon  auf  die  verwantschaft  hingewiesen  worden, 
die  vv.  17  f  von  der  menschenschöpfung  mit  der  von  uns  ge- 
tilgten Strophe  v.  63  von  der  widerkehr  bestimmter  götter  ver- 
band, ob  sie  nun  aus  demselben  oder  verschiedenen  liedern 
kosmogonisch-eschatologischen  inhalts  stammen,  ihr  charakler  ist 
beidemal  derselbe,  wie  er  sich  auch  in  den  übrigen  inR  interpolierten 
visur  des  Ragnarökabschnitts  zeigt  :  eine  variantenhafte  weiter- 
ausführung  des  vom  dichter  angeschlagenen  themas,  die  aber 
über  das  ziel  hinausgeht,  das  sich  dieser  gesteckt  hat.  dass  der- 
selbe Charakter  auch  in  den  übrigen  visur  des  grofsen  inter- 
polationenstockes  (vv.  5.  6.  9 — 16.  19.  20),  wie  ihn  Müllenhoff 
(DA.  v  91  IT)  zuerst  im  gedichte  nachwies,  widerkehrt,  ergibt 
sich,  wie  eine  kurze  vergleichende  betrachtung  zeigen  wird,  un- 
schwer auf  grund  von  Müllenhoffs  einschneidender  athetese,  die 
mir  durch  Boers  abweichende  kritik  weder  eine  schmaleruug 
noch  eine  bereicherung  erfahren  zu  haben  scheint. 

An  zweiter  stelle  handelt  es  sich  um  die  frage,  ob  der  früher 
beobachtete  parallelismus  der  vv.  59.  60.  61  und  4.  7.  8,  der 
unmöglich  auf  zufall  beruhen  konnte  und  der  deutlich  zeigte,  dass 
beide  partieen  ursprünglich  im  bewusten  gegensatz  gedichtet  waren, 
sich  nicht  in  gleicher  weise  auf  die  abschnitte  der  Zukunft  und 
der  Vergangenheit  in  ihrer  gesamtheit  ausdehnen  lässt.  da  die 
inhaltliche  correspondenz  für  den  dritten  abschnitt  des  ersten 
teiles  (vv.  27 — 30)  und  den  ersten  des  dritten  (vv.  44 f)  ohne 
weiteres  in  die  äugen  springt,  indem  beide  von  der  fürsorge 
Odins  für  die  erhaltung  der  bedrohten  weit,  das  erste  mal  nach 
dem  verhängnisvollen  eidbruch  gegenüber  dem  riesen,  das  zweite 


2S2  NIEDIS'ER 

mal  vor  dem  drohenden  heranrücken  des  riesischen  heeres  han- 
deln, —  so  ist  diese  frage  aus  dem  nachweis  des  engsten  Ver- 
hältnisses der  Gullveig-Heid-Freyja-episode  (w.  21  —  27  R)  zu 
dem  Ragnarökmythus  im  engem  sinn  (vv.  47 — 54  R)  zu  erhärten, 
wozu  ebenfalls  wider  am  natürlichsten  die  Müllenhoffsche  auf- 
fassung  dieser  alten  partie  uns  verhelfen  wird. 

Am  wichtigsten  und  entscheidendsten  für  die  frage  der  Zu- 
sammengehörigkeit ist  aher  unzweifelhaft  eine  weitere  eingehnde 
hetrachtung  der  mittleren  partie  des  gedichts,  die  nach  Müllenhoff  die 
gegenwart  darstellt,  mit  dem  schlussabschnilt  der  Ragnarök.  in  dop- 
pelter hinsieht  war  uns  hier  früher  engste  innere  correspondeuz  her- 
vorgetreten, einmal  in  der  charakteristischen  gegenüberstellung  der 
schönen  endvisur  vv.  64.  66  und  der  unterwellspartie  vv.  37 — 39. 
sodann  in  der  offenbar  engen  beziehung  der  Raldrpartie  (vv.  31 — 35) 
mit  der  Strophe  von  seiner  widerkehr  (v.  62).  es  wird  sich 
hier  bei  näherer  hetrachtung  zeigen,  dass  die  abschnitte  von  den 
unterirdischen  sälen  und  dem  vorgange  bei  Baldrs  tode  ursprüng- 
lich in  einem  engern  Verhältnis  zueinander  standen  —  entsprechend 
den  vv.  62.  64  —  und  dass  dieses,  das  den  eigentlichen  mythischen 
und  dichterischen  ausgaugspunet  des  gedichts  darstellt,  offenbar 
durch  die  empfindliche  lücke  in  v.  36  verdunkelt  worden  ist. 

Um  nun  mit  dem  vergleich  der  interpolationen  zu  beginnen, 
so  waren  vv.  17  f  im  gedieht  zunächst,  wie  früher  bemerkt,  genau 
wie  v.  63  veranlasst  durch  die  echte  Strophe  4  :  äpr  Bors  syner 
bjgpom  of  yppo,  peir  es  mipgarp  moeran  sköpo.  die  schöpferische 
tätigkeit  der  drei  Borssöhne,  denen  hier  die  drei  Äsen  Odin- 
Hönir-Lodur  entsprechen,  wie  v.  63  die  doppelte  trinität,  indem 
Odin-Vili-Ve  hinzutreten,  wurde  hier  auch  auf  die  erschaffung 
der  menschen  hin  erweitert,  der  zusatz  vergleicht  sich  also  auf 
diese  weise  am  ersten  mit  dem  Dvergatal  vv.  9 ff,  nur  dass  nicht 
etwa  ein  reeiprokes  Verhältnis  mit  diesem  hier  vorligt,  wie  es 
Golther  (Handbuch  s.  526 f)  annimmt,  dass  die  zwerge  hölzerne 
menschenbilder  schnitzten  und  die  götter,  die  diese  dann  am 
meeresstraude  vorfanden,  sie  beseelten,  wie  Golther  unter  com- 
bination  der  beiden  Voluspainlerpolationen  mit  Gylfaginning 
c.  9  annimmt,  ist  im  höchsten  grade  unwahrscheinlich,  es  sind 
ollenbar  zwei  ganz  getrennte,  auf  andern  Voraussetzungen 
beruhende  schöpfungsmythen,  die  in  den  beiden  Zusätzen  vor- 
liegen :  schon  dass,  'wie  Müllenhoff  zeigt,    v.   17  f  offenbar    als 


RAGNARÜk  IN  DER  VÖLÜSPA  283 

allerer    zusatz    sich     durch    die    anknüpfung    verrät   (unz   [>rir 
kvömo  ör  pvi  lipe),  spricht  dagegen,     mit  dieser  gleichklang,  der 
durchaus  nicht  dem  interpolator  zugeschrieben  zu  werden  braucht, 
souderu    vermutlich    dem    allen    liedrest  ursprünglich  angehörte, 
hat  die  einfilgung  erleichtert,  wie  ja  in  v.  46  der  ausdruck  Mims 
syner  offenbar  die  anfügung  des  parallelen  helmings  vom  gellen- 
den    Gjallarhorn    vermitteln    half,     anderseiis   gehört  aber  unser 
zusatz    von    der  menschenschöpfung    in    die   kategorie  jener  er- 
weiterungen,    die    im  liede  das  bestreben  zeigen,    die  menschen- 
weit auch  äufserlich  mehr  zur  geltung  zu  bringen,  und  vergleicht 
sich    daher   dem    oben    berührten  zusatz  R   53    mono  haier  aller 
heimstop  rypja,  übrigens  auch  dem  in  R.  44,  der  vermutlich  aus 
einem  den  Vafthrudnismal  analogen  liede  slammt,  wo  der  menschen- 
welt    beim    Welluntergang    viel    directer  erwähuung    getan  ward, 
die  weise  Ökonomie  des  Völuspadichters,  die  trotzdem  die  menschen- 
schicksale    durchaus    gegenwärtig  hielt,    indem  sie  sie  gerade  an 
den  entscheidendsten    stellen  des  liedes  erwähnte,  —  vgl.  aufser 
v.44  noch  vv.  50.  59.  61  R,  wozu  auch  die  ausdrückliche  hindeutung 
durch  das  krähen  des  hahns  in  Walhall  in  v.  42  tritt  —  wurde 
schon    durch   jene  erweiterungeu  zerstört,  in  diesem  zusatz    des 
ersten  teils  aber  hat  sie  die  empfindlichste  beeinträchtigung  erfahren. 
Ganz  ähnlich  ligt  die  sache  nun  bei  dem  unmitlelbar  voraus- 
gehndeu  Dvergalal,    das  ja    in    seiner    gesamtheil   selbst    von    so 
ängstlich  auf  die  einheit  des  überlieferten  Völuspatextes  bedachten 
forschem  wie  Heinzel  (Edda  s.  25)  und  Rjörn  Magnüsson   'Olsen 
(Timarit  15,  102)   ausgeschieden    wird,     aber  auch  in  einer  ur- 
sprünglich  kürzern    form,   die    etwa  den  umfang  des  Valkyrjatal 
(v.  31)    gehabt   hätte,    wie  Heinzel  meint,    kann  das  gedieht  aus 
denselben    gründen,    nur   in  verstärktem  mafse,    nie  ein  teil  des 
ursprünglichen  liedes  gewesen  sein,    tatsächlich  hat  die  zwergen- 
welt  für  den  gang  der  handlung  ja  nicht  die  geringste  bedeutung. 
das   eiuzige  mal   wo  sie  nachdrücklicher  erwähnt  werdeu,  in  dem 
emphatischen  ausruf  (v.  49),  haben  sie,  die  armen  bestürzten,  nur 
eine    ornamentale    bedeutung  :  auch    wenn    in   v.  37   der  goldne 
saal  der  zwerge  aus  Sindris  geschlecht  neben  den  saal  Rrimis,  Okol- 
nir,  in  der  Unterwelt  gestellt  wird,  kann  ich  darin  eine  bange  frage 
und  bedenkenerregende  hiudeutung  auf  die  katastrophe  mit  Müllen- 
hoff  (DA.  v  119)    nicht   finden,     auch   hier  dienen  sie  nur,   wie 
sich    später  zeigen  wird,    mitsamt  dem   bierfröhlichen  riesen,  als 


284  MEDNER 

würksamer  contrast  zu  dem  (lüstern  verbrecliersaale.  wol  aber 
hat  dieser  ursprünglichste  und  echteste  kern  des  Dvergatal,  wie 
er  übereinstimmend  von  forschem  wie  Müllenhoff  (DA.  v  93) 
und  Heinzel  (Edda  s.  19)  angenommen  wird,  widerum  genau 
dieselbe  erweiternde  tendeuz  wie  die  zusätze  der  Ragnarökpartie, 
die  über  das  ziel  des  dichters  hinausschiefsen,  und  auch  darin 
zeigt  sich  das  variantenhafte  wider,  dass  die  nach  Heinzeis  vor- 
schlagen probate  erklä'rung  der  vv.  9f  widerum  einen  mythus 
ergibt,  der  schwerlich  mit  den  Voraussetzungen  der  echten 
schöpfungsstrophe  der  Völuspa  in  einklang  gewesen  ist.  das 
zwergenpaar  nämlich,  Motsognir  und  Durin,  das  nach  Heinzeis 
auffassung  durch  seine  kuustfertigkeil  nur  zwergenbilder  schmiedet, 
nicht  durch  zeugung  die  menschenbildende  Schöpfung  fortführt, 
ist  schwerlich  sehr  alte  Vorstellung,  und  die  art,  wie  die  götter 
dieses  ahnenpaar  der  zwergenwelt  erschaffen,  erinnert  an  eine 
dem  Ymirmythus  der  Snorra-Edda  verwante  auffassung,  die  sicher 
ebensowenig  wie  dieser  unserem  Hede  eigentümlich  war.  aber 
auch  die  art  der  äufseren  anknüpfung,  die  diesen  ältesten  zusatz 
veranlasste,  ist  der  der  vv.  17  f  und  v.  46  im  letzten  teil  durchaus 
verwaut.  es  ist  der  gleichklang  durch  die  kehrstrophe  gengo 
regen  oll  d  rekstöla,  ginnheilog  goß,  ok  of  pat  gcettosk,  die  Boer 
allerdings  auf  kosten  eines  einheitlich  redigierenden  schöpfungs- 
dichters  setzt,  der  die  alten  liedfragmente  durch  rahmenzudichtungen 
anflickte  :  aber  schon  FJönsson  (Litteraturhistorie  i  136)  deutet  an, 
dass  diese  formelhafte  halbstrophe  dem  parallelen  liede  ursprünglich 
eigentümlich  war,  und  es  ist  wol  das  nächstliegende,  anzunehmen, 
dass  sie,  wie  auch  v.  6  zeigt,  in  liedern  kosmogonischen  inhalts  gern 
refrainartig  verwant  wurde,  haben  wir  doch  eine  vollkommene 
analogie  in  der  dem  sinne  nach  ziemlich  synonymen  visa  der 
Thrymskvida  Setin  voro  dser  aller  d  pinge  ok  dsynjor  allar  d 
male  (v.  14),  die  in  Baldrs  draumar  bekanntlich  wörtlich  wider- 
kehrt, auch  wenn  man  mit  Sijmons  (Edda  s.  cccxlviii)  und  Kauff- 
mann  (Balder  s.  26)  die  annähme  eines  älteren  Vegtamliedes,  aus 
dem  die  Völuspa  wie  die  jetzige  Vegtamskvida  gemeinsam  schöpften, 
die  mir  noch  immer  wahrscheinlich  ist,  leugnet,  könnte  der 
formelhafte  anfaug  als  altererbtes  dichtergut  sehr  wol  auch  ohne 
bestimmte  nachahmung  eines  liedes  dem  jüngeren  gedichte  eigen- 
tümlich gewesen  sein,  dort  wie  hier  handelt  es  sich  ja  um 
typisch    widerkehrende    Situationen,   die  eine  bestimmte  fürsorge 


RAGNARÜK  IN  DER  VOLUSIW  285 

oder  Vorsorge  erheischen,  und  die  Wahrscheinlichkeit,  das>  nicht 
erst  der  iuterpolator  die  formelhaften  Zeilen  zur  anknüpl'ung  be- 
nutzte,  würde  um  so  gröfser,  wenn  würklich,  wie  MüllenholT  an- 
nahm, vv.  9f  aus  demselben  alten  liede  stammten,  dem  v.  5f  an- 
gehörten, in  diesem  falle  würde  ja  auch  in  jenem  hruckstück 
eines  Schöpfungsliedes  die  halhstrophe  darin  stef-artig  verwendet 
sein,  wie  der  Völuspadichter  dies  so  würksam  in  dem  prägnanten 
gegensatz  von  vv.  24  und  26  getan  hat. 

Dass  dies  in  der  tat  der  fall  ist,  scheint  mir  die  glänzende 
deutung,  die  Hoffory  dem  unzweifelhaft  alten  Strophenpaar 
vv.  5f  gegeben  hat,  nur  zu  bestätigen  (Eddastudien  s.  73 ff): 
und  diese  erklärung  wird  ja,  da  ihr  sachlich  nichts  widerstreitet 
und  sie  die  einzige  ist,  die  ein  wahrhaft  grofsarliges  dichterisches 
gemälde  in  v.  5  vor  uns  entrollt,  noch  immer  last  allgemein 
geteilt,  gewis  ist  es,  worauf  Olsen  (Timarit  103 IT)  mit  recht 
hinwies,  nicht  so  ungeschickt  in  das  gedieht  eingefügt,  wie 
MüllenholT  und  nach  ihm  Hoffory  annahmen,  aber  zum  gedieht 
selbst  kann  die  hochpoelische  visa  von  der  mitternachtssonne  nie 
gehört  haben,  und  anderseits  ist  der  innerste  Zusammenhang  mit 
der  allerdings  weit  weniger  dichterischen  v.  6  durch  Hoflbrys  aus- 
führungen  (s.  83)  durchaus  gesichert,  wider  ist  aber  bei  dieser  er- 
klärung der  typische  Charakter,  der  sämtlichen  R-zusätzen  eigen  zu 
sein  pflegt,  klar,  die  uuregelmäfsigen,  unsern  dichter  erschreckendeu 
naturvorgänge  bei  der  mitternachtssonne,  die  ein  neues  chaos 
heraufzu führen  scheinen  (v.  5),  entsprechen  der  echten  v.  3;  die 
Strophe,  die  Ordnung  in  die  natur  durch  die  götler  wider  hinein- 
bringt (v.  6),  entspricht  völlig  v.  4.  also  auch  hier  wird  dem 
gedanken  des  Völuspadichters  eine  erweiterung  gegeben,  die 
seine  absieht  überschreitet,  und  die  ähnlichkeit  des  ideenganges 
im  alten  liedfragmente  war  neben  der  gemeinsamen  kehrstrophe 
der  innere  grund  der  anknüpfung. 

Auf  jeden  fall  hat  man  es  in  vv.  5f.  91,  wenn  sie  zusammen- 
gehören, dem  mythischen  Charakter  nach,  kaum  mit  einem  Jüngern 
zusatz  zu  tun  als  vv.  17  f,  wenn  auch  die  ausführungen  Ilofforys 
zeigen,  dass  heziehungen  zum  VVessobrunner  gebet  in  den  worten 
söl  ne  visse,  hvar  sale  alle,  mäne  ne  vüse,  hvat  megens  alte,  bei 
der  bestimmten  Situation,  die  diese  verse  hier  zeigen,  nicht  liegen 
können,  und  es  ist  daher  keineswegs  richtig,  wenn  Roer  (aao. 
s.  299)   den  zusatz  mit  der  echten  v.  4  in  Zusammenhang  bringt, 


286  NIEDNEK 

die  er  aus  dem  gedieht  ebenfalls  ausscheidet,  v.  4  zeigt  diese 
gemeingermanischen  Beziehungen  und  die  übrigen  von  Bugge 
(The  home  of  the  Eddie  poems  s.  xxxm)  hervorgehobenen  zu  alt- 
englischen gedichten  allerdings  deutlich,  wie  dies  auch  der  alten 
Völuspa  ganz  natürlich  ist,  und  hat  mit  unsrer  auf  einem  singu- 
Iären  mythenbilde  aufgebauten  Strophe  nichts  zu  tun.  im  übrigen 
ähnelt  das  interpolierte  strophenpaar  dem  letzten  der  grofsen 
Müllenhoffschen  interpolation  (vv.  19 f)  äulserlich  insofern  auf- 
fällig, als  auch  dies  mit  einer  hochpoetischen  Schilderung  des 
weltbaums  einsetzt,  der  die  folgende,  unzweifelhaft  dazugehörige 
nornenpartie  nicht  gleichkommt. 

Auch  dieser,  wie  die  sachliche  beziehung  zu  den  drei  nornen 
(v.  8)  zeigt,  sicher  älteste  zusatz  zeigt  ganz  den  Charakter  der 
übrigen  erweiterungen,  indem  er  in  doppelter  weise  erst  das  bild  der 
nornen  näher  ausmalt,  dann  aber  eine  paralleldarstellung  zu  der 
echten  Völuspastrophe  vom  weltbaum  v.  27  bringt,  die  Boer  zu 
einer  transposition  der  v.  18  B.  an  jene  stelle  veranlasste,  um 
auf  diese  weise  eine  ungemein  complicierte  erklärung  der  eut- 
stehung  des  strophencomplexes  vv.  28 — 30  zu  gewinnen,  die  mir 
indes  noch  künstlicher  erscheint  als  die  früher  besprochene 
Charakterisierung  der  visur  62  f  (vgl.  die  tabellarische  übersieht 
s.  368  f).  indes  auch  den  versuchen  'Olsens  (Timarit  15,  391) 
und  Heinzeis  (aao.  s.  18),  durch  annähme  eines  verschollenen 
mythus  in  der  echten  v.  8,  oder  slatuierung  einer  kühnen  pro- 
lepsis,  durch  die  die  nornen  an  jener  stelle  im  voraus  angekündigt 
wurden,  steh  ich  im  hinblick  auf  MüllenholTs  vortreffliche  aus- 
führungen  (DA.  v  103)  skeptisch  gegenüber,  der  echte  kern 
des  strophenpaares,  zu  dem  freilich  die  aufzählung  der  nornen 
kaum  gehört,  steht  nämlich  offenbar  in  seiner  gesamt heit  in 
parallele  zu  vv.  28  ff.  mit  recht  weist  Müllenhoff  jeden  gedanken 
einer  combination  der  beiden  mythenformen  vom  wellenbaum, 
wie  sie  in  widersinniger  weise  die  Gylfaginniug  versuche,  als 
unnötig  zurück,  nirgends  wie  hier  zeigt  sich  der  so  oft  beob- 
achtete Vorgang,  dass  eine  echte  partie  der  dichtung  ausgiebiger, 
als  im  plane  der  dichtung  ligt,  zu  illustrieren  versucht  wird, 
dass  der  weltbaum  über  dem  Mimirbrunnen,  aus  dem  der  quell- 
dämon  diesen  durch  stete  bewässerung  pflegt,  nach  Müllenhoff 
die  ältere  nordische  Vorstellung  des  mythus  darstellt,  macht  die 
jüngere,  die  in  dem  Wortlaut  unsrer  interpolation  vorligt,  deshalb 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA  2S7 

nicht  wertlos,  als  schöne  dichtung  bezeichnet  er  sie  ebenfalls 
und  weist  ihr,  die  den  hohen  bäum  immergrün  Ober  dem  Urdar- 
brunnen  stehn  lässt,  wo  die  nornen,  die  der  Zeiten  wallen,  seine 
pflegerinnen  sind,  eine  durchaus  selbständig  berechtigte  poetische 
Stellung,  nur  nicht  im  zusammenhange  des  gedichts,  an.  nirgends 
wie  bei  diesem  R-zusatz  wird  aber  das  zusammentreffen  rein 
äufserlicher  und  innerlicher  anknüpfungsmotive  so  deutlich,  wie 
gerade  hier,  war  die  äufsere  anknüpfung  durch  den  gleichklang 
in  vv.  8  und  20  (drei  mä'dchen)  einmal  gegeben,  so  wurde  sie 
durch  die  denkbar  naturgemäfse  Verknüpfung  der  nornen  mit 
dem  Schicksal  des  weltbaums,  wie  eine  solche  in  parallelen  liedern 
vorlag,  aufs  würksamste  unterstützt. 

Worauf  es  uns  hier  lediglich  ankam  :  wir  sehen  in  allen 
Zusätzen  der  grofsen  interpolation  denselben  Charakter  wie  in  der 
Ragnarükpartie.  an  eine  einheitliche  interpolierung  möcht  ich 
indes  hier  wie  dort  nicht  glauben,  schon  die  anordnung  in 
den  erweiterungen  spricht  in  den  Zusätzen  des  ersten  teils  gegen 
einen  einheitlichen  schöpfungsdichter. 

Interessant,  wenn  auch  nicht  irgendwie  von  beweisender 
kraft,  ist  das  Verhältnis  zu  der  Überlieferung  der  Snorra-Edda. 
fast  sämtliche  Zusätze  in  R  nennt  oder  kennt  diese  wenigstens: 
die  ausnähme  mit  v.  63  kann  auf  zufall  beruhen,  da  hier  die 
quelle  der  Vafthrudnismal  ausgiebig  ausgebeutet  wurde  und  die 
Überlieferung  beider  gedichte  sich  durch  contamination  schwer 
vereinigen  liefs.  von  den  H-strophen  aber  kennt  die  Gylfaginning 
v.  65  und  40,  3.  4  sicher  nicht,  kaum  auch  hat  sie  v.  48  f  und 
30,  1.  2  vor  äugen  gehabt,  auch  dies  spricht  für  den  späten 
litterarischen  Charakter  dieser  zusätze  im  gegensatz  zu  den  my- 
thisch-organischen der  R-zusalzstrophen. 

Spricht  so  die  gleichartigkeit  des  interpolationengewächses, 
das  allmählich  das  alte  gedieht  umrankt  hat,  für  die  einheitlichkeit 
des  Völuspakernes,  so  ergibt  schon  eine  oberflächliche  belrachtung 
der  anläge  auch  den  völligen  parallelismus  der  abschnitte,  die  die 
Vergangenheit  und  die  Zukunft  darstellen,  in  ihrer  gesamtheit.  die 
entsprechung  der  früher  besprochenen  visur,  die  das  goldene  Zeit- 
alter der  götler  in  der  alten  und  in  der  neuen  weit  schildern,  würde 
sicher  noch  lebendiger  hervortreten,  wenn  nicht  die  halbstrophe 
v.  61,  3.  4,  die  offenbar  eine  weitere  ausmalung  der  glücklichen 
neuen   ära   enthielt,    verloren    wäre,     hervorgehoben   zu    werden 


288  N1EDNER 

verdient  auch,  dass,  genau  wie  der  blick  des  dichters  im  neuen 
götterreiche  nach  ßaldrs  erscheinen  in  eine  unendliche  ferne 
zukuuft  schweift,  er  vor  der  weltschöpfung  und  dem  seligen 
Zeitalter  der  Äsen  sich  in  die  unermessliche  urzeit  verliert,  und 
eine  ähnliche  differenzierung  der  zeit  findet  noch  einmal  in  den 
abschnitten  vor  den  gölterfehden  statt,  die  beidemal  den  kern- 
puuct  des  vergangenheits-  und  Zukunftsabschnittes  bilden,  die 
partieen,  die  von  Odins  Verhältnis  zu  Mime  und  seiner  göttlichen 
fiirsorge  handeln,  ragen,  obvvol  der  dichterischen  einkleidung 
nach  zu  Vergangenheit  und  Zukunft  gehörig,  doch  in  ihrer  actu- 
ellen  bedeutung  beidemal  hart  in  den  gegenwartsabschnitt  hinein, 
die  beiden  partieen  aber,  die  den  eigentlichen  kern  der  ver- 
gangenheits- und  zukunflsepisode  enthalten,  correspondieren 
ebenfalls  in  der  anläge  auf  das  glücklichste,  stellen  hier  die 
götterfehden  in  der  tötung  des  riesischen  baumeisters  durch  Thor 
das  entscheidendste  document  der  machtstellung  der  Äsen  dar, 
enthalten  sie  jedoch  in  dem  bruch  der  beschworenen  eide  schon  den 
keim  ihres  Unterganges,  so  war  dort  der  riesenkampf  das  end- 
giltige  zeugnis  ihrer  Zertrümmerung,  indes,  da  auch  die  riesen 
fallen,  zugleich  die  vorbedinguug  für  ein  neues  mächtiges  Asen- 
reich.  und  dem  bedeutsamsten  ereignis  vor  dem  neuen  goldnen 
Zeitalter  dort  entspricht  hier  gleichfalls  das  folgenschwerste,  die 
Verkettungen  unglücklicher  fehden,  die  in  v.  26  ihren  höhepunct 
erreichen. 

Sind  auch  die  Vorgänge,  die  in  fortschreitender  Steigerung 
zur  entscheidenden  Verschuldung  der  götter  führen,  complicierter 
als  der  riesenkampf  im  zweiten,  und  die  drastik  und  kürze  des 
ausdrucks,  die  uns  schon  die  beiden  Thorstrophen  R  27  und  53 
vergleichen  liefs,  hier  noch  stärker,  der  beherschende  grund- 
gedanke,  wie  er  in  Müllenhoffs'ausführungen  (DA.v95 — 99)  zutage 
tritt,  verbreitet  doch  über  das  ganze  durch  die  identiücierung 
der  Gullveig-Heib-Freyja  vollkommene  klarheit,  die  Boers  athetesen 
nirgends  notwendig  erscheinen  lassen.  Boers  bedenken  sind  im 
wesentlichen  dreierlei  art.  zunächst  sieht  er  eine  unerträgliche 
tautologie  darin,  dass  es  in  v.  21,  wo  von  der  mishandlung  der 
Gullveig  die  rede  ist,  heifst:  pat  man  folkvig  fyrst  i  heime,  und  v.  24, 
da  von  Odins  speerwurf  geredet  wird,  noch  einmal:  pat  vas  enn 
folkvig  fyrst  i  heime  (s.  300).  sodann,  dass  die  Gullveig- Heid- 
geschichte nicht  nur  nach  der  absieht  des  dichters,  sondern  auch 


RAGNAKÖK  IN  I»EK  VÖLÜSPA  239 

des  angeblichen  interpolators  mit  dem  Vaneukriege  nichts  zu  tun 
habe,  wodurch  die  tiefsinnige  iuterpi etation  dieses  mythus  durch 
Mülleuhoff  verurteilt  sei  (s.  303).  endlich  aber,  dass  auch  v.  23 
im  gegebenen  Zusammenhang  interpoliert  sein  müsse,  da  offenbar 
die  beratungen  in  ihr  vor  dem  Vanenkrieg  eine  ganz  andre  form 
des  Vanenmythus  voraussetzen  als  v.  24,  indem  im  ersten  fall 
die  gölter  sieger  blieben  wie  in  der  darslellung  der  Ynglingasaga, 
während  im  letzten  die  Vanen  den  sieg  davon  trugen  (s.  304  f). 
keines  dieser  drei  argumente  scheint  mir  indes  stichhaltig,  wenn 
man  sich  nur  die  souveräne  art  vergegenwärtigt,  wie  der  dichter 
die  überlieferten  mythen  seinen  zwecken  auch  sonst  dienstbar 
macht  (Olrik  aao.  s.  270),  so  dass  er  sowol  den  Vanenkrieg  wie 
die  episode  mit  dem  riesischen  baumeister  anders  als  die  land- 
läufige Überlieferung  vorträgt,  um  sie  zu  verknüpfen,  anderseits 
aber  die  beabsichtigte,  offenbar  auf  höchste  Spannung  der  Zu- 
hörer berechnete  kunst  erwägt,  mit  der  er  das  voteqov  nQÖreqov 
doppelt  (w.  21  f.  23  f)  verwendet. 

Der  gedanke  von  der  verderblichen  macht  des  goldes,  der 
ja  gerade  in  germanischer  phantasie  und  dichtung  von  jeher  eine 
so  groi'se  rolle  gespielt  hat  und  insbesondere  in  den  Eddaliedern 
auch  sonst  spielt,  ist  das  einigende  band,  das  diese  ganzen 
Strophenreihen  ungezwungen  aneinander  schlielst.  kann  man 
doch  darin  eine  deutliche,  sich  immer  dramatischer  steigernde 
scala  verfolgen,  in  den  worten  vas  peim  vcetterges  vant  ör  golle 
sehen  wir  das  gold  noch  in  seiner  unschuldigen  würkung  auf 
die  phäakenhaft  sorglos  dahinlebenden  götter,  die  sich  an  der 
anfertigung  goldener  Schmiedearbeiten  ergötzen,  die  v.  21  leitet 
danu  allmählich  aus  der  Vorstellung  des  metalls  zu  der  auffassung 
einer  persönlichen,  verführerisch  würkenden  dämonischen  gottheit 
über,  anders  kann  ich  mir  den  sinn  nicht  erklären,  wenn  die 
mishandlung  der  göttin  durch  die  götter  auch  in  der  darslellung 
des  gedichts  in  derselben  weise  erfolgt,  wie  von  altersher  die 
procedur  der  goldläuterung  vor  sich  gieng  (Müllenhoff  aao.  s.  36. 
Heinzel  aao.  s.  31).  in  den  nach  dieser  richlung  doppelsinnigen 
worten  prysvar  brendo,  prysvar  borna  ist  das  deutlich  zum  aus- 
druck  gebracht,  die  nächste  Steigerung  finden  wir  dann  in  der 
gestalt  der  Heid,  die  als  Zauberin  spuk  treibt,  wie  sie  kann: 
hier  ist  die  personification  bereits  vollendet,  und  mit  recht  sehen 
Müllenhoff  und  Heinzel  in  ihr  eine  hypostase  der  Freyja,  die  ja 
Z.  F.  D.  A.  XL1X.     N.  F.  XXXVII.  t9 


290  N1EDNER 

auch  sonst  als  zauberin  gedacht  ist.  durch  sie  wird  die  Ver- 
knüpfung mit  dem  Vanenabenteuer  vorbereitet:  von  den  Vanen  näm- 
lich, aus  denen  Freyja  stammt,  kommt  den  Äsen  das  weitere  unheil, 
das  dann  zum  moralischen  eidbruch  führt,  einerseits  wird  näm- 
lich durch  die  aufnähme  der  Vanen,  der  reichen  handelsgütter, 
die  olympische  naivelät  des  alten  göttergeschlechts  endgiltig  er- 
schüttert, anderseits  wird  widerum  die  Vaniu  Freyja  das  streit- 
object  bei  dem  ganzen  vertrag  mit  dem  riesen,  das  dann  in  v.  27 
zur  Verschuldung  führt. 

Hält  man  diesen  gedaukengang  fest,  dann  schwinden  alle 
gegen  die  innere  einheit  der  parlie  erhobenen  bedenken  leicht, 
nimmt  man  nämlich  eine  solche  kette  von  würkungen  der  Gullveig 
an,  so  ist  es  ganz  natürlich,  dass  auf  den  ersten  kämpf  zweimal 
hingewiesen  wird,  das  erste  mal  an  der  stelle,  wo  die  unheil- 
volle würkung,  die  streit  und  Zerwürfnis  heraufbeschwört,  beginnt, 
das  zweite  mal,  wo  sie  in  dem  tatsächlichen  kämpfe  Odins  ihren 
höhepunct  erreicht  und  wo  dann  zugleich  das  folgenschwerste 
ereignis  des  ersten  teils,  der  Zwiespalt  mit  den  riesen,  einsetzt, 
das  enn  (v.  24)  ist  also  von  der  gröslen  Wichtigkeit,  der  un- 
gemein prägnante  sinn,  der  in  ihm  ligt,  wird  vielleicht  durch 
Gering  (grofses  glossar  s.  211)  noch  treffender  als  Müllenhoffs 
'ferner'  durch  'immer  noch'  übersetzt,  die  vorausdeutung  an 
erster  stelle  aber  gehört  in  dieselbe  kategorie  würksamer  pro- 
lepsen,  die  wir  schon  widerholt  im  verlauf  unserer  darstellung 
fanden,  gerade  bei  dem  sprunghaften  und  sich  fast  durchweg 
nur  in  andeutungen  ergehenden  Stile  dieser  ganzen  episode  war 
eine  hindeutuug  auf  den  kernpunct  des  mythischen  Zusammen- 
hangs hier  besonders  erwünscht. 

Ebenso  ist  bei  unserer  auffassung  an  einer  Zusammengehörig- 
keit des  Gullveig-Heid-mythus  mit  dem  vom  Vanenkriege  nicht 
zu  zweifeln,  die  worle  Heipr  —  seip,  hvars  kanne,  seip  hug- 
leikenn  und  knötto  vaner  vigskö  vgllo  sporna  bedeuten,  wenn 
würklich  Heid-Freyja  eine  abgesante  der  Vanen  ist,  wie  Müllen- 
hoff,  gestützt  auf  die  parallele  von  Ynglingasaga  c.  4  annimmt, 
inhaltlich  genau  dasselbe,  nämlich  den  verderblichen  einfluss,  den 
das  neue,  den  reichtum  darstellende  dement  auf  die  götter  ausübt, 
einen  weitem  Zusammenhang  freilich,  wie  ihn  Olsen  zwischen 
w.  22  und  23  ansetzt  (Timarit  15,331),  im  hinblick  auf  die 
beratungen  der  götter,  kann  ich  nicht  annehmen. 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLÜSPA  291 

Vor  allen  dingen  aber  :  die  behauptete  uneinheitlichkeit  der 
vv.  23-  24  besteht  in  keiner  weise,  wenn  in  der  Ynglingasaga 
e.  4  ausdrücklich  die  Äsen  als  die  angreifer  der  Vanen  bezeichuet 
werden,  die  dort  ihr  land  verteidigen,  und  wenn  von  längeren»  krieg 
und  wechselndem  kriegsglück  gesprochen  wird,  so  weicht  unsere 
Völuspadarstellung  zwar  ab,  indes  doch  nur  gerade  so  weit,  als 
die  Verbindung  mit  dem  Gullveig-mythus  dies  notwendig  machte, 
naturgemäfs  muste  die  initiative  der  Vanen  hier  urgiert  werden, 
so  dass  die  worte  brotenn  vas  borpveggr  borgar  dsa,  knötto  vaner 
vigskö  vgllo  sportia  sie  nicht  nur  in  die  rolle  der  angreifer  rücken, 
sondern  auch  als  endgiltige  sieger  erscheinen  lassen,  genau  auf 
diesem  boden  des  abgeänderten  mythus  aber  stehn  die  angaben 
der  visa  23.  was  die  götter  dort  beraten,  kann  sich  unmöglich 
auf  die  Vorgänge  in  v.  22  beziehen,  wie  Olsen  (Timarit  15,  3311) 
meint,  so  dass  es  sich  um  die  frage  gehandelt  hätte,  ob  die  Äsen 
allein  oder  zusammen  mit  den  Vanen  die  bufse  für  den  tod  der 
Gullveig-Heid  entrichten  sollten,  von  einer  bufse  für  deren  tod 
konnte  füglich  überhaupt  keine  rede  sein,  da  v.  21  deutlich  zeigt, 
dass  sie  wol  mishandelt,  aber  nie  getötet  wird  und  immer  in 
anderer  gestalt,  ganz  ihrer  symbolischen  bedeutung  gemäfs,  wider 
auflebt  :  die  ervveiterung  opt  ösjaldan  :  —  pö  enn  Ufer  bringt 
diesen  selbstverständlichen  gedankeu  überflüssiger  weise  noch 
zum  ausdruck.  es  kann  sich,  und  in  diesem  puncte  stimmen  ja 
Müllenhoff  (aao.  s.  98)  und  Heinzel  (aao.  s.  33)  völlig  zusammen, 
durchaus  nur  um  mafsnahmen  handeln,  die  die  einrichtung  des 
neuen,  gemeinsamen  götterstaates  betreffen  :  unter  dieser  Voraus- 
setzung aber  scheint  mir  die  Mülleuhoffsche  erklärung,  dass  die 
Aseu  und  Vanen  gemeinsam  erwogen,  'ob  die  Äsen  schoss  zahlen 
sollten,  oder  die  götter  alle  sollten  opfer  haben',  noch  immer  die 
natürlichste,  die  dem  Zusammenhang  am  meisten  gerecht  wird, 
auch  die  sprachlichen  einwände,  die  gegen  die  deutung  von 
afrdp  gjalda  im  norwegischen  sinne  als  'abgäbe,  tribut  zahlen' 
und  gegen  gilde  eiga  als  'anrecht  auf  opfer  haben'  erhoben  sind, 
und  die  zu  anderer  erklärung  der  Situation  anlass  gaben,  können 
sein  ergebnis,   glaub  ich,   sachlich   kaum  verändern  *.     denn  das 

1  Heinzel  entscheidet  sich  an  erster  stelle  für  die  erklärung  'ob  die 
Äsen  hier  bufse  erleiden  und  alle  götter  (Äsen  ebenso  wie  Vanen)  opfer  er- 
halten sollen'  und  bezieht  die  erwägung  auf  einen  entsprechenden  ansprucli, 
den    die  Vanen    an    sie    gestellt  haben.     Boer  (aao    s.  304)  denkt   an  eine 

19* 


292  NIEDNER 

ergebnis,  dass  es  zu  einer  Vereinigung,  zu  einem  göücrstaate 
kam,  worauf  der  vielbesprochene  visuhelming  23,3-4  abzielt, 
war  ja  nicht  neuerung  des  Yöluspadichters,  sondern,  wie  der 
vergleich  der  Ynglingasaga  zeigt,  eigeutum  des  mylhus  selbst. 

Ist  so  die  genaue  entsprechung  der  ganzen  vergangenheits- 
uod  zukuuflsparlie  in  vollem  umfange  zu  tage  getreten,  so  können 
daran  die  nachdrücklichen  erwähnungeu  der  Vojva  in  v.  lf  und 
vv.  28 ff,  die  im  dritten  teil  kein  gegensliick  haben,  natürlich 
nichts  ändern,  denn  noch  in  diesem  ersten  teil,  bevor  sie  mit 
der  Vergangenheit  abschloss,  muste  sie  sich  ja  als  prophetin 
legitimieren,  hier  ist  eben  deutlich  die  stelle,  wo  noch  das  muster 
der  Völuspä ,  das  alte  Vegtamslied  ,  klar  hindurchschimmert, 
'vv.  28 ff  lassen  noch  ganz  deutlich  das  alte  vorbild  erkennen', 
ich  freue  mich,  diese  worte  Wilkens  (Zs.  f.  d.  ph.  33,  328),  mit 
dem  ich  sonst  so  wenig  berührungspuncte  habe,  voll  unter- 
schreiben zu  können. 

Treff  ich  in  der  auffassung,  dass  der  dichter  der  Völuspa 
durch  ein  solch  älteres  Vegtamslied  angeregt  wurde,  die  zukuufts- 
prophezeiungen,  die  sich  dort  auf  Baldrs  Schicksale  allein  be- 
zogen, auf  die  gesamtentwicklung  der  götter-  und  menschen- 
geschicke  auszudehnen,  vollkommen  mit  Wilken  zusammen,  so 
kann  ich  ihm  doch  schon  darin  nicht  mehr  folgen,  wenn  er  die 
mittlere  partie  des  gedichts,  zu  der  wir  uns  ja  zum  schluss 
wenden  wollten,  als  gegenwartsabschnitt  im  sinne  Mülleuhoffs 
läugnet.    ich  meine,  dass  dies  im  hinblick  auf  das  alte  Vegtams- 

musterung  vor  dem  kämpf,  die  Äsen  erwägen,  ob  sie,  wenn  der  krieg  aus- 
breche, eine  niederlage  erleiden  {af'raü  =  afhroü)  oder  endlieh  den  !«ieg 
davontragen  werden.  'Olsen  endlich  (Timarit  15,  33  ff)  erklärt  gilde  eiga 
für  gjalda,  afräp  prjalda  =  ferJ5a  firir  nkada.  in  seiner  beziehung  auf 
v.  22  steht  er,  wie  oben  bemerkt,  einsam  da,  ebenso  in  der  auffassung  von 
gilde  eiga,  die  Boer  sprachlich  nicht  völlig  mitmachen  kann.  Boers  auf- 
fassung selbst  steht  aber  sachlich  überhaupt  nicht  notwendig  in  Widerspruch 
mit  der  form  des  Vanenmythus  in  v.  24:  diese  erwägungen  konnten  die 
Äsen  doch  auch  anstellen,  wenn  sie  einen  angriffskrieg  der  Vanen  befürchteten. 
Heinzeis  erklärung.  endlich  würde  —  da  die  Äsen  doch  die  besiegten  sind  — 
ebenso  gut  auf  die  Situation  nach  dem  kämpfe  passen,  seine  auffassung  des 
afräp  gjalda  ist  ja  augenscheinlich  die  jetzt  ziemlich  allgemein  angenom- 
mene, und  ich  meine,  dass,  wenn  man  sie,  die  'Olsen  von  seinem  isländischen 
standpuncte  aus  eingehend  verteidigt  hat,  acceptiert,  kann  Mülleuhoffs  iots- 
qov  tiqoxeqov  doch  ruhig  bestehn. 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA         293 

lied  ebensowenig  notwendig  ist,  wie  jene  umfangreiche  atlietese, 
die  er  mit  dem  ganzen  ersten  teil  des  gediclits  vornahm,    soweit 
der  anfang   unseres  liedes  durch  die  oil'enhare  verwanlschaft  vou 
v.  28  ff   mit   dem    älteren    gedichte,    die  wir  ja    beide   annehmen, 
festgelegt  werden  soll,    kann  ich  ihm  in  keiner  weise  mehr  bei- 
stimmen,    wenn    ich    in    meiner    frühern    arbeit  (Zs.  41,  38)  an- 
nahm, dass  der  Völuspadichter  durch  das  ältere  gedieht  angeregt 
wurde,  die  Weltschicksale  nicht  nur  in  die  Zukunft  hinein,  sondern 
auch  tief  zurück  in  die  Vergangenheit  durch  die  Seherin  beleuchten  zu 
lassen,  so  glaub  ich  dem  künstlerischen  Charakter  des  dichters,  wie 
er  auch  sonst  hervortritt,  gerechter  geworden  zu  sein  als  Wilken. 
unterstützt  wird  meine  Voraussetzung  schon  durch  den  eben  be- 
handelten vollkommenen  parallelismus  der  abschnitte  der  Vergangen- 
heit und  zukunft  aufs  würksamste.    ich  meine  aber,  eine  eingehnde 
betrachtung  der  mittelpartie,    die  Wilken  als  gegenwart  verwirft, 
dürfte   sie   noch    fester   begründen,     es  ergibt  sich  nämlich  hier 
innerhalb    des    gegenwartsabschuittes    sofort   die  gleiche,    bewust- 
kunstvolle    auordnung    hinsichtlich    der    zeit,    wie  bei    der    ver- 
gangenheits-  und  zukunflsschilderung,  und  die  eigentlichste  gegen- 
wart,   von  der  der  dichter  ausgeht,    ligt  offenbar  in  vv.  36 — 39. 
Es  sind  deutlich  drei  gruppen  von  Strophen  zu  unterscheiden. 
die  erste  (vv.  31 — 35)  erzählt  die  tragodie  von  Baldrs  tode.    die 
zweite  (vv.  36 — 39)  gibt,   äufserlich  zunächst  scheinbar  ganz  zu- 
sammenhangslos, eiue  Schilderung  der  verschiedenen  säle  hei  Hei. 
die  dritte  (vv.  40 — 43)  beschäftigt  sich  mit  hindeutungen  und  zum 
teil  auch  prokptischen  erürterungen  der  Zukunftstragödie,  für  die 
Wichtigkeit,    die    dem    gegenwartsabschnilt    als    kernpunet   seiner 
dichtung  vom  dichter  beigemessen  wird,  spricht  schon  die  breite 
der  ausmalung,    die  in  allen  teilen  dieser  partie  in  keinem  ver- 
hiillnis    zu   dem    sonst   rapiden   fortgang    der   handlung    im   liede 
steht,     die    eigentliche    Baldrpartie   umfasst    fünf  visur,    die    dar- 
stellung  der  Unterwelt,  falls  man  v.  36,  wie  man  muss,  als  defect 
betrachtet,  vier  visur.    zwei  Strophen  nimmt  der  sonnenwolf,  zwei 
die  hähnepartie  in  anspruch  (40  f.  42  fj.    von  diesen  abschnitten 
fällt  der  tod  Baldrs,  streng  mythisch  genommen,  noch  in  die  Ver- 
gangenheit :  das  letzte,  bedeutsamste  ereignis  derselben,  das  durch 
seine  actuelle   hedeutung   aber  ein  lebendiger  teil  der  gegenwart 
wird,     die  saalparlie  schildert,  wie  schon  ein  vergleich  von  vv.  38  f 
mit  45  zeigt,  einfach  gegenwärtige  zustände,    dagegen  greift  der 


294  N1EDNER 

letzte  abschnitt  —  das  bedeutungsvolle  krähen  der  bahne '  — 
schon  hart  in  die  Zukunftsereignisse  über,  der  innere  Zusammen- 
hang, der  die  drei  teile  verbindet,  ist  im  ganzen  vollkommen 
klar,  naturgemäfs  führt  Baldrs  tod  auf  das  reich  Hels,  und  ebenso 
uaturgemäfs  schliefst  sich  die  kündung  kommenden  Unheils  an 
die  verbrecherscenen  im  höllischen  saale.  nur  in  der  äufseren 
anknüpfung  klafft  nach  v.  35  eine  lücke.  hier  ist  die  defecle 
v.  36  verhängnisvoll  geworden. 

Dass  die  ergänzung  des  zweiten  helmings  von  v.  36  nach 
der  erwäbuuug  des  höllenflusses  Slip  —  so  fasst  mau  diesen  ja 
jetzt  allgemein  auf  —  eine  bedeutsame  bemerkung  enthalten 
haben  muss,  die  über  die  gesamte  höllensaalpartie  licht  verbreitete, 
zeigt  die  Ungereimtheit  der  ganzen  Vorstellung,  die  sich  bei  der 
jetzigen  Überlieferung  ergibt,  dass  erst  der  reifsende  fluss  mit 
messern  und  Schwertern,  der  durch  gifttäler  strömt  und  schon 
dem  wortlaut  nach  au  den  INaströudsaal  in  v.  39  erinnert  (vgl. 
d  feür  aiislan  um  eilrdala  und  fello  eitrdropar  inn  of  Ijöra),  so 
drastisch  ausgemalt  wird,  dann  plötzlich  zwei  unterweltliche 
Phäakenheime  erwähnt  werden,  und  dann  widerum  die  fürchter- 
lichste höllenlandschaft  geschildert  wird,  darin  ligt  ein  mis- 
verhältnis.  FJönsson  hat  dies  misverhältnis  wol  empfunden, 
wenn  er  (Literaturhistorie  l  136)  die  Strophe  von  den  Phäaken- 
sälen  glatt  streicht,  jedesfalls  nicht  weniger  gewaltsam  als  diese 
atbetese,  die  ja  widerum  nur  unter  der  annähme  derselben  lehr- 
haften tendenz  des  Verfassers  dieser  Strophe  verständlich  würde, 
die  Sijmons  dem  echten  Völuspadichter  beimessen  wollte,  ist  doch 
wol  der  versuch  der  inhaltlichen  ausfüllung  unsrer  lücke,  zu  der, 
wie  ich  meine,  am  besten  widerum  das  zurückgreifen  auf  das 
vorbild  des  Völuspadichters,  jene  alte  Vegtamskvida,  verhilft. 

1  an  die  ursprünglichkeit  dieser  darstellung  ist  trotz  Boers  einwänden 
durchaus  nicht  zu  tasten  :  in  treffender  weise  wird  in  diesen  mythischen  not- 
signalen  noch  einmal  am  schluss  auf  den  ganzen  abschnitt  vv.  40  f  (götter- 
weit), v.  36  ff  (unterweit)  und  v.  31  ff  (Äsen weit)  zusammenfassend  zurück- 
gewiesen, ich  treffe  in  dieser  beibehaltung  des  überlieferten  mit  Sijmons 
(Edda  s.  cccxlvii)  zusammen,  nicht  aber  in  der  begründung.  denn  mit  dem 
mafsstab  didaktischer  dichter  darf  die  Völuspa  sicher  nicht  gemessen  werden, 
nur  die  Überlieferung  ist  offenbar  daran  schuld,  dass  die  bedeulung  der  drei 
säle,  die  Sijmons  als  parallele  für  die  lehrhafte  neigung  des  Völuspadichters 
herbeizieht,  verdunkelt  wurde,  und  in  der  charakteristischen  auf- 
zühlung  von  walkürennamen  (Müllenhoff  DA.  5,111)  ligt  ebenfalls  kein  heitatal 


RAGNARÖK  IN  DER  VÖLUSPA  295 

Retrachtet  man  die  jüngere»  'Raldrs  draumar',  die  ja  ebenfalls 
aus  jener  schöpften,  so  ergeben  sich  —  wie  bekannt  —  zwischen 
diesem  gedieht  und  der  Völuspa  die  auffallendsten  sachlichen  Über- 
einstimmungen, nahezu  alle  motive  des  jüngeren  liedes  kehren  in 
unserm  gediebte  wider,  nämlich  die  Völva  in  ihrem  Verhältnis  zu 
Odin,  das  Heireich,  der  hölleuhund,  die  episode  von  Raldrs  tötuog, 
seine  räche  durch  Vali  und  endlich  die  beziehung  auf  die  Rag- 
uarök  selbst,  ja  wenn  die  rätselhafte  anspielung  in  v.  12  auf 
Fiiggs  äugen  gedeutet  werden  könnte  (Edzardi  Germ.  27,  337) 
—  eine  unbestrittene  erklärung  fehlt  noch  — ,  würde  selbst  das 
weinen  der  götlermutter  nicht  fehlen,  auf  keinen  fall  haben  wir 
grund,  auch  dieseu  letzten  zug  wie  alle  übrigen  genannten,  dem 
alten  Vegtamsliede  abzusprechen,  wenn  auch  jenes,  worauf 
FJönssou  (aao.  s.  147)  mit  recht  weist,  sicher  mit  einer  würk- 
samereu,  dem  schluss  der  Vafthruclnismal  ähnlichen  rätselfrage 
schloss. 

Sicher  nicht  correspoudiert  mit  dem  vorliegenden  text  der 
Vüluspa  Vegtamskvida  7,  wo  von  Raldrs  verweilen  in  der  unter- 
weit gesprochen  wird,  und  wo  es,  nachdem  vorher  (v.  3)  von  dem 
hoben  gemach  der  Hei  die  rede  war,  heifst  :  'hier  steht  für  Raldr 
gebraut  das  mahl,  der  schimmernde  trank,  ein  schild  ligt  darüber', 
kann  es  nun  eine  passendere  ausfüllung  der  lücke  in  v.  36  geben, 
als  eine  einfügung  dieses  bildes  dem  sinne  nach  in  unsre  paitie? 
dächte  man  sich  die  visa  36  mit  bezug  auf  Vegtamskvida  3.  7 
etwa  so  hergestellt  :  A  fellr  austan  um  eidrdala  spxom  ok  sverpom, 
Slipr  heiter  sü.  pytr  at  hövo  Heljar  ranne:  par  stendr  Baldre 
of  bruggenn  mjopr,  so  wäre  jedesfalls  in  dreifacher  hinsieht  eine 
dem  sinne  nach  angemessene  anknüpfung  gefunden. 

Zunächst  ist  die  härte  des  äufseren  Zusammenhangs  ge- 
mildert, die  reihenfolge  'hölleufluss  —  unterweltselysium  — 
unterweltstartarus'  wird  nun  erst  recht  verständlich,  da  auf  der 
einen  seite  ein  hüllenstrom,  der  von  Raldr  überritten  werden 
muss,  ehe  er  in  sein  unterweltliches  domicil  gelaugt,  auch  in  der 
Gylfaginuing  c.  43  erwähnt  wird,  also  zur  mythischen  tradilion, 
die  der  Völuspadichter  vorfand,  gehörte,  auf  der  andern  seite 
aber  die  phäakenhaften  riesen-  und  zwergensäle  in  v.  37  äufser- 
lich  zunächst  den  guten  zweck  verfolgen,  die  andeutung  von 
Raldrs  elysäischer  wohnung  würksam  zu  unterstützen,  der  gold- 
saal  Siudi  is  wie  der  biersaal  des  jöten  Rrimir  schliefsen  sich  eng 


296  NIEDNER 

au  diese  Vorstellung  vou  Baldrs  behausung  an,  wie  sie  nach 
der  weiten  ausführung  Vegt.  6  vorausgesetzt  werden  muss. 

Sodann  fällt  aber  bei  der  vorgeschlagenen  ergänzung  auch 
auf  den  inuern  Charakter  der  visa  37  erst  das  richtige  licht,  es 
ist  höchst  bedeutsam  und  der  anläge  des  liedes  durchaus  ent- 
sprechend, wenn  im  gegensatz  zu  den  menschen,  die  vernichtet 
werden  sollen  und  deren  schon  vernichtete  exemplare  uns  in 
vv.  3Sf  vorgeführt  werden,  in  v.  37  der  triumphierende  riese 
Brimir  sein  leben  ebendort  in  walhallischer  wonne  verbringt 
und  in  seinem  saal  in  Unkühlbeim  symbolisch  die  zunächst  ja 
auch  siegende  vßqig  der  riesen  widerspiegelt,  aber  erträglich 
wird  dieses  bild  doch  erst,  wenn  gleichzeitig  der  künftige  herscher 
der  erneuten  well  hier  schon  als  tröstendes  gegenbild  in  der 
unterweit  daneben  steht,  wie  in  einem  schattenhaften,  aspho- 
delischen  Vorspiel  erscheinen  hier  also  die  drei  hauptmotive  der 
kommenden  Ragnarök  :  'die  zunächst  die  Zerstörung  herbeiführen- 
den, dann  aber  selbstfallendeu  riesen,  die  vernichteten  menschen,  die 
aber  der  Verjüngung  der  götter  entsprechend,  neue  glückliche  nach- 
folger  in  der  widererstandenen  weit  erhalten,  und  endlich  der  künf- 
tige herscher  der  neuen  weit,  der  bei  Hei  seiner  widerkehr  wartet'. 

Endlich  —  und  dies  erscheint  nach  vornähme  unserer  er- 
gänzuug der  v.  36  das  wichtigste  —  wird  auch  die  oben  er- 
wähnte centrale  Stellung  der  vv.  36 — 39  innerhalb  der  gegenwarls- 
partie  vollkommen  in  ihrer  berechtigung  deutlich,  denn  nicht 
die  Vorgänge  bei  der  tötung  stellen  ja  recht  eigentlich  den  aus- 
gangspuuet  der  betrachtung,  die  gegenwart,  von  der  die  Seherin 
ausgeht,  dar,  sondern  der  zustand,  dass  Baldr  bei  Hei  weilt, 
er  erst  vervollständigt  das  gegenbild,  das  vv.  36  ff  zu  vv.  62.  64. 
66  darstellen  und  lässt  mon  Baldr  koma  dort  wolvorbereitet  und 
verständlich  im  gedichte  erscheinen. 

Obwol  ich  meine,  dass  eine  ergänzung,  ungefäbr  wie  die 
vorgeschlagene,  auch  unabhängig  von  der  annähme  einer  älteren 
Vegtamskvida  als  anregende  quelle  des  Völuspadichters,  aus  der 
anläge  des  ganzen  gedichtes  wahrscheinlich  wird,  bin  ich  doch, 
wie  ich  schon  oben  hervorhob,  durch  die  ansichten,  die  eine 
solche  ältere  vorläge  verwerfen,  bisher  in  meiner  auffassung  nicht 
erschüttert  worden,  am  wenigsten  durch  die  ganze  bebandlung, 
die  der  für  diese  frage  in  betracht  kommende  teil  des  Völuspa- 
textes  durch  die  letzte  ausführliche  Untersuchung  des  Baldrmylhus 


RAGNARÜK  IN  DER  VÖLÜSPA  297 

vou  Friedrich  Kauffmaun  (1902)  gefunden  hat.  erschöpfend  auf 
seine  singulare  auffassung  Raldrs  einzugehn,  ist  hier  nicht  der 
ort,  und  es  wird  dazu  gelegenheit  sein,  wenn  ich  einmal,  wie 
dies  meine  absieht  ist,  die  Untersuchung  über  den  Ragnarökmy- 
thus,  auf  den  ich  mich  hier  beschränkte,  principiell  auf  die 
ganze  Völuspa  auszudehnen  unternehme,  dass  aber  KaulTmanns 
erklarung  von  dem  wesen  Raldrs  in  dieser  unsrer  besten  und  ältesten 
erhaltenen  quelle  ohne  gewaltsame  zurechlschneidung  des  Völuspa- 
textes  keine  stütze  findet,  darauf  hat  ja  schon  Heusler  in  seiner 
kurzen,  aber  inhaltsreichen  recension  (PLZ.  1903,  488 ff)  hinge- 
wiesen, der  ich  mich  in  allen  hauptpuneten  nur  anschliefsen  kann. 
Ich  hebe  hier  nur  zum  schluss  meine  hauptsächlichsten 
einwände  noch  kurz  hervor,  es  erscheint  mir  unrichtig  und  gekünstelt, 
in  die  worte  blöpgom  tivor  (32,  1)  nach  Rugges  Vorgang  (The 
home  of  the  Eddie  poems  s.  xxxrxff),  wenn  auch  mit  andrer 
gruudauffassung,  den  sinn  'blutiges  opfer'  hineinzutragen  (s.  240). 
es  erscheint  mir  gezwungen  und  sprachlich  keineswegs  not- 
wendig (vgl.  Atlakv.  17,  4),  aus  dem  ausdruck  erlog  folgen  zu 
schliefseu ,  dass  Raldrs  Schicksal  hier  in  Sicherheit  gebracht 
werde  wie  Odins  äuge  und  Heimdallar  hljop ,  das  noch  immer 
mit  Müllenhoff  gegenüber  KaulTmanns  erklarung  'Heimdalls 
stimme'  oder  Heinzeis  (aao.  s.  36)  'Heimdalls  gehör'  am  natür- 
lichsten als  'Heimdalls  hörn'  gedeutet  wird,  was  bei  der 
im  Geringschen  Wörterbuch  (s.  450)  aus  dem  altdänischen  bei- 
gebrachten parallele  sehr  wol  möglich  ist  (s.  23).  es  erscheint 
mir  weiter  ebenso  unnotwendig  und  gekünstelt,  unter  dem  ein- 
drucke der  Detterschen  sagenauffassung  (Reitr.  19,  495  ff)  die 
änderung  meer  in  mjö  (v.  33,  1)  vorzunehmen,  da  einerseits  die 
auffassung  der  mistel  als  bäum  bei  der  geringen  bekauntschaft 
der  pflanze  in  nordischen  landen  sich  ungezwungen  erklärt,  ander- 
seits die  Stellung  des  relativsatzes  bei  der  beziehung  auf  härm- 
flaug  haettlig  immerhin  sehr  auffällig  bleibt  (s.  25).  endlich  er- 
scheint mir  ebensowenig  überzeugend  die  begründung  der  athetese 
der  Valistrophe,  die,  wie  wir  widerholt  schon  hervorgehoben  haben, 
in  unserem  gedichte  auf  keinen  fall  fehlen  darf,  nicht  weil  Snorri 
sie  bei  seiner  paraphrase  der  Völuspa  nicht  vorfand,  fehlt  sie  bei 
ihm,  sondern  einfach  deshalb,  weil  er  sie  bei  seiner  redactions- 
tätigkeit,  dieLokis  schuld  urgierte,  nicht  brauchen  konnte,  widerholt 
hat  Kauffmann  auch  sonst  die  älteste  und  beste  quelle  des  Raldr- 


298  MEDNER  RAGNARÖK  IN  DER  VÖLl'SPA 

mythus,  wie  sie  uns  in  der  mitlelparlie  der  Voluspa  vorligt,  nicht 
genügend  gewürdigt  und  Snorris  Zuverlässigkeit  zu  sehr  vertraut. 
Dass  trotzdem  selbst  die  Völuspa  in  6inem  wichtigen  puncte 
ihre  vorläge,  das  alte  Vegtamslied,  misverstaud,  diese  'seltsame 
combination',  wie  sie  KaufTmann  (s.  25)  nennt,  halt  ich  auch 
heute  uoch  aufrecht,  erst  dann  werde  ich  mich  davon  über- 
zeugen lassen,  dass  das  schwert  'Misteltein'  im  mythus  nicht 
das  ursprüngliche  auch  im  norden  war,  wenn  der  charakter  der 
mistel  als  unglückspflanze  in  der  volkstümlichen  Überlieferung 
wahrscheinlicher  gemacht  wird,  als  durch  die  wenigen  bei  Bugge 
(The  home  of  the  Eddie  poems  s.  xlv)  verzeichneten  christlichen 
combinationen. 

Berlin,  1 1  Juni   1907.  FELIX  MEDNER. 

EIN  GÖTTINGER  WIGALOISFRAGMENT. 

Am  4  august  1820  bedankt  sich  FJMone  bei  GFBenecke  für 
die  anzeige  seiner  Einleitung  in  das  Nibelungenlied,  schickt  ihm 
umgekehrt  eine  solche  des  im  vorhergehnden  jähre  erschienenen 
Wigalois  und  legt  einige  pergamentblätter  'der  in  der  anzeige  er- 
wähnten handschrift'  bei :  'ich  glaubte  dieses  geschenk  meines  freundes 
von  Lassberg  nicht  ehrenvoller  verwenden  zu  können,  als  wenn  ich 
es  dem  herausgeber  des  Wigalois  zustellte'.  —  es  sind  dieselben 
blätter,  die  8  jähre  später  nach  angäbe  des  accessionsjournah  der 
Göttinger  Universitätsbibliothek  'von  hm  hofrat  Benecke  verehrt' 
wurden  und  die  jetzt  die  Signatur  cod.  ins.  philol.  1S7  tragen. 
WMejer  hat  sie  1893  kurz  beschrieben  (Verz.  d.  hss.  i.  pr.  st.: 
Gott.  univ.  i  47).  aber  trotzdem  sie  früher  als  alle  andern  Wigalois- 
bruchstücke  bekannt  waren,  sind  sie  meines  Wissens  noch  nicht  zu- 
gänglich gemacht.  Mone  in  der  oben  erwähnten  anzeige  in  den 
Heidelberger  Jahrbb.  der  litteratur  xm  Jahrgang  1  hälfte  p.  475 — 6 
beschränkt  sich  nur  auf  wenige  mitteilungen. 

Die  beiden  blätter,  die  Lassberg  von  einem  bucheinband  gelöst 
hat,  gehörten  zu  einer  hs.  in  kleinquart  von  ungefähr  19  cm  höhe, 
14  cm  breite,  sie  sind  abgesetzt  geschrieben  und  enthielten  auf 
jeder  seite  zwei  columnen:  bl.  2  enthält  30  Zeilen  auf  der  spalte; 
von  bl.  1  ist  ein  stück  oben  abgerissen,  so  dass  nur  26  zeilen 
erhalten  sind:  merkwürdigerweise  schliefst  gleichwol  sp.  \c  glatt 
an  sp.  1  b  an  und  auch  an  sp.  1  b  vermissen  wir  oben  nur  eine 
zeile  des  textes!   zwischen  bl.  1  und  2  werden  16  blätter  fehlen.  — 


EIN  GÖTTOGER  WIGALOISFRAGMENT  299 

vom  ersten  blatt  —  jetzt  verkehrterweise  nach  dem  andern  und 
so  eingeklebt,  dass  die  zweite  seile  der  ersten  vorausgeht  —  ist 
am  obem  und  innern  rande  je  ein  stück  weggerissen,  so  dass  von 
den  ursprünglich  auf  diesem  blatt  enthaltenen  vv.  201,  11  bis 
204,  13  vollständig  nur  in  der  2  sp.  :  202,  7 — 33,  in  der  3  sp. 

202,  39—203,  23  erhallen  sind,  auch  202,  6  und  202,  38  sind, 
obwol  etwas  beschädigt,  noch  deutlich  zu  lesen,     von   den   vv.  der 

1  sp.  sind  201,  16 — 40  und  2<)2,  4  immer  nur  in  ihrem  letzten 
teile  erhalten,  201,  30  ist  ganz  verloren,  201,  23  bis  auf  wenige 
striche,  in  der  4  sp.  sind  203,29  —  204, 13  immer  zum  gröfsern  ersten 
teil  erhalten,  von  203,  28  nur  wenige  striche,  das  blatt  ist  an  einer 
stelle  (202,  25.  26  und  203,  14 — 17)  durch  moder flecke  verdorben, 

2  löcher  im  pergament  (202,  32  und  203,  22)  sind  vom  Schreiber  vor- 
sichtig umgangen,  die  linienstriche  sind,  wie  auch  beim  zweiten  blatt, 
nur  noch  undeutlich  zu  erkennen.  « —  bl.  2  ist  am  innern  rande 
beschnitten,  von  den  versen,  die  es  enthält,  252,  25 — 255,24  ist 
die  ganze  2  :  253,  15 — 254,  4  und  3  sp.  :  254,  5 — 33  vollständig 
erhalten,  von  254,  34  ist  das  erste  wort  abgerissen,  von  den  vss. 
der  1  sp.  :  252,  25 — 253,  14  sind  infolge  des  beschneidens  nur  die 
zweiten  hälften,  in  der  4  sp.  :  254,  35 — 255,  24  immerhin  die 
weitaus  großem  ersten  vershälften,  kürzere  verse  zuweilen  ganz 
erhalten  (254,  35.  40 — 255,  17.  19).  auch  dies  blatt  hat  zwei  vom 
sein  eiber  vermiedene  löcher  (253,  2  und  255,  12).  die  erste  seite 
ist  stellenweise  unleserlich  (252.  25 — 30  besonders).  —  im  ganzen 
sind  also  von  den  240  vv.,  die  wir  auf  den  beiden  blättern  erwarten, 
16  ganz,  111  teilweise  verloren  gegangen,  während  113  vollständig 
erhalten  sind,  ich  gebe  nun  unten  einen  genauen  abdruck  und 
bemerke  dazu  folgendes  :  die  schreibtechnik  beider  blätter  ist  die- 
selbe, die  zweiten  Zeilen  der  reimpaare  sind  uneingerückt.  jeder 
vers  fängt  mit  großem,  rot  gestrichnem  buchstaben  an,  die  ab- 
schnitte werden  zuweilen  (202,  40.  254,  2),  aber  nicht  immer 
(204,  13)  durch  große  rote  initialen  markiert,  einmal  ist  ein  a 
(klein)  mit  tinte  markiert,  aber  nicht  ausgeführt  (255,  7).  die  namen 
sind  immer  klein  geschrieben  (201,  17.  31.  40-202,  15.  38 
—  203,4.  5.  6—252,30.  31.  34—253,26.  30-254,25.  33. 
37),  nur  ein  einziger  groß  mit  rot  gestrichnem  anfangsbuchstaben: 

203,  3  LAPJE  (sie),  die  abbreviaturen  sowie  die  übrigen  gra- 
phischen lind  vor  allem  die  sprachlichen  eigentümlichkeiten  sind  im 
abdruck  genau   widergegeben,     lediglich    graphische    bedentung    hat 


300  SCIIAAFFS 

die  Schreibung  ü  für  u  in  der  nachbarschaß  von  nasal :  gebunden, 
Wunsches,  an  verschiedenen  stellen  finden  sich  offenbare  fehler, 
icie  201,  33  :  doas  —  202,  21  schie  —  253,  23  sichereil  —  254, 
IS  volgel  —  253,  30  wider. 

bl.  la 

201,  15 burglor. 

l'i  vor. 

vou  alarie. 

rii*. 

sins  hant. 

20 sin  laut. 

alt  gegeben. 

leben. 

e. 

ere. 

25 erheit. 

g  erslagen. 

iche  solte  trage. 

mendoue. 

30 

or  doas. 

or  lange  was. 

eut  gewesen. 

e  lie  er  in  genesen. 

35 n  do  er  in  vie. 

orte  hie. 

ne  tot. 

hcit  gebot. 

getan. 

40 ge  ds  graue  adä. 

202,  4  .  .  .  •  uf  getan. 

bl.  lb 

6  Do  vant  er  de  gesiude  gar. 

In  iamerlicher  rüwe. 

Ir  klage  du  was  nüwe. 

Vinb  den  wirt  der  da  wc  erslage. 
10  0Tch  müsen  sü  mit  trüwe  klage. 

Die  reine  wirtinne. 

Div  gutes  wibes  miue. 


EIN  GÖTTWGER  WIGALÖISFRAGMENT  301 

Bracht  vns  an  ir  ende. 

Ane  missewende. 
15  Lag  ilü  viöwe  iaphite  lot. 

Des  twang  si  gaucer  trüwe  not. 

Vn  hszeliche  n.Ine. 

Sele  lip  vn  sinne. 

Schie  dii  hszekit. 
22  Wie  wirt  de  yezelich  geseit. 

Sit  ich  sin  nit  gesagen  kan. 

Wa  ist  nü  en  wiser  man. 
25  Der  mir  den  stril  bescheide. 

Starp  si  vö  hszeleide. 

De  iiiüs  vö  hs/.eliel>e  sin. 

Dil  gab  ir  hscen  solchen  pin. 

Da  vö  ir  schöner  lip  uMarp. 
30  Ich  wene  si  vö  den  beiden  starp. 

Anders  ich  mich  nit  usstan. 

Solle  ich  dem  strite  nache  gä. 

So  wurde  ds  rede  licht  ze  uil. 
bl.  1°  38  Genist  vro  iaphite  wol. 

Wan  si  was  gancer  trüwe  uol. 

HJe  ist  du  auelur  geholt. 
Wa  ist  nü  ds  miue  solt. 

Des  Wunsches  amye. 

Du  schöne  LARJE. 

Hie  lit  ir  frünt  her  wigoleis. 
5  Den  der  milte  hritoneis. 

Der  küng  artus  hat  gesant. 

Zer  auentur  de  er  de  lant. 

Solt  erwsben  vn  die  magt. 

Owe  de  den  nieman  sagt. 
10  Er  lit  hie  leider  ane  craft. 

Der  mit  rechter  ritlsschaft. 

Vn  mit  gancer  manheit. 

Als  vns  dii  auenture  seit. 

Vil  mangeu  höhen  pris  gewan. 
15  Er  lag  da  als  en  toter  man. 

Ane  craft  vn  ane  sin. 

Die  iungvröweu  halten  in. 


302  SCHAAFFS 

Vö  dem  höpt  eutwafenl  gar. 

Vn  uame  des  uil  rechte  war. 
20  Ob  er  lepti  oder  were  tot. 

Do  waren  im  du   hüfel  rot. 

Vn   aller  lebelieh  getan. 
23  Do  wolten  in  erslage  hau. 
bl.  ld  28  Ey 

De  ir  diseni   r 

Sine  lip  nem 

Der  ritterlich 

Die  auenture   

De  ist  en  gröz 

Wan  er  durch 

35  Lip  vn  gut 

Hatte  uil  nach 

Nu   nemet  ed 

Wa  ein  so  gut 


Wie  mangen   .  .  . 

40  Lat  mich  in  ne  . 

Ja  wen  ich  de  ie 

Bezzer  ritter  d  .  . 


Nu  gebent  sine 

Vnz  eren  uslies 

204,  5  Jo  chan  er  wol. 

Ritterlich  den  t 

würd  er  vö  w 

Des  lip  ane  mi    

Sine  zit  geleb 

10  VIT  der  mit  siu    

Den  aller  hochs 

De  wer  en  iemsl    

IR  mugent  in 

bl.  21  252,  25 enit  (?)  nicht. 

bieten. 

do  rieten. 

nie  baz. 

hsrre  wissent  de. 

30 e  seruie. 

urchie. 


EIN  GÖTTLNGEIt  VV1GAL01SFRAGMENT  303 


I  manig  ntter  yut. 

in  vil  holden  um!. 

vn  die  kriechen. 

35  ....  maogeo  siechen. 

gewineu. 

r  vi!  innen. 

tnme  vil. 

....  ame  des  todes  spil. 

40 pris  beiagen  wil. 

253,     1 sin  geselleschaft. 

.  .  .  .  r  nu  zwifelhaft. 

reise  wil  besten. 

asier  nit  ensten. 

vn  im  geschieht. 

ensumet  üch  nicht. 

aweiu  der  degen. 

des  rechten  enphlege. 


het  getan. 


o 


10 s  nit  geschaden  kan. 


o 


e 


gute  ritterschaft. 

ir  trüwe  kraft. 

e  erzeigen  hie. 

ekein  küng  nie. 

bl.  2b  15  In  disem  lande  so  mange  hell. 

Dise  ritter  siut  erweit. 

Vs  .mange  küngriche. 

Do  lopt  im  geliche. 

Helfe  an  der  stünde. 
20  Mit  gemeine  münde. 

Die  sin  vn  och  die  geste. 

Dil  sichseit  wart  veste. 

Vbs  den  vngetrüwe  man. 

Der  dis  mort  het  getan. 
25  Vü  iu  de  laster  het  erbotten. 

Hs  wigoleis  do  sine  botten 

Mit  dem  garzün  saute  dar. 

Vö  im  vn  von  den  fürsten  gar. 

Wider  bot  er  indie  stat. 
30  Lion  dem  fiirsten  wids  mat. 


304 


SCI1AAFFS 


Mochte  er  nach  sine  schache  get  .  .  . 

Sus  schiet  der  botte  vö  im  da. 

Dem  karzun  wold  er  kleius  gebe. 

Do  sprach  er  nein  ich  wil  leben. 
35  Mit  hszeleide  uns  an  die  zit. 

De  gottes  gerichte  räche  git. 

Nach  sine  wsken  vbs  in. 

Der  mir  vröde  viT  gewin. 

Ane  schulde  genome  hat. 
40  Owe  der  grozen  meintat. 
254,     1  De  si  noch  ungerochen  stat. 

Cus  nam  er  urlop  vö  schiet  d  .  . 
Wider  zv   dem  toten  man. 

Der  dan  noch  uf  dem  uelde  lag. 
bl.  2C     5  Des  got  mit  siner  bäte  phlag. 

Vor  uogeln  vn  vor  hünden. 

Sin  ors  de  wc  gebunden. 

Vil  uaste  an  eius  linden  ast. 

Also  gewafent  lag  ds  gast. 
10  Sin  schilt  wc  ubs  in  geleit. 

Nach  des  landes  gewonheit. 

De  swert  vnds  sine  höhte  lag. 

Dis  wc  der  sibende  tag. 

De  der  helt  wart  erslagen. 
15  Man  sach  in  iemslichen  clagen. 

Zwene  winde  die  bi  im  lagen. 

Des  heldes  si  da  phlagen. 

Vor  uolgel  vü  vor  wilde 

Vngas  uf  dem  geuilde. 
20  Dolton  si  des  hungers  not. 

Vns  si  da  bi  im  lagent  tot. 

De  ors  vü  sine  winde. 

Schatten  gab  im  du  linde. 

Mit  ir  lobe  de  wc  bereit. 
25  Min  viöwe  liamere  erleit. 

Nach  dem  helde  grozze  pine. 

Im  waren  die  sinen. 


254,  24  bereit  vielleicht  schon  in  breit  gebessert. 


EIN  GÖTTINGER  WIGALOISFRAGMENT  305 


Gar  geuangen  vü  erslagen. 
De  begonde  si  hszeklige  clagen. 
30  Mit  wiplicher  swere. 
Ir  wart  der  lip  unmere. 
De  si  ir  trüt  het  u'loren 
Do  het  abs  lion  si  erchoren. 
.  .  fründin  siue  lihe. 
bl.  2d  35  Disem  reine  wibe. 

Erslüg  er  ir  liebe  m  .  .  .  . 

Mit  eine  sper  vö  ä 

Ir  »rozze  schöne  ga  

Der  iamer  ir  nach  im  g  .  .  . 
40  Vil  pinliche  swere. 
255,     1  Swie  schöne  ir  va  .  .  . 

Du  erlasch  nü  gar  n  .  .  .  . 

Ir  vröde  ir  so  gar  g  

De  si  uit  wau  iamss  .... 
5  Beidü  nacht  vil  la  .  .  .  . 

Des  libes  si  sich  gar 

a       ls  ir  der  trüwe  .... 

Ir  schöne  zoph  

Die  wäre  lang  ze  r  .  .  .  . 

10  Der  rege  vö  ir  öge 

An  die  wägen  vü  .  .  .  . 

Der  bitter  t 

De  er  zeigte  si  der  .... 

Si  zarte  vö  ir  den 

15  Der  vö  golde  gab  1  .  .  .  . 
Vü  eine  beltz  herm  .... 
Vö  ir  schone  übe. 
Dem  uil  reine  wib  . 
Wart  vö  hszeleide. 
20  De  si  ir  ogen  weid  . 

Ane  schulde  stachen 

Vö  disem  leide  ir  hsz  .  . 
Da  vö  si  och  den  lip  .  .  . 
Ir  gäze  sinne  si  och  .  .  . 

Göttingen,  juni  1907.  GEORG  SCHAAFFS. 

Z.  F.  D.  A.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  20 


WINILEODES. 

In  dem  capitulare  Karls  d.  Gr.  vom  23  märz  789  findet 
sich  folgende  bestimmung:  De  monasteriis  minutis  ubi  nonnanes 
sine  regula  sedent,  volumus  ut  in  unum  locum  congregatio  fiat 
regularis,  et  episcopus  praevideat,  nbi  fieri  possint.  Et  nulla 
abbatissa  foras  monasterio  exire  non  praesumat  sine  nostra  ius- 
sione  nee  sibi  subditas  facere  permittat;  et  eamim  claustra  sint 
bene  firmata  et  judlatenns  ibi  winileodos  scribere  vel  miltere 
praesumant:  et  de  pallore  earum  propter  sanguinis  minuationem 
(Boretiiis  i  p.  63).  ich  glaube  der  bisherigen  auffassung  dieser 
slelle  getreu  zu  bleiben,  wenn  ich  sie  so  übersetze:  'bezüglich 
der  kleinen  klöster,  wo  die  nonnen  ohne  regel  leben,  wollen 
wir,  dass  eine  regelrechte  Vereinigung  an  einem  platze  stattfinde 
und  der  bischof  zusehe,  wo  das  geschehen  könne,  und  keine 
äbtissin  soll  sich  unterstehn,  ohne  unsern  befehl  das  kloster  zu 
verlassen,  noch  es  ihren  untergebenen  zu  gestatten,  und  in  ihren 
klöstern  soll  strenge  clausur  gehalten  werden,  und  in  keiner 
weise  sollen  sie  sich  dort  unterfangen  liebeslieder  zu  schreiben 
oder  zu  schicken:  der  bleichsucht  infolge  von  blutarmut  (ader- 
lass)  wegen'. 

Es  findet  sich  zwar,  soviel  ich  weifs,  diese  Übersetzung  oder 
eine  andere  nirgends,  aber  das  was  man  aus  dem  texte  herausgelesen 
hat,  fordert  sie.  von  denen  welche  sich  über  die  winileodi  geäulsert 
haben,  will  ich  hier  zweien  das  wort  geben.  Kögel  schreibt  in 
seiner  Geschichte  der  deutschen  litteratur  bis  zum  ausgange  des 
mittelalters  (i  s.  61  f):  'es  sind  erzählende  lieder  erotischen  in- 
halts,  die  man  den  nonnen  vorzuenthalten  für  zweckmäfsig  hielt .  . . 
da  den  nonnen  verboten  wird  dergleichen  zu  schreiben  (dh.  wol 
abzuschreiben  oder  aufzuschreiben)  oder  zu  schicken,  so  müste 
man  schon  die  Verhältnisse  des  ausgebildeten  minnedienstes,  wo 
in  der  tat  die  lieder  zwischen  den  liebenden  auf  losen  blättern 
oder  streifen  hin-  und  herflogen,  auf  diese  alte  zeit  übertragen, 
wenn  man  die  winiliod  von  einer  eigentlichen  liebeslyrik  ver- 
stehn  wollte'.  Kögel  selbst  tut  das,  denn  in  Pauls  grundriss 
schreibt  er:  'ich  halte  es  für  zweifellos,  dass  unter  den  winileod 
zunächst  nur  liebeslieder  verstanden  werden  können:  es  wird 
den  nonnen  verboten  dergleichen  zu  schreiben  oder  zu  schicken, 


0 


WINILEODES  307 

auch    vvol    sich    schicken    zu    lassen,    und  ihre  bleichsucht  wird 
damit  in  Zusammenhang  gebracht'. 

Etwas  vorsichtiger  urteilt  Kelle  (Gesch.  d.  d.  litt,  i  78):  'ein 
capitulare  vom  jähre  789  verordnete  in  can.  3,  dass  die  nonnen, 
deren  leben,  wie  man  aus  den  beschlossen  der  concilien  sieht, 
vielfach  anstofs  erregte,  strenge  clausur  halten  und  sich  nirgends 
unterstehn  sollten,  winileodos  zu  verfassen  oder  zu  versenden,  in 
glossen  des  9  und  lOjahrh.  steht  der  ausdruck  gleichbedeutend 
mit  rustigiu  sanc,  mit  scofleod  .  .  .  winileod  hatte  also  damals 
entschieden  die  ganz  allgemeine  bedeutung:  volkstümlicher  welt- 
licher gesang.  später  (bei  Neid  hart)  wird  das  wort  zur  bezeich- 
nung  von  liedern  gebraucht,  welche,  wie  es  scheint,  zum  spiel 
oder  tanz  gesungen  wurden.  zur  zeit  des  capitulares  muss 
winileod  aber  ausschliefslich,  oder  speciell:  liebeslied  bedeutet 
haben,  das  ergibt  der  Zusammenhang.  ...  die  grundbedeutung  des 
ersten  teiles  scheint  nämlich:  geliebter,  geliebte  gewesen  zu  sein, 
wie  später  hieng  schon  damals  die  ganze  lyrik  mit  dem  leben 
zusammen,  die  liebesliedchen  waren  liebesbriefe,  die,  wie  sie  von 
bestimmten  personen  ausgiengen,  an  bestimmte  personen  ge- 
richtet waren',  ähnlicher  ansieht  sind  die  meisten  gelehrten, 
während  es  allerdings  auch  nicht  an  solchen  fehlt,  welche  den 
begriff  von  winileod  weiter  gefasst  haben,  wenn  und  solange  man 
indes  den  ersten  worlteil  mit  wini  freund,  geliebter  zusammen- 
stellt, werden  diese  einen  schweren  standpunet  haben  und  be- 
halten, eine  ganz  andre  auffassung  aber  hat  nach  dem  berichte  in 
der  Zs.  f.  d.  ph.  bd  38  (1906)  s.  123  auf  der  letzten  Versammlung  der 
deutschen  philologen  und  schulmänner  in  Hamburg  Uhl  vertreten, 
indem  er  wini-leod  als  'gemeinsames  arbeitslied'  erklärte  und  das 
erste  compositionsglied  mit  gewinnen  zusammenstellt;  es  sei 
kein  Substantiv-  sondern  ein  verbalstamm,  wie  er  auch  in  rü- 
geliet,  twingeliet  vorliege,  ob  diese  deutung,  die  augenscheinlich 
unter  dem  einfluss  von  ßüchers  'Arbeit  und  rhythmus'  entstanden 
ist,  beifall  finden  wird,  muss  man  abwarten,  ich  meinerseits 
muss  gestehn,  dass  mir  das  wini  wenig  kopfzerbrechen  machen 
würde,  wenn  ich  die  hergebrachte  deutung  von  leodes  oder  leodos 
für  richtig  halten  könnte  1  gegen  sie  habe  ich  aber  schwere 
bedenken,  die  mir  noch  mehr  ins  gewicht  zu  fallen  scheinen, 
wenn  mau  den  canon  einer  gründlichen  prüfung  auf  seinen  In- 
halt hin  unterzieht,    von  der  'bleichsucht'  der  fränkischen  nonnen 

20* 


308  JOSTES 

will  ich  nicht  reden,  auch  nicht  voü  ihrer  Ursache,  die  der  grofse 
Karl  gegebenenfalls  doch  schwerlich  dem  schreihen  und  schicken 
von  liebesliedern  zugeschrieben  haben  würde,  sondern  nur  fragen: 
traut  man  denu  Karl  eine  derartig  sonderbare  Verfügung  über- 
haupt zu?  und  wenn  schon,  würde  man  hier  nicht  an  erster 
stelle  das  verbot  des  singen  s  von  liebesliedern  erwarten  müssen? 
und  endlieh:  müsle  man  nicht  winileoda  oder  winileod  stall 
tcinileodes  und  winileodos  erwarten,  wenn  es  hier  sich  um  lieder 
handelte?  lied  ist  doch  von  je  ein  neutrum  gewesen!  ich  glaube 
jeder,  der  das  capitulare  gelesen  hat,  wird  die  bisherige  auf- 
fassung  gerne  preisgeben,  wenn  sich  eine  andere  auch  nur  als 
möglich  ergibt;  und  meines  erachtens  lässt  sich  in  der  tat  eine 
linden,  die  erheblich  annehmbarer  erscheinen  dürfte,  das  will 
ich  zu  zeigen  versuchen. 

Wer  leodes  oder  leodos  als  den  acc.  plur.  von  leod  auf- 
fasst,  geht  über  das  schwere  grammatische  bedenken,  welches 
dabei  das  geschlecht  des  wortes  bildet,  leicht  hinweg,  wenn 
überhaupt,  würde  das  aber  nur  in  dem  falle  als  statthaft  geduldet 
werden  können,  dass  eine  andere  erkläruug  überhaupt  gram- 
matisch und  logisch  unmöglich  wäre,  nun  sind  aber  leodos  und 
leodes  durchaus  richtig  gebildete  accusative  von  leodi  (oder  leudi) 
und  leodes  =  'vasalli,  subditi',  und  diese  Wörter  kommen  (oft  in 
der  Zusammenstellung  mit  fideles)  in  den  Schriften  der  mero- 
wingischen  und  karoliugischen  zeit  geradezu  unzähliche  male  vor. 
nur  eine  stelle  aus  dem  sog.  Fredegar  möge  hier  angeführt 
werden,  weil  sie  ein  zweites  in  uusre  Untersuchung  hinein- 
spieleudes  wort  enthält1  :  Rex  Pippinus  in  qualtuor  partes 
comites  suos,  scaritos  et  leudibus  suis2  ad  persequendum  Waio- 
farium  transmissit.  die  bedeutung  des  Wortes  schillert  etwas: 
am  treffendsten  dürfte  es  sich  im  allgemeinen  durch  'mannen' 
widergeben  lassen.  dazu  passt  sehr  gut  das  erste  compo- 
sitionsglied  wini,  von  dem  eine  reihe  von  ableitungen  usw. 
sich  im  latein  der  fränkischen  zeit  finden,  so  xoinegiator3 ,  gui- 
niator,    guinitor,    das    Du    Cange    als    'judex  viarum'    seu  qui 

1  Script,  rer.  Merov.  n  cap.  135. 

2  für  leudes  suos.  die  belege  für  das  wort  hat  Krusch  in  den  lexica 
zu  den  einzelnen  bänden  der  SS.  rer.  Merov.  zusammengestellt. 

3  das  merovingische  latein  einmal  generell  auf  seine  deutschen  besland- 
teile  hin  zu  untersuchen,  wäre  eine  dankenswerte  aufgäbe. 


WINILEODES  309 

itinerautium  securitati  invigilabal,  atque  adeo  wiona- 
gii  exactor'  erklärt,  dementsprechend  heifst  wionagium,  guio- 
naghtm:  'praestatio  a  tenentihus  facta  pro  tutela  et  pro- 
tectione  personarum'.  wer  mehr  heispiele  wünscht,  möge 
unter  deu  Stichwörtern  (sowie  unter  guiare,  guidare,  missi  dis- 
currentes)  bei  Du  Cange  nachsehen,  winileodi  ist  also  eine  ganz 
natürliche  Zusammensetzung,  deren  erstes  glied  die  bedeutung 
des  zweiten  ein  wenig  specialisiert:  die  winileodi  sind  schutz- 
oder  sicherhei  tsman  nen! 

Kann  aber  dieses  wort  als  object  zu  scribere  und  mütere 
gedacht  werden?  zu  mütere  selbstverständlich,  aber  auch  zu 
scribere;  denn  dieses  wort  heifst  bereits  im  classischen  latein 
nicht  blos  'schreiben',  sondern  auch  'einschreiben',  'anwerben, 
einstellen',  und  diese  bedeutung  hat  es  auch  hier,  es  gibt  das 
altdeutsche  scerian  wider,  das  latinisiert  scarire  lautet,  von  dem 
das  oben  bereits  angeführte  substant.  pari,  scaritus  gebildet  ist. 
wenn  Hildebrand  zu  seinem  söhne  sagt:  dar  man  mih  eo  scerita 
in  folc  sceotantero,  so  heifst  das:  'wo  man  mich  einstens  als 
bogenschützen  eingestellt  hatte'. 

Karl  verbietet  also  den  nonnen,  'sicherheitsmannen'  anzustellen 
oder  auszusenden,  im  folgenden  interpungiere  ich  den  text  an- 
ders als  die  herausgeber,  indem  ich  vor  et  statt  des  doppelpunctes 
ein  komma  setze  und  (was  freilich  nicht  gerade  nötig  ist)  nach 
earum  einen  doppelpunct,  also:  et  de  pallore  earum:  propter 
sanguinis  minuationem  lese,  dass  pallor  'bleichsucht'  heifsen 
kann,  finde  ich  nicht,  wol  aber  kann  es  'furcht'  bedeuten;  und 
da  sanguis  auch  'blutvergiefsen'  heifst,  so  ist  der  sinn  klar, 
dass  das  latein  nach  wie  vor  barbarisch  bleibt,  ist  nicht  meine 
schuld ;  wer  aber  in  den  quellen  der  Merowingerzeit  belesen  ist 
—  uud  in  diese  zeit  scheint  mir  der  von  Karl  wahrscheinlich  nur 
wider  aufgefrischte  canon  zurückzugehn  —  wird  sich  daran  nicht 
stofsen.  meine  Übersetzung  der  ganzen  stelle  lautet  demnach 
folgendermafsen : 

'Hinsichtlich  der  kleinen  klöster,  wo  die  nonnen  ohne 
regel  (in  einzelwohnungen)  leben,  wollen  wir,  dass  ein  gemein- 
sames leben  an  einem  platze  eingerichtet  werde,  und  der  (zu- 
ständige) bischof  soll  zusehen,  wo  das  geschehen  könne,  und 
keine  äbtissin  soll  sich  unterstehn  ohne  unsern  befehl  das  kloster 
zu    verlassen    oder    ihren    untergebenen    es    zu   gestatten;    und 


310  JOSTES 

ihre  klöster  sollen  gut  befestigt  sein,  und  unter  keiner 
bedinguug  sollen  sie  sich  unterslehn  dort  schutzmannen  an- 
zunehmen oder  auszusenden,  seihst  nicht  ihrer  furcht 
wegen:  zur  Verminderung  des  blutvergiefsens'  (verordnen  wir  das), 
nach  meiner  auffassung  haudelt  es  sich  hier  also  um  die  Um- 
wandlung der  offenen  klöster  in  geschlossene  und  befestigte,  die 
das  halten  einer  bewaffneten  schutzmannschaft  überflüssigmachten, 
ob  diese  auffassung  ansprechender  ist  als  die  bisherige,  mag 
dem  leser  zu  beurteilen  überlassen  bleiben,  jedesfalls  haben  wir 
hier  kein  palliativmittel  vor  uns,  wie  es  das  verbot,  liebeslieder 
zu  schreiben  oder  zu  schicken,  zur  minderung  der  sittenlosigkeit 
in  frauenklöstern  immerhin  gewesen  wäre,  selbst  wenn  es  sich 
aus  der  Verordnung  herauslesen  liefse.  es  fragt  sich  nur  noch, 
ob  für  das  verbot  in  dem  von  mir  angenommenen  sinne  die  tat- 
sächlichen Verhältnisse  jener  zeit  einen  anlass  gaben,  dafür 
verweise  ich  auf  folgende  stelle  in  der  Vita  Columbani  :  Paratque 
deinde  (Brunichildis)  insidias  moliri :  vicinus  monastirii  per  nun- 
tios  imperat,  ut  nulli  eorum  extra  monastirii  terminos 
iter  pandatur,  neqae  receptacula  monachis  eius  vel  qnaelibet 
subsidia  tribuanlur1.  die  merowingischeu  klöster  besafsen  also 
würklich  bewaffnete  mannschaften  zur  gewährung  freien  geleiles; 
dass  sie  auch  zu  anderen  zwecken  gehraucht  und  misbraucht 
wurden,  lehrt  uns  eiue  erzählung  Gregors  von  Tours  :  im  jähre 
589  entbrannte  zwischen  Chrodechilde,  der  tochter  des  königs 
Charibert,  und  ihrer  äbtissin  eine  heftige  feindschaft,  die  dahin 
führte,  dass  die  mannen  der  beiden  uonnen  sich  schlachten 
lieferten;  selbst  nach  schliefslicher  aussöhnung  war  die  fehde 
noch  nicht  zu  ende  :  Postea  vero  multi  inter  has  scolas  inimicitiae 
ortae  sunt;  vel  quis  unquam  tantas  piagas  tantasque  strages  vel 
tanla  mala  verbis  poterit  explicare,  ubi  vix  praeteriit  dies 
sine  homicidio,  hora  sine  iurgio  vel  momentum  ali- 
quod  sine  fletu?"1  solche  zustände  bestehn  zu  lassen,  war 
Karl  nicht  der  mann;  es  ist  aber  leicht  einzusehen,  dass  sie  nur 
dann  dauernd  beseitigt  werden  konnten,  wenn  die  nonnen,  que 
in  proprios  domus  resedent  (wie  es  in  dem  edicie  Chlotars  vom 
18  oct.  614  heifst),    in  feste   klöster  zusammengezogen  wurden; 

1  Script,  rer.  Alerov.  iv  s.  87  (über  i  cap.  19). 
8  Script,  rer.  Merov.  i  s.  425  (über  x  cap.  15). 


W1NILE0DES  311 

anders  konuteu    sie    bei  den  damaligen    Verhältnissen    der   'wini- 
leodes'  einfach  nicht  entraten. 

Damit  ist  das,  was  ich  über  die  wiuileodes  zu  sagen  habe, 
erledigt,  es  ist  aber  begreiflich,  dass  mich  das  ergebuis  meiner 
Untersuchung  reizte,  nun  auch  die  so  oft  angeführten  leodes  des 
Venautius  Fortuuatus  auf  ihren  Charakter  hin  zu  prüfen,  es  ist 
nicht  überflüssig  gewesen  1  ich  führe  hier  die  beiden  stellen  in 
vollem  umfange  an,  so  wie  sie  in  den  Mon.  Germ.1  abgedruckt 
sind,  die  bemerkuugen  dazu  verdanke  ich  der  liebeusvvürdigkeit 
meines  collegen  Souneuburg. 

Quid  inier  haec  extensa  viatica  consulte  dici  potuerit,  censor 
ipse  mensura,  ubi  nie  non  urguebat  vel  metus  ex  iudice  vel  pro- 
babat  usus  ex  lege  nee  iiwitabat  favor  ex  comite  nee  emendabat 
lector  ex  arte,  ubi  mihi  tantundem  valebat  raueum  gemere  quod 
cantare  apud  quos  nihil  disparat  aut  Stridor  anseris  aut  canor 
oloris,  sola  saepe  bombicans  barbaros  leudos  arpa  reli- 
dens;  ut  inier  illos  egomet  non  musicus  poeta,  sed  muricus  deroso 
flore  carminis  poema  non  canerem  sed  garrirem,  quo  residentes 
auditores  inier  acernea  pocula  salute  bibentes  Baccho  iudice  de- 
baccharent. 

'Fortunat  entschuldigt  die  mangelhaftigkeit  seiner  gedichle 
mit  den  umständen,  unter  deuen  sie  entstanden  :  alles,  was  in 
seiner  Umgebung  sonst  den  dichter  fordert,  muste  er  hier  ver- 
missen (ubi  nie  ...  arte),  und  die  Umgebung,  die  er  hier  hatte, 

besafs  kein  Verständnis  (ubi  mihi oloris).    trotzdem  schweigt 

er  nicht,  sondern  trägt,  wie  der  schluss-satz  zeigt,  seine  den 
umständen  angepassten  lieder  den  zechenden  vor,  und  dass  er 
so  handelt  (ut  inter  illos  etc.),  dazu  veranlasst  ihn,  was  in  den 
wurlen  sola  saepe  ....  relidens  ausgedrückt  ist.  Sola  saepe 
bombicans  arpa  kann  wol  nur  harfenspiel  ohne  text  bedeuten; 
würde  nun  barbaros  leudos  relidens,  wie  man  annimmt,  heifsen: 
'barbarische  lieder  ertönen  lassend',  so  wäre  entweder  mit  leudos 
auch  nur  'musikalischer  Vortrag'  bezeichnet,  so  dass  bombicans 
und  relidens  parallel  stünden  und  ein  verbindendes  et  fehlte,  oder 
leudos  bezeichnete  eben  text  im  gegensatz  zur  musik.  ersteres 
ist  undenkbar,  weil  jedesfalls  seine  sonstigen  gedichte  (dh.  texte) 
in  gegensatz  gestellt  werden  zu  denen,  die  seine  zuhürer  gewohnt 

1  Auetor.  antiquissimi  iv  p.  2  und  ib.  Carm.  üb.  vn  8,  61  ff. 


312  JOSTES 

sind  und  die  ihrem  geschmack  oder  vielmehr  ungeschmack  ent- 
sprechen, und  weil  bei  dieser  auffassung  die  beiden  participien 
ganz  in  der  lufl  schweben  und  der  gedanke  weder  an  das  vor- 
hergehende noch  an  das  folgende  sich  natürlich  anschliefsen 
würde;  und  letzteres  scheint  ausgeschlossen,  weil  dann  ein  gegen» 
satz  zwischen  instrumentalmusik  (sola  bombicans  arpa)  und  lieder- 
texten  (barbari  leudi)  vorläge,  der  doch  irgendwie  ausgedrückt 
sein  müste.  fasst  man  aber  leudi  in  der  bedeutung  'mannen', 
und  relidere  nicht  in  der  für  diese  stelle  besonders  angenommenen, 
sondern  in  der  gewöhnlichen  'zurückstofsen',  und  nimmt  man  an, 
dass  die  participien  entsprechend  dem  fehlen  einiger  verbindungs- 
partikel  im  Verhältnis  der  unter-  und  Überordnung  stehn,  so 
ergibt  sich  mit  der  unbedenklichen  ergänzung  von  est  der  ein- 
fache sinn  :  'wenn  die  harfe  oft  allein  ertönt,  stöfst  sie  die  bar- 
barischen mannen  ab,  so  dass  trotz  der  vorher  angegebenen 
mängel  ich  als  verschlechterter  poet  mein  lied  herleierte,  um 
ihren  beifall  zu  finden'. 

Und  nun  die  andere  stelle: 

Sed  pro  me  reliqui  laudes  tibi  reddere  certent, 

et  qua  quisque  valet  te  prece  voce  sonet, 

Romanusque  lyra,  plaudat  tibi  barbarus  harpa, 

Graecus  Achilliaca,  crotta  Britanna  canat. 

Uli  te  fortem  referant,  hi  iure  potentem, 

ille  armis  agilem  praedicet,  iste  libris. 

et  quia  rite  regis  quod  pax  et  bella  requirunt, 

iudicis  ille  decus  concinat,  iste  ducis. 

nos  tibi  versiculos,  dent  barbara  carmina  leudos: 

sie  Variante  tropo  laus  sonet  una  viro. 

Hi  celebrem  memorent,  Uli  te  lege  sagacem: 

ast  ego  te  dulcem  semper  habebo,  Lupe1. 
'Würde  hier  leudos  lieder  bedeuten,  so  wäre  es  neben  bar- 
bara carmina  unverständlich,  da  nun  aber  zum  ersten  gliede 
des  verses  aus  dem  zweiten  ein  demus  (oder  damus)  ergänzt 
werden  muss,  so  ist  offenbar  ein  gegensatz  gewollt  zwischen 
versiculi,  dh.  verseu  classischer  art,  wie  sie  Fortunatus  widmet, 
und  barbara  carmina.  dann  aber  muss  im  zweiten  gliede  ein 
gegenstück    vorhanden   sein  zu   dem   nos  am  anfang  des  verses, 

1  Lupus  war  unter  Sigebert  herzog  in   der  austrasischen  Champagne 
und  ein  freund  Fortunats. 


WINILEODES  313 

dli.  es  muss  gesagt  sein,  wer  die  barbara  carmina  spenden  soll, 
und  dies  ist  der  fall,  wenn  das  letzte  wort,  das  dann  leudes  zu 
schreiben  wäre,  eben  bedeutet  :  die  mannen  germanischen  slamms; 
so  stimmt  der  vers  genau  mit  vers  3  :  Romannsque  lyra,  plaudat 
tibi  barbarus  harpa'. 

Wir  werden  demnach  künftig  in  der  lilteraturgeschichte 
sowol  auf  die  winileodes  des  karolingischen  capitulares  wie  auf 
die  einfachen  leodi  des  Fortunatus  verzichten  müssen,  aber  hat 
es  denn  überhaupt  keine  'winelieder'  gegeben?  zweifelsohne  1 
doch  ist  das  worl  für  die  Karolingerzeil  nicht  belegt  und  damit 
die  sache  nicht  bezeugt,  die  späteren  glossatoren  haben  bereits 
die  stelle  des  capitulars  misverstanden,  und  wenn  ihnen  auch 
das  wort  selbst  bekannt  gewesen  sein  mag,  so  beweist  doch 
schon  ihre  eigene  Übersetzung,  dass  sie  den  begriff  'liebeslied' 
damit  nicht  verbanden,  ebensowenig  wie  esNeidhart  getan  hat.  die 
ursprüngliche  bedeutung  von  wineliet  erkennen  wir  vielleicht  am 
deutlichsten  im  friesischen,  in  den  allgemeinen  gesetzen  des  westerl. 
Frieslands1  heifst  es  c.  22:  Hweerso  ma  claget  om  een  aeft  dat 
hit  tobrüsen  se,  end  ma  hit  riucht  greta  schil,  soe  schilma  hit 
aldus  greta,  dat  dio  frie  Fresinne  coem  oen  dis  fria  Fresa  wald 
mit  hoernes  hluud  ende  mit  bura  oenhlest,  mit  bakena  brand  ende 
mit  winna  sang,  ende  hio  breydelike  sine  besma  op  stoed,  ende 
op  dae  bedde  herres  lives  netta  mitte  manne,  ende  an  moerne  op 
stoed,  to  tzierka  ging,  kerkstal  stoed,  alter  arade,  da  prester  offa- 
rade,  ende  dal  aeft  also  bigingh,  alsoe  di  fria  Fresa  mitter  frie 
Fresinne  schulde. 

Sonst  finde  ich  das  wort  nur  noch  in  'Het  Freeske  rym', 
einem  werke,  das  Siebs  und  andere  zwar  nicht  mit  unrecht  sehr 
hart  beurteilen,  dessen  urheber  aber  jenes  wort  doch  noch  ge- 
kannt zu  haben  scheint: 

To   Ulracht  in  thine  dorn 

AI  thet  herscip  him2  to  ghins  com 

And  habbad  him  blidelike  ontfan: 

Tha  basuna  dedense  blian, 

Tha  clocka  dedense  hluda 

End  tha  liacht  tho  gins  him  cruda 

1  vRichthofen  Friesische  rechtsquellen  s.  409. 

2  SWillibrord. 


314  .         JOSTES  WLMLEODES 

End  mit  grata  winnena(l)  sang 
Ont [engen  hia  him  tha  strata  lang1. 

Hier  wie  dort  ist  au  einen  erotischen  cliarakter  des  'winne- 
liedes'  nicht  zu  denkeu:  der  Zusammenhang  fordert  vielmehr  die 
bedeulung  :  'jubel-,  freudenlied',  ursprünglich  wol  'siegessang', 
und  diese  bedeutung  schliefst  nicht  einmal  einen  religiösen  iuhalt, 
noch  auch  eine  fremdsprachliche  form  aus.  wenn  die  glossen 
das  wort  durch  secularis  cantilena,  psalmus  vulgaris,  secularis, 
ylebejus,  canticum  rusticum  widergeben,  so  beweist  das  nichts 
anderes,  als  dass  der  erste  urheber  das  karolingische  capitular  vor 
äugen  gehabt,  aber  nicht  verstanden  und  den  sinn  des  wortes 
an    der   stelle   aus   dem    Zusammenhang  zu  erraten  versucht  hat. 

1  Het  Freske  Rijm  (Werken,  uitgeven  door  het  Friesch  genootscliap 
van  geschied-  oudheit-  en  taalkunde.     Leeuwarden  1853)  v.  1344 fl". 

FRANZ  JOSTES. 


AISL.  EDDA  'URGROSSMUTTER'. 

EIN    BEITRAG    ZUR    GESCHICHTE    VON    URGERM.    AI. 

Augenscheinlich  hängt  aisl.  edda  'urgrofsmutter'  zusammen 
mit  aisl.  eida,  got.  aipei  'mutier'  (Noreen  Au.  gramm.  l  95.  153; 
anders  Kluge  Stammbildung  22);  die  laulform  begreift  sich  aus 
*aißifiön.  aber  diese  ableitung  ist  keine  erkläruug;  *aipipön  ist 
so  dunkel  wie  edda.  das  formans  -ipa  kann  nicht  darin  stecken, 
denn  die  T^a-bilduugen  sind  von  haus  aus  stark,  und  überdies 
würde  es  der  vorauszusetzenden  funclion  des  sufüxes  an  jeglicher 
aualogie  fehlen  :  *aipipa  könnte  nur  'mutlerschafl'  oder  'mütter- 
lichkeil'  oder  'Versetzung  in  den  zustand  der  mutterschaft'  be- 
deuten, niemals  'urgrofsmutter'  (vgl.  die  beispiele  JGrimms  Gr.  n 
242 ff),  hat  also  das  wort  jemals  *aipipdn  gelautet,  so  kann  es 
nicht  durch  eindringen  des  formans  -ipa  entstanden  sein;  die 
lautliche  gleichheit  mit  diesem  muss  secundär  sein,  wir  erklären 
laulform  und  bedeutung  gleichmäfsig,  wenn  wir  von  einem  com- 
positum *aip-aipön  'mutler-mutter'  ausgehn.  der  sinn  dieser 
bildung  war  ursprünglich  etwa  'mutier  v.ut'  iioyvrjv,  mutler  aller 
mutier'  (wie  'buch  der  buchet'),  dh.  sie  bezeichnete  die  älteste 
frau  der  familie,  die  stamm-multer.    diese  bedeutung  stand  nicht 


NECKEL  A1SL.  EDDA  'URGROSSMUTTER'  315 

im    wege,    dass    *aipaipön   sich    vou    seinem  grundworl  lautlich 
isolierte,     es  wurde  üher  *aipipön  zu  edda. 

Eine  solche  entwickhing  hätte  m.  e.  für  lautgesetzlich  zu 
gelten,  und  zwar  hauptsächlich  wegen  der  Verhältnisse  in  der 
sog.  vierten  schwachen  verhalclasse.  mau  hat  formen  wie  hafbi, 
hafat  bisher  falsch  heurteilt.  sie  sind  mit  den  got.  tri-bildungen 
habaida  usw.  hmt  für  laut  identisch,  es  ist  schon  au  sich  be- 
denklich, hier  durchweg  von  'bindevocallosen'  formen  auszugehn, 
wie  man  seit  Sievers  Beitr.  8,  90 ff  allgemein  zu  tun  scheint, 
bei  dieser  hypothese  bleiben  die  parlicipia  wie  lifat,  hafat,  sagadr 
(EJönsson  Skjaldesprog  109),  aschw.  saghaper  u.  dgl.  unerklärt. 
Pauls  annähme  (Beitr.  7,  145),  dass  hier  ueubildungen  vorliegen, 
stufst  auf  die  ernstesten  Schwierigkeiten,  das  Vorbild  konnte  nur 
die  ö-classe  hergegeben  haben,  aber  diese  ligt  sehr  fern,  sie  ist, 
soweit  wir  sehen  können,  ohne  jeden  einfluss  auf  die  flexion 
unsrer  gruppe  geblieben,  viel  näher  ligt  die  /a-classe.  wie  eine 
ganze  reihe  von  präsentien  zwischen  der  ai-  und  /a-flexion 
schwankt  (Noreen  i  321),  so  zweifle  ich  nicht,  dass  auch  die 
kurzen  parlicipia  wie  haftir,  sagbr  dieser  analogie  ihr  dasein 
verdanken,  gegenüber  Paul  muss  betont  werden,  dass  zwar  hafa 
und  segja  zu  den  häufigst  gebrauchten  verben  gehören,  dass  aber 
von  allen  ihren  Stammformen  das  part.  prät.  die  seltenste  ist. 
je  häufiger  präsens  und  präteritum  waren,  um  so  leichter  konnten 
diese  von  der  ja-classe  groslenteils  nicht  zu  unterscheidenden 
lempora  das  participium  nach  sich  ziehen,  (dasselbe  ist  bei 
lujggja  der  fall  gewesen  :  hugür  neben  hugat  in  der  alt  aussehndeu 
redensart  hugat  mcßla.)  die  somit  für  lautgesetzlich  zu  haltenden 
participialformen  mit  a  entsprechen  genau  den  got.  auf  -ai/js; 
ai  ist  über  3  zu  a  geworden,  wahrscheinlich  unter  denselben 
Bedingungen  wie  in  'Olafr,  Hröarr.  Lifat  verhält  sich  aber  zu 
lißa  nicht  anders  als  taliftr  zu  talüa;  vor  langer  silbe  wurde 
ai  >  e  >  i  (wie  in  endsilben  :  imper.  lifi  =  got.  libai)  und 
schließlich  syncopiert. 

Beweisend  sind  vor  allem  prälerita  wie  mürifti  'gedachte' 
und  unüi  'war  zufrieden',  sie  können  uicht  auf  bindevocallose 
formen  zurückgehn  (AKock  Beitr.  18,  4461)  wie  etwa  mundi 
'wurde1  =  got.  munda,  unni  'liebte'  <<  *unttpe.  Noreens  hülls- 
couslruclion  eines  urnord.  *munföe  (Grundr.  i2  635)  schwebt 
aber   angesichts  des  got.  munaida  völlig  in  der  luft.     ganz  ahn- 


316  NECKEL 

lieh  verhält  es  sieh  mit  vakpi  gegeniiher  den  sicher  biodevocal- 
losen  sötti,  pötti,  orti,  ae.  weahle,  genahte  (Sievers  Beitr.  5,  100. 
Ags.  gramm.  256).  solauge  keine  tatsachen  dagegen  sprechen  — 
und  solche  scheint  es  in  der  tat  nicht  zu  geben  — ,  sind  wir 
gezwungen,  munfti  =  munaida ,  utibi  =  *u>unaida  (ahd.  woneta, 
vgl.  got.  unwunands)  usw.  zu  setzen  und  zu  schliefsen,  dass 
ai  in  mitlelsilben  vor  langer  ultima  im  nordischen  syn- 
kopiert wird. 

Vsp.  22,  4  begegnet  ein  nicht  befriedigend  erklärtes  Prä- 
teritum vitti  in  dem  halbvers  vitti  hon  ganda.  die  stelle  wird 
alsbald  klar,  wenn  wir  vitti  zu  got.  witan  'auf  etw.  sehen,  beob- 
achten' stellen  und  auf  *uitaiüe  zurückführen,  die  zauberin  tut 
dasselbe,  was  die  Hymiskvida  von  den  göttern  berichtet  :  hristu 
teina  ok  d  hlaut  sdu.  gandr  'stab'  hat  also  hier  die  specielle 
bedeutung  'runenstab'.  —  die  form  vitti  ist  sicher  schon  früh 
verdunkelt  gewesen.  aber  auch  in  dem  gebrauch  des  ver- 
bums vita  'wissen'  zeigen  sich  spuren  des  einst  lebendigen 
schwachen  vita.  Alv.  8  hefik  .  .  .  vitat  vetna  hvat  bedeutet 
'alles  habe  ich  gesehen',  ähnlich  in  der  Vojundarkvicta  :  vissi 
ser  ä  hpndum  hofgar  naufiir  ('bemerkte').  Egilsson  880  führt 
an  :  vissu  hjpltin  nibr  ('wies',  im  sinne  von  'speetabat'  mit 
richtungsadverbium;  got.  witan  übersetzt  auch  öoäv).  weil  in 
manchen  formen  beide  verben  zusammenfielen,  sind  sie  vermischt 
worden. 

Die  abstraeta  hgfn,  sogn,  pggn,  tign,  die  zu  verben  der  ai- 
classe  gehören,  stehn  in  dringendem  verdacht,  die  got.  bildungen 
ßulains,  libains  zu  reflectieren,  also  hpfn  aus  *haiainö  (ae.  heefen). 
ebenso  lausn,  vorn  =  got.  lauseins,  *wareins  (vBahder  Verbal- 
abstraeta  84,  vgl.  Noreen  i  §  148  a.  1).  dagegen  ist  ursprüng- 
liches 5  als  a  bewahrt  in  der  sehr  produetiven  classe,  zu  der  an. 
laftan  (Igüun?  Fritzner  n  391),  got.  lapöns  gehört,  ganz  ent- 
sprechend den  präteritis  der  ö-classe.  es  gab  urgerm.  auch 
m'-bildungen  ohne  mittelvocal,  zb.  got.  sökns.  wie  Kluge  Stamm- 
bildung §  147  sehr  richtig  bemerkt,  liefert  allein  das  got.  sichere 
belege,  spärlich  wie  diese  sind,  können  sie  doch  die  Vermutung 
stützen,  dass  fehlen  des  mittelvocals  bei  n-  und  ^-ableitungen, 
bei  abstractum  und  präteritum  zusammenging,  man  vergleiche 
nicht  nur  sökns  mit  urgerm.  *söhte,  sondern  auch  got.  siuns,  an. 
sjön,   syn    mit   ae.   gesiehü   und  mhd.  siht.     zu  urgerm.  *haiJai<Se 


AISL.  EDDA  'URGROSSMUTTER'  317 

gehörte  demnach  nicht  ein  *hatni,    sondern  ein  *hatjaini.     doch 
hleibt  dies  natürlich  Vermutung. 

Nunmehr    bedarf    auch    die    zurückführung    von    blindrar, 
blindri,  blindra  auf  *blindiRöR  usw.  gegenüber  got.  blindaizos  usw. 
einer    revision.     Sievers   hat  Beilr.  2,  110,    gestützt   auf  das  ai., 
als  urgerm.  erschlossen  :  gen.  dat.  sg.  fem.  *blindizüs,   blindizai, 
gen.  pl.  masc.  ntr.  blindaize ,   fem.  blindaizö.     das    got.  hat  den 
diphthong   auch  in  den  gen.  sg.  eingeführt  (blindaizos).     ebenso 
haben    nach    Sievers    die    andern    dialecte   das   i  verallgemeinert, 
letztere  auffassung  erregt  aber  bedenken,    das  e  der  as.  und  ahd. 
formen    (ahd.  blinlera,  -u,  -6)    verträgt   sich    besser   mit  got.  ai 
als   mit  i  :  dieses   hätte    bei    dem   starken  übergewicht  der  lang- 
und  mehrsilbigen  stamme  auch  im  continentalgermanischen  syn- 
kopiert   werden    müssen1,    andererseits    spricht  nichts   dagegen, 
dass    e  <1  ai   in    mittelsilben    wie    im    absoluten    auslaut    (ahd. 
blinte  <C  blindai)    gekürzt   wurde;    verbalformen    wie    ahd.   lebeta 
können    sich    nach    den    zweisilbigen    typen    lebet,  leben  (=  got. 
libains)  gerichtet  haben,    sicher  war  auch  das  kurze  e  von  blin- 
tera   usw.    eng    associiert    mit    den    kurzvocalischen    formen    des 
artikels  (dera  usw.),  ebenso  wie  blintem  mit  dem.    vielleicht  sind 
diese  associationen  bei  der  kürzung  des  e  von  blintera  winksam 
gewesen;    lautgesetz    und   analogie  fliefsen  hier,    wie  so  oft,    in- 
einander,    was  das  nordische  betrillt,   so  spricht  hier  das  fehlen 
des    t-umlauts,    der  bei  vielen  lang-  und  kurzsilbigen  adjectiven 
zu    erwarten    wäre,    gegen    i.     allerdings   kann  ausgleichung  im 
spiele    sein,     und    die    pronominalformen    hennar,   henni  lassen 
sich    nur    aus  *häniR~öR,   *häniRe   ableiten,     sie    bezeugen  das  i 
aber  nur  für  den  sing.,  in  dem  es  schon  vorgerm.  zu  hause  war. 
ein    sichereres  Zeugnis  haben  wir  für  ai  im  gen.  plur. ,    nämlich 
den    nom.    plur.    blindir  <1  *blindaiR.     das    secundäre   r  dieses 
casus    leitet    man    heute    wol    durchweg    aus    der    'allgemeinen 
nominalivendung  des  plurals  der  substantiva'  (Sievers  Beitr.  2, 114) 
her.    aber  das  ist  weit  entfernt,  überzeugend  zu  sein,    sämtliche 
nominalclassen  weisen,  neben  blindir  gehalten,  weit  gröfsere  Ver- 
schiedenheit als  ähnlichkeit  auf;  einen  substantivischen  nom.  plur. 
auf    urnord.    -aiR    gibt   es    nicht,     wir    verstehn  *blindaiR  ohne 

1  einmal  as.  mahligro,  Sievers  Beitr.  5,  83.  das  ahd.  allein  beweist 
hier  übrigens  nichts;  Notker  hat  noch  abstracta  wie  bemeineda  mit  als  e 
bewahrtem  ?,  vgl.  Sievers  aao.  89  ff. 


31 S  NECKEL 

weiteres,  wenn  wir  von  einem  alten  paradigma  blindai  — 
HlindaiRe  (*blindaiRö)  —  blindaim  ausgehe  (vgl.  ai.  sdrve,  sdr- 
veshdm,  sdrvebhyas).  das  R  ist  in  den  nom.  gedrungen,  wie  um- 
gekehrt in  fallen  wie  erlr,  ertra  in  den  gen.  dabei  werden 
allerdings  die  substantivischen  nom.  pl.  mitgewirkt  haben,  und 
zwar  durch  Vermittlung  des  Femininums  *blindöR;  aber  sie  allein 
hatten  ein  -aiR  nicht  herbeiführen  können. 

Halten  wir  daran  fest,  dass  die  westgerm.  formen  auf  ai, 
nicht  auf  i  weisen  —  das  ae.  kann  wie  das  nord.  synkopiert 
haben  (vgl.  Sievers  Beitr.  5,  74)  —  so  erhalten  wir  ein  urgerm. 
paradigma  mit  ai  in  allen  hierher  gehörigen  formen,  ein  solches 
paradigma  ist  an  sich  wahrscheinlich,  der  plural  hatte  von  an- 
fang  an  die  besten  aussiebten,  vorbildlich  zu  werden,  denn  nur 
hier  greifen  die  anformen  auch  in  das  masc.  und  ntr.  hinüber: 
blindaize,  blindaizö,  blindaim  waren  sicher  bei  weitem  häufiger 
als  *blindizös,  *blindizai.  dieselbe  entwicklung  zeigt  das  pro- 
nomen  :  an.  peirar,  peiri,  ae.  paire  nach  peira,  pdra.  durch- 
gehnde  ae-formen  setzt  auch  das  got.  voraus,  mau  begreift  näm- 
lich die  rückkehr  des  got.  dativs  blindai  zur  nominalflexion  kaum, 
wenn  man  die  Vorstufe  *blindizai  annimmt,  letztere  form  hätte 
mit  gibai ,  maujai,  anstai  in  ebenso  gutem  einklang  gestanden 
wie  *blindizös,  blindaizös  mit  gibös,  maujds.  und  doch  soll  nur 
der  gen.  seine  längere,  vom  nom.  abweichende  form  bewahrt 
haben,  während  der  dat.  den  nomina  vollends  angeglichen  wurde, 
denken  wir  uns  dagegen  ein  *blindaizai ,  so  enthielt  diese  Form 
das  charakteristische  dativ-ai'  zweimal,  und  es  konnte  durch 
eine  art  haplologie  Verkürzung  zu  blindai  eintreten.  —  der  von 
Sievers  Beitr.  2,  111  als  analogon  angeführte  dat.  plur.  an.  ae. 
as.  blindum  verlangt  eine  besondere  beurteilung.  im  nord.  wurde 
blindaim  (*blindaimiz)  zu  *blindim  und  trat  dadurch  in  parallele 
mit  den  /-stammen  (got.  gastim).  als  der  dat.  plur.  der  «'-stamme 
der  analogie  der  consonantischen  und  andrer  flexionen  unterlag 
(gestumR,  torumR  auf  dem  vermutlich  um  700  zu  setzenden  stein 
von  Stentofta),  bekamen  auch  die  adjeetiva  die  endung  -um. 
der  nominale  dat,  plur.  der  nordischen  adjeetiva  beruht  also  auf 
lautlichem  zusammenfall  mit  einer  nominalen  endung,  und  ähn- 
liches darf  mit  Wahrscheinlichkeit  auch  für  das  ae.  und  as.  ver- 
mutet werden,  wo  es  jedoch,  so  viel  ich  sehe,  an  directen 
anhaltspuncten  fehlt. 


AISL.  EDDA  'URGROSSMUTTER'  319 

Setzen  wir  also  für  das  urgerm.  starke  adjectivum  durch- 
geh öden  ersatz  des  mittleren  i  durch  ai  an,  so  stell t  nicht  blofs 
an.  bh'ndra,  sondern  auch  blindrar,  blindri  weitere  fälle  der 
synkope  des  ai  dar.  bei  mehrsilbigen  formen  wie  mikillar  ligt 
wahrscheinlich  nicht  rein  lautgesetzliche  entwicklung  vor  — 
diese  hätte  «loch  wol  *miklirar  ergehen  —  sondern  es  ist  die 
proportion  heil :  heillar  =  mikil :  x  im  spiele  gewesen.  die  iso- 
lierten singularformen  urn.  *häniäöR,  *häniRe  erscheinen  als  ein 
letzter  rest  des  ursprünglichen,  sie  waren  vor  dem  eintluss  des 
plurals  durch  die  Stammverschiedenheit  geschützt  (aisl.  hön  .' peer, 
hennar  :  peira). 

Es  wurde  oben  angenommen,  dass  mittleres  ai  vor  kurzer 
ultima  nordisch  zu  a  wird  :  daher  sagaür  «<.  *sagaipall.  aber  im 
aschwed.  stehn  neben  saghaper,  havaper  parlicipia  wie  doghit, 
und  got.  arbaips  erscheint  als  aisl.  erfvSi,  aschwed.  wrvipi  (da- 
neben anorw.  cerfaüe,  aschwed.  cervadhe  und  andre  formen), 
hier  ist  also  älteres  ai  bald  durch  a  bald  durch  i  vertreten,  es 
ist  geboten,  nach  einer  gemeinsamen  erklärung  für  alle  falle 
dieser  art  zu  suchen,  beginnen  wir  mit  erfifti.  gehn  wir  von 
einem  nom.  acc.  sing,  mit  synkopiertem  i  aus,  wie  die  formen 
im  got.  und  somit  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch  im  urnord. 
einmal  lauteten,  so  erhalten  wir  isl.  *arfiü(r)  wie  2  plur.  lifift  = 
got.  libaip.  der  gen.  got.  arbaidais  und  die  andern  casus  mit 
langvocalischen  endungen  ergaben  *arfüis  usw.;  der  umlaut 
stammt  wol  aus  dem  nom.  plur.  got.  arbaideis  >  *arßis  ^> 
erßir,  wäre  übrigens  ohne  die  synkope  des  ai  schwerlich  ein- 
getreten (das  aschwed.  kennt  auch  formen  mit  ar~).  aus  den 
formen  mit  und  ohne  synkope  entstand  durch  contamination  der 
nom.  acc.  erftüi  nebst  der  /a-flexion.  an  sich  hätten  der  gen. 
und  dat.  leichter  zu  *<?r/ö«  führen  können,  aber  der  teilweise 
zusammenfall  der  synkopierten  casus  mit  denen  von  er/3  'be- 
erbung' halte  zur  folge,  dass  die  formen  mit  bewahrtem  vocal 
obsiegten,  wenn  gleichwol  die  endungen  -is,  -i  ausschlaggebend 
wurden,  indem  sie  das  wort  in  die  /a-flexion  hinüberleiteteu,  so 
ist  der  grund  jedesfalls  der,  dass  man  es  als  compositum  empfand; 
schon  urgerm.  hat  sich  bekanntlich  der  typus  der  zusammen- 
bildungen  mit  -Ja  festgesetzt,  die  a- formen  entstanden  bei  kurz- 
vocalischer  endung  :  got.  arbaidim,  arbeidins.  —  eine  stütze  für 
die   vorgetragene   auffassung   liefert   das   wort   erfiüi  somit  nicht. 


320  NECKEL  AISL.  EDDA  'URGROSSMUTTEFV 

man  kommt  hier  eben  ohne  annähme  von  contaminationen  nicht 
durch,  doch  denk  ich  so  viel  annehmbar  gemacht  zu  haben, 
dass  das  wort  sich  der  theorie  fügt. 

Ein  interessantes  gegenstück  zu  erfibi  bildet  das  wort  ertr 
*erbsen'  (gen.  plur.  ertra  mit  secundär  stammhaft  gewordenem  r). 
es  kann  nicht  als  bekräfligung  dafür  dienen,  dass  as.  erit,  mhd. 
erwiz  eine  alte  ablautform  neben  ahd.  araweiz  (arawiz)  dar- 
stelle (so  Noreen  Urgerm.  lautl.  92),  sondern  erlaubt  herleitung 
aus  einer  grundform  *arbait-.  der  umlaut  ist  die  folge  des 
Übertritts  in  die  analogie  von  mgrk,  merkr. 

Ganz  entsprechend  wie  bei  erfvbi  müssen  wir  uns  die  Vor- 
gänge denken,  die  zu  dem  adj.  erfvSr  'beschwerlich'  und  den 
partic.  wie  doghit  geführt  haben,  auch  hier  hat  der  diphthong 
ai  schon  urnord.  in  gewissen  casus  in  der  ultima  gestanden 
und  ist  dann  zu  i  geworden,  so  im  nom.  sing.  masc.  (got. 
*dugaips)  und  besonders  ntr. ,  soweit  nämlich  letztere  form 
nominal  gebildet  wurde,  und  dies  war  höchst  bemerkenswerter- 
weise gerade  im  ostnord.  verhältnismäfsig  häufig  der  fall,  zumal 
bei  participieu  (Noreen  n  344).  wenn  im  westnord.  die  parti- 
cipia  dugat,  unat  usw.  lauten,  so  hängt  das  damit  zusammen, 
dass  hier  der  typus  blindata  den  kürzeren  typus  blind  so  gut 
wie  vollständig  verdrängt  hat;  dugat  beruht  auf  einer *gruudform 
*dugaipata,  die  urnord.  noch  dreisilbig  war,  als  ursprüngliches 
*dugaipam  längst  auf  zwei  silben  reduciert  war.  die  Wichtigkeit 
dieses  Unterschiedes  erhellt  daraus,  dass  die  verben,  um  die  es 
sich  hier  handelt,  überwiegend  intransitiva  sind  und  das  part. 
prät.  fast  ausschliefslich  in  neutraler  form  gebrauchen,  anders 
hgt  die  sache  natürlich  bei  erfibr,  wo  auch  mit  dem  einfluss 
des  substantivums  erfifti  zu  rechnen  ist.  aschwed.  doghit,  livit 
stehn  analogisch  für  *doghip,  *Hvit  nach  livat  udgl.,  man  ver- 
gleiche sagp. 

In  mehreren  casus  hätte  lautgesetzlich  synkope  eintreten 
müssen,  doch  ist  diese  theoretische  nolwendigkeit  wol  sicher 
ohne  praktische  folgen  geblieben,  weil  diese  casus  eben  kaum 
vorkamen,  höchstens  das  fem.  (spgft  für  *sagfi)  mag  bei  einigen 
verben  eine  rolle  gespielt  haben,  i.  a.  beruht  die  synkope  in 
den  participien  der  a?-classe,  wie  oben  hervorgehoben,  auf  dem 
muster  des  Präteritums. 

Breslau,  5.  october  1906.  G.  NECKEL. 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT. 

1  CAP1TEL.     DIE  LITTERATUR. 

Der  mittelalterliche  Zeichner,  der  zu  ende  des  12  jh.s  den 
prächtigen  codex  des  grafen  Sihoto  vFalkensiein  mit  illustrationen 
versah,  inalte  neben  dem  capitel  'de  cyrografo'  auf  fol.  2a  an  den 
rand  eine  offene,  flache  band,  die  nach  dem  texte  hinweist,  in 
dieser  Zeichnung  finden  wir  den  ersten,  schüchternen  versuch, 
das  Jahrhunderte  hindurch  viel  umstrittene  wort  hantgemahele 
wenigstens  nach  seinem  ersten  bestandteil  etymologisch  zu  erklären. 

Im  zweiten  viertel  des  14  jh.s  tritt  ein  zweiter  interpret  auf, 
Johann  vBuch,  der  glossator  des  Sachsenspiegels,  der  zu  III  26 
hemerkt  :  hantmal  dat  is  dat  gerkhte,  dar  he  schepen  tu  is  eder 
wesen  scholde  ....  unde  het  darumme  syn  hantgemal,  dat  he  eder 
syne  olderen  met  der  hant  up  dy  hilgen  tu  deme  rechte  gesworeti 
hebben  unde  dat  sy  des  noch  mal  hebben,  dat  is  warteiken,  an 
deine  stule,  dar  sy  up  hir  mede  schepen  sin.  —  ihm  folgen  die 
glosseu  zum  Weichbildrecht  (14  jh.,  ed.  Zobel,  1589,  hl.  Lxvba) 
und  zum  niederländischen  Sachsenspiegel  (15  jh.)  in  wörtlicher 
Übereinstimmung. 

Als  die  deutschen  gelehrten  vom  16  jh.  ab  sich  wider  dem 
Studium  des  Sachsenspiegels  widmeten,  suchten  sie  auch  den  be- 
griff des  haudgemals  festzulegen  und  etymologisch  zu  erklären, 
wobei  sie  meist  auf  die  alte  glosse  zurückgriffen.  Christoph 
Zobel,  der  herausgeber  des  Sachsenspiegels  (1535  und  1537), 
übersetzte  im  glossar  :  forum  competens  unius  cuiusque,  und  er- 
klarte es  von  der  schwörenden  hand  und  vom  mahl  =  Gerichts- 
stand, seine  auffassung  teilten  JGWachter  (Glossar.  German., 
1737,  s.  v.  mahl),  ChrGHaltaus  (Glossar.  Germanic.  medii  aevi, 
1758,  s.  v.  handyemal)  und  Scherz-Oberlin  (Glossar.  Germanic.  med. 
aevi,  bd  i,  1781,  s.  v.  handgemahl).  demgegenüber  hatten  Schilter- 
Scherz  im  Thesaurus  aut.  Teut.  (bd  in,  glossar,  1728)  das  wort  mal 
dem  alten  mallus,  gerichtsplatz,  gleichgesetzt  und  die  hand  als  die 
gewaltige,  mächtige,  erklärt,  sie  übersetzten  also  :  'mallus  juris- 
diclionis,  de  jure  et  sede  scabinali'.  ihnen  folgte  nur  ChrUGrupen 
Deutsche  altert,  d.  sächs.  u.  schwäb.  land-  u.  lehnr.,  1746,  p.  91sqq. 

Diese  beiden  etymologieen,  die  -mal  entweder  mit  dem  ahd. 
mal  'zeichen'  oder  dem  lat.-fränk.  mallus  'gericht'  zusammen- 
brachten, waren  es  bis  in  die  mitte  des  19  jh.s  allein,  die  den 
Z.  F.  D.  A.  XLIX.     i\.  F.  XXXVII.  21 


322  SCHÖNHOFF 

begriff  des  handgemals  erklären  sollten,  indessen  fügte  Andreas 
Schmeller  zu  der  bisher  allein  bekannten  Sachsenspiegel-steile 
im  jähre  1828  (Bayerisches  Wörterbuch  u  s.  560  f)  noch  zwei 
stellen  aus  den  Monumenta  Boica  vu  434  (codex  Falkensteiueusis) 
und  xiv  361  (Rihni),  sowie  aus  dem  damals  noch  ungedruckten 
Windberger  psalter  :  hantgemahele,  testamentum,  und  im  jähre  1840 
(Glossar  zum  Heliand)  die  drei  stellen  der  altsächsischen  bibel- 
dichtung  und  eine  glosse  aus  einem  codex  Emmeram.  :  hant- 
gemehele,  mundiburdium.  im  Glossar  zum  Heliand  (s.  74  s.  v. 
mahal)  übernahm  er  Zobels  alte  Übersetzung  'forum  competens' 
aus  dem  Sachsenspiegel  auch  für  den  Heliand1.  —  1849  u.  folg. 
wurden  durch  Mafsmanns  und  Diemers  gleichzeitige  ausgaben 
der  Kaiserchronik,  1849  durch  Diemers  ausgäbe  der  Vorauer 
Genesis  (in  den  Deutschen  gedienten  des  11  und  12  jh.s)  neue 
Zeugnisse  für  die  weitere  Verbreitung  des  handgemals  bekannt. 
JosDiemer  aao.  (anm.  s.  10  zu  z.  3)  erklärte  das  hantgemahele 
der  Genesis  als  handmahl,  versprechen,  vom  got.  meljan,  scri- 
bere,  während  Schmeller  aao.  das  wort  entschieden  zum  ahd. 
mahal  'concio,  pactio'  zog.  nachdem  endlich  Chabert  in  den 
Denkschriften  der  Wiener  akademie  1852,  bd.  4,  s.  4  noch  das 
vorkommen  des  handgemals  aus  Kleimayrns  Nachrichten  der 
gegenden  und  Stadt  Juvavia  (Salzburg  1784,  dipl.  anh.  s.  145 — 
146.  155 — 156.  175 — 176;  ohne  das  wort  selbst  194)  nachgewiesen 
hatte,  stellte  im  selben  jähre  1852  der  Jurist  GHomeyer  in  der 
classischen  schritt  'Über  die  heimat  nach  altdeutschem  recht, 
insbesondere  über  das  hantgemal'  (Berlin  1852;  Sonderdruck 
aus  den  Abhandlungen  der  Berliner  akademie,  phil.-hist.  cl., 
s.  17 — 104)  die  bedeutung  dieses  interessanten  rechtsinstitutes  aus 
den  verschiedenen  quellen  fest  —  ohne' rücksicht  auf  die  mannig- 
fachen namensformen,  zu  den  schon  bekannten  stellen  fügte  er 
noch  s.  56  die  beiden  extravaganten  der  Lex  Salica  hinzu  (zu- 
erst gedruckt  1846,  dann  in  Merkels  Lex  Salica  1850),  sowie 
Parzival  6,  19.  bekanntlich  sieht  er  als  ausgangspuncl  des  hand- 
gemals ein  handzeichen  des  freien  besitzers  an,  das  an  dem  grund- 
eigen haftet  (hausmarke)  und  seinem  herru  die  freiheit  garantiert. 
Homeyers  darstellung  des  tatbestandes  ist  (aufser  für  den 
Sachsenspiegel)   mit  einigen  modificationen   bis  auf  den  heutigen 

1  diese   Übersetzung   bietet  nach   ihm   OSchade    Altdeutsches    Wörter- 
buch s.  v.  handmahal. 


HANDGEMAL  UND  SCHWUBBBUDERSCHAFT         323 

tag  als  endgültig  angesehen  worden;  auch  gegen  seine  sprach- 
liche herleitung  hat  man  von  Seiten  der  deutschen  Sprachwissenschaft 
last  keine  einwendungen  erhoben,  obgleich  schon  im  jähre  1856 
Gustav  Eschmanu  (f  1906  als  Oberlehrer  a.  d.  in  Bürgst  ein  fürt) 
in  der  6  these  hinter  seiner  Bonner  disserlation  *  behauptete  :  'quam 
Homeyerus  statuerit  vocis  handgemal  interpretationein  cum  forma 
saxouica  handmahal  aut  mesotheotisca  hantgemahele  nequaquam 
convenire'.  Eschmanns  einwand  blieb  aber  weiteren  kreisen  un- 
bekannt, und  nur  gegen  Homeyers  theorie  über  das  handgemal 
im  Sachsenspiegel  traten  nach  mehr  als  30  jähren  Zallinger,  Wittich 
und  Heck  mit  neuen  hypothesen  auf.  inzwischen  hatte  GWaitz 
(Deutsche  verf.-gesch.  bd  iv  [1861]  s.  282,  1)  die  stelle  Juvavia 
194  (partem  unam  pro  libertate  tuenda),  die  Chabert  bereits  an- 
geführt, llomeyer  aber  übergangen  hatte,  von  neuem  ans  licht 
gezogen,  und  JStrnadt  (Reuerbach  [1868]  s.  43)  noch  aus  einem 
urbar  von  1608  ein  handtgemähl  nachgewiesen  (angeführt  bei 
Sigmund  Adler  Zur  rechtsgesch.  des  adeligen  grundbes.  in  Öster- 
reich [Leipzig  1902]  s.  12  fufsn.  2).  1870  meinte  Waitz  in  den 
Urkunden  zur  deulschen  Verfassungsgeschichte  (s.  39 — 45,  später 
in  der  Verf.-gesch.  v,  2  auf).  [1893]  s.  509—515)  das  handgemal 
in  einer  reihe  von  deutschen  urkundlichen  quellen  widerzufinden, 
wo  aber  meist  nur  von  freiem  stammgut  die  rede  ist;  mit  Sicher- 
heit wenigstens  kann  keine  der  dort  angeführten  stellen  auf  das 
handgemal  bezogen  werden,  zu  dem  anthmallus  der  Lex  Salica 
brachte  eine  neue  erklärung  1871  RudSohm  Altdeutsche  reichs- 
und  gerichts- Verfassung  i  316  ff.  auch  Zöpfl  in  der  recen- 
sion  von  Homeyers  Haus-  und  hofmarkeu  (Rerlin  1870),  in  den 
Heidelberger  Jahrbüchern  64,  161  ff  (janre-  1871),  lieferte  zum 
anthmallus  (s.  179 ff)  wie  zum  Sachsenspiegel  (s.  175 ff)  mehr- 
fache anregungen;  nach  Waitz  (Verf.-gesch.  iv)  machte  er  s.  174 
von  neuem  auf  das  handgemal  des  Luidolf  (Juvavia  s.  194)  auf- 
merksam (auch  Quilzmann  Oberbayer,  archiv  32  bd  1873,  s.  118 
und  Stobbe  Zs.  f.  deutsche  rgesch.  15,  329).  1880  folgte  die 
authentische  ausgäbe  des  codex  Falkenstein,  durch  Hans  Petz 
(Drei  bayr.  traditionsbücher  aus  dem  12  jh.,  München,  i),  die  end- 
lich die  la.  hantgemalehe  feststellte;  die  Mon.  Boica  hatten  hant- 
gemalchen  gelesen,  was  schon  Schmeller  (aao.)  in  hantgemahele 
hatte  bessern  wollen,  ein  neues  handgemal  wollte  1885  AHeusler 
1  Ad  linguae  Germanicae  historiam  symbolae. 

21* 


324  SCHÖNHOFF 

Institutionen  des  deutschen  privat  rechts  i  232  u.  17  in  dem 
gemeinsamen  besitz  des  Scheyrischen  geschlechtes  erblicken, 
der  bürg  Scheyern,  die  1119  dem  Benedictinerorden  als  kloster 
eingeräumt  wurde.  HGGengler  Beiträge  zur  rechtsgeschichte 
Bayerns,  1  heft  (Erl.  u.  Lpz.  1889)  s.  135 ff  nahm  diese  Ver- 
mutung auf  und  suchte  die  hypothese  weiter  auszubauen,  neuere 
lorscher  sind  dann  auf  dies  interessante  capitel  anscheinend  nicht 
zurückgekommen,  dagegen  wies  ALuschin  vEbengreuth  Öster- 
reichische reichsgeschichte  (Bamberg  1896)  s.  79,  30,  zum  letzten 
male  auf  das  handgemal  des  Luidolf  hin,  und  1899  machte  Ernst 
Mayer  Deutsche  und  franz.  verfassuugsgesch.  vom  9  bis  zum 
14  jh.,  bd  1  s.  47,  139  aus  einem  oberbairischen  urbar  um 
1280  (Mon.  boica  xxxvi  1,  s.  135  0)  ein  hantgemahil  in  Argolt- 
zingen  namhaft. 

Besonders  durch  OvZallingerDie  schöffenbarfreien  des  Sachsen- 
spiegels (Innsbruck  1887)  und  PhHeck  Der  Sachsenspiegel  und 
die  stände  der  freien  (Halle  1905;  über  das  handgemal  s.  500 — 515) 
wurde  die  frage  nach  dem  stände  der  schöffenbarfreien  und  der 
bedeutung  des  handgemals  im  Sachsenspiegel  wider  in  fluss  ge- 
bracht, bis  durch  die  beiden  publicationen  von  WWittich  und 
PhHeck  in  Belows  Vierteljahrschr.  für  social-  und  Wirtschafts- 
geschichte !  ein  vorläufiger  stillstaud  eingetreten  ist,  da  beide 
entgegengesetzte  theorieen  vertreten  :  Wittich  setzt  an  stelle  von 
Homeyers  ständischem  geschlechtsgut  das  ständische  einzelgut, 
Heck  das  historische  stammgut.  durch  diese  discussion  angeregt, 
erschien  dann  ende  1906  in  dem  Archiv  für  culturgeschichte  bd  4, 
s.  393 — 402  die  abhaudlung  von  Aloys  Meister  Zur  deutung 
des  hantgemal,  die,  freilich  unvollständig,  ähnlich  wie  Homeyer 
das  inzwischen  erweiterte  material  zusammenstellt  und  handmahal 
und  hantgemdl  wider  vom  ahd.  mal  'zeichen'  trennt. 

2  CAPITEL.     DAS  SPRACHLICHE. 
Übersicht  über  die  sprachlichen  formen  für  handgemal2. 
A.  anthmallus. 

i.  Zwei  extravaganten  zur  Lex  Salica  (Karl,  rechlsbuch 
C)  im  codex  33  des  domcapitels  von  Ivrea.  —  9  jh. 
(Amedeo     Peyron     in    Memorie     della    R.    accademia 

1  bd  4,  s.  1  — 127  :  Witticli  Allfreiheit  und  dienstbarkeit  des  uradels 
in  Niedersachsen  (auch  als  buch  erschienen);  ebda  s.  356 — 364  :  PhHeck 
Die  neue  hantgemallheorie  Wittichs.       2  *  fehlt  bei  Homeyer,  f  bei  Meister. 


HANDGEMAL  UND  SCIIVVURBRUDERSCHAFT         325 

delle  scienze  di  Torino,  1846,  p.  129  IT.  JohMerkel 
Lex  Salica,  1850,  s.  99  IT.  JFrBehrend,  Lex  Salica, 
2  aufl.  von  RBehrend,  1897,  s.  165  ff). 

B.  handmahal,  —  gemdl  (mudd.);  —  gimahili,  —  gemdhel(e). 
a.  Niederdeutsch. 

n.  Heliand  v.  346  Mon.  Colt.  360  Mon.  4127  Mon.  Cott.: 

handmahal.  —  9  jh. 

in.  Sachsenspiegel  i  51    §  4.     m  26    §  2    (und   glosse); 

29   §  1    (u.   gl.)  :  hantgemal,   GL   auch  hantmal.   — 

13  jh.     darnach: 

•fina.  Spiegel   deutscher  leute    1,  243  (ed.  Ficker   s.  129) 

=  Ssp.  in  29  §  1  :  hant  gemal.  —  mitte  des  13  jh.s. 

tmb.  Distinctionen  iv  23    dist.   16    (ed.  Ortloff  s.  231)  = 

Ssp.  i  51  §  4:  hantgemal.  —  14  jh. 
-j-inc.  Weichbild    art.  33    (ed.  Zobel    bl.  Lxva2)  =  Ssp.  m 

29  §  1  (und  glosse)  :  handmal.  —  14  jh. 
find.  Niederl.    Sassenspiegel    i    89,    159     (und   glosse)   = 
Ssp.  m  26  §  2;  i  89,  160  =  Ssp.  m  29  §  1  :  hant- 
ghemael.  —   15  jh. 

ß.  Hochdeutsch. 

iv.  Juvavia  155:  hantkimahili  (1.  hantkimahili).  —  Gagan- 
hard, 925. 
v.  Juvavia   175:  hantkimahili.  —  Odalhard,  935. 

weiterhin  mit  bewahrung  des  a: 

vi.  Mon.  Boica   vn   434;     Cod.  Falkenstein,    fol.    2  a  (ed. 

Petz  s.  3)  :  hantgemalehe   (1.   hantgemahele).  —  1180 

bezw.  1193. 
vii.  Diemer  Deutsche  gedichte  des  11  und  12  jh.s,  s.  15,  3: 

hantgemahele.  —  Vorauer  Genesis,  hs.  um  1163 — 1185. 
-j-viu.  Windberger  psalter  (ed.  Graff)  24,   17  :  hantgemahele. 

—  1187. 
•fix.  Münchener  hs.  des   Parzival   (ed.  Lachmann  6,  19)  : 

hantgemahele. 
fx.  Schwabenspiegel   ed.  Wackernagel    402,   5  =  Ssp.  i 

51   §  4  :  hantgemahel.  —  um  1273—1282. 
mit  ä  (e) : 

fxi.  Ahd.  glossen   iv  342,    1 — 2  :  hantgemehele.    —    Cod. 

Emmeram.  (München,  Clm.   14  628),  12  jh. 


326  SCHÖNHOFF 

*xn.  Mon.  Boica  xxxvi  1,  235   :  hanlgemaehü.  —  scherge 
von  Schneitsee  1280  (Oberbair.  urbar). 
fxiu.  Münchener  hs.  (2)  der  Kaiserchronik  (ed.  EdwSchröder 
v.  7142):  hant  gemähel.  —  aus  SNicola    bei  Passau, 
14  jh. 
fxiv.  eine  hs.  des  Parzival  (s.  oben  ix)  :  hantgemcehel. 
*fxv.  JulStrnadt i  Peuerbach.    ein  rechtsbist,  versuch   (Linz 
1868)  s.  43  n.  2  :  handtgemäkl.  —  Peuerbacher  urbar 
von  1598—1608. 
C.  -gimäli,  -gemcele,  -gemcelde. 

xvi.  Mon.    Boica    xiv   361 ;    Juvavia    145  :  hantgimali.  — 

Rihni,  927. 
xvn.  Kaiserchronik  (ed.  Schröder  v.  7142)  :  hantgemcele.  — 
nach  derVorauer  hs.  (vgl.vn);  gedichtet  bald  nach  1147. 
xviii.  Parzival    ed.    Lachmann  6,  19  :  hantgemcelde   (SGaller 

hs.  :  -gemeide).  —  um  1204. 
fxix  Wolfenbütteler  hs.  der  Kaiserchronik  (oben  xm  und 
xvn)  :  hant  gemeld.  —  14  jh. 
Wenn  wir  von  dem  ersten  componenten  des  wortes  hand- 
gemal  (auch  anth-  in  nr  i  ist  nur  die  romanische  Schreibweise 
für  hanlh-)  abseben ,  so  tritt  uns  der  zweite  bestandteil  schon 
in  alter  zeit  in  drei  verschiedenen  lautformen  entgegen  :  -mallus 
(nr  i),  -mahal,  -mahili  (n  —  xv)  und  -mdli  (xvi  —  xix).  das 
fränk.-Iatein.  mallus  ist  schon  früh  als  lautverwaut  mit  dem 
got.  mapl,  ahd.  mahal  erkannt  worden,  und  seit  JGrimm  galt 
-die  entwicklungsreibe  mapl  ^>  mal  (wie  altnord.  mal  und  möl, 
und  lat.  mallus)  >  mahal.  —  das  11  in  mallus  erklärte  zuerst 
richtig  ESievers  ldg.  furschungen  4,  335 — 340  als  aus  dl  ent- 
standen; er  setzte  als  grundform  ein  german.  *madläm  neben 
dem  herschenden  *mäplam  an.  auch  das  Verhältnis  des  ahd. 
mahal  (anord.  mal,  aengl.  mcedel)  zum  got.  mapl  stellte  Sievers 
Beitr.  5,  531 — 535  fest,  german.  pl  wird  darnach  im  inlaut  zu 
yl  (hl),  das  in  den  nordgermau.  sprachen  weiter  in  stimmloses  l 
übergeht  unter  deiiuung  des  voraufgehnden  vocales  (anord.  nöl 
'nadel'  aus  *neplö;  mcela  'sprechen'  zu  got.  mapljan);  im  ahd. 
und  alts.  entwickelt  sich  wenigstens  teilweise  ein  hl  (ahd.  alts. 
mahal).    das  altengl.  erhält  das  pl  durchgehends  (mcedel,  nddl  usw.). 

1  Strnadt   bezieht  das  handtgemäkl  auf  das  asylrecht    (pro  übertäte 
tuenda,  Juvavia  s.  194). 


HANDGEMAL  UND  SCHWURßRUDERSCHAFT         327 

das  altniederfränk.  {ndlda  'nadel'  aus  *nahalda)  und  allfries. 
(nelda)  kennen  anscheinend  nur  hl,  doch  tritt  im  mal.  auch  ein 
madelare  =  'zaakwaarnemer'  (Mul.  wörterb.  iv  945)  auf,  wie 
ahd.  Madal-  in  eigennamen  (Forstemanu  i  920  h°).  neben  mahal 
ist  ahd.  ndlda  (Tatian  106,  4),  rnndd.  ndlde  (Sachsensp.  i  24,  3; 
Kilian  und  Dieffenh.)  der  einzige  beleg  für  den  deutschen  laul- 
wandel  pl  ^>  hl1,  sonst  erscheint  immer  -thal  und  -dal, 
ahd.  wedil  'schweif  (anord.  vele),  alts.  tanstuthlia  'zahnreihe' 
(anord.  stäl  'parenthet.  satz  in  einer  halbsirophe'),  bodlös  n.  pl. 
häuser  (anord.  bot). 

Diese  lautgesetze  stellen  die  identität  des  fränk.-latein. 
anthmallns  und  des  altsächs.  handmahal  aufser  jeden  zweifei. 
die  ahd.  form  -gimahili  (german.  *-gamapliam)  weist  als  svara- 
bhaktivocal  ein  i  auf  gegenüber  dem  a  in  mahal  (aus  *mahl), 
beeinflusst  durch  das  i  der  endsilbe;  vom  12  jh.  ab  dringt 
auch  hier  der  (secundäre)  /-umlaut  durch,  der  bislang  durch  das 
unmittelbar  voraufgehude  h  verhindert  worden  war.  secun- 
därer  t-umlaut  wird  meist  d  geschrieben  (xii — xv),  seltener  e 
(xi),  daneben  bleibt  auch  das  alte  a  unverändert  erhalten  (vi — x). 
—  das  hantgemdl  des  Sachsenspiegels  (in)  und  der  von  ihm  ab- 
geleiteten darstellungen  .  ist  die  lautgesetzliche  fortsetzung  des 
altsächs.  handmahal]  schon  in  altsächs.  deukmälern  schwindet 
intervocal.  h  unter  dehnung  des  voraufgehnden  vocals,  zb.  sld 
'schlag'  (Eltener  glossen),  mdl  'iusticia  ac  census'  (Heliand: 
mahal;  Urkunde  Ottos  i  von  959  in  MGDiplI.  i   205). 

Eine  eingehndere  besprechung  erheischt  ahd.  hantgimdli 
(Juvavia  145),  mhd.  hantgemcele.  da  ein  ahd.  -aha-  (mhd. 
•ahe-)  auf  bajuvarischem  boden  erst  im  ausgange  des  mittel- 
alters  zu  d  contrahiert  wird,  legte  diese  abweichende  form  die 
verwautschaft  mit  ahd.  mdl  sehr  nahe.  in  der  recension  von 
Sievers  Tatian,  2  aull.  (Anz.  xix  [1893]  235 — 244)  wies  nun 
RKögel,  an  das  tatianische  sinu  (aus  sih-nu)  anknüpfend,  aao. 
s.  244  zuerst  nach,  dass  german.  h  vor  /,  r,  n,  w  auch  im  inlaute, 
selbst  in  der  composilionsfuge  schwinde.  neben  ahd.  fihala 
steht  fila  'feile',    neben   uuihrouch    (anal,    nach   uuih)  unirouch, 

1  nnl.  naald,  groning.  nal,  nalle  (aus  nälde),  drenth.  naold  (Moleina 
Groning.  wb.  275),  nordemsländ.  und  bentheim.  nule  beweisen,  dass  das 
niederländische  als  der  ausgangspunct  für  diese  worlfonn  anzusehen  ist. 


32S  SCHÖNHOFF 

ueben  Hhlauui  'cieatrix'  likwi  (Ahd.  gloss.  iv  258,  3  aus  dem 
12  jh.);  selbst  h  aus  ch  (germ.  k)  schwindet  öfters,  zb.  chir- 
uuarta  'ecclesiarum  provisores'  (Ahd.  gloss.  n  342,  9).  auch 
an  unserer  stelle  findet  sich  ein  beleg  für  dies  lautgesetz:  neben 
Rihni  (i.  e.  Rich-ni)  wird  auch  Rhini  (Juv.  145)  geschrieben, 
demnach  stellt  ein  ahd.  -gimdli  aus  -gimahli  die  natürliche 
fortsetzung  des  german.  *-gamapliam  dar,  während  ein  -gima- 
hili  nur  durch  analogische  entwicklung  eines  svarabhaktivokals 
(der  in  tnahal  lautgeselzlich  eintrat)  sein  h  intact  erhielt,  ahd. 
-gimdli  muste  zu  mhd.  -gemcele  werden,  wie  ein  voraus- 
zusetzendes -gimdlidi  mit  angehängtem  ■  ipi -  suiiix  die  Vorstufe 
des  Wolframschen  -gemalde  bildet. 

Was  ist  nun  die  ursprüngliche  bedeutung  von  *-gamapliam! 
—  got.  mapl  n.  (Marc.  7,  4)  übersetzt  das  griech.  dyoqcc  (lat. 
forum,  Tatian  84,  4  strdza),  'kaufmarkt'.  —  ahd.  mahal  ist  in 
den  glossen  contio1  (9  jh.  Ahd.  glossen  ii  260,  12;  11  jh. 
Tegernseer  codex,  aao.  i  368,  29);  pactum  (8  jh.  Keron.  glossen, 
i  256,  19;  9—10  jh.  Reichenauer  hs.,  ii  349,  1);  pactio 
0  225,  16);  foedus  (nuptiarum,  n  147,  30)  und  forum  (niederd. 
10  jh.,  Oxforder  Vergilglossen,  n  717,  58).  auch  der  SPetrier 
codex  (Glosse  zur  lex  Ripuaria  tit.  36  §  11,  Ahd.  gl.  ii  354,  7) 
meint  wol  den  gesamten  kaufverlrag,  wenn  er  die  worte  : 
'spatham2  cum  scogilo  pro  7.  solid,  tribuat.  spatham  absque 
scogilo  pro  tribus  solidis  tribuat'  —  mit  mahal  glossiert.  — 
im  Heliand  v.  1312  (Moo.),  2891  (Mon.),  3834  und  4710  (Cott.) 
kann  mahal  überall  Versammlung  (concio,  samenunga,  Gloss.  i 
473,  22.  iv  272,  14)  bedeuten,  obgleich  Brunner  Rechtsgesch. 
i  144  in  v.  1312  gerichtstätte,  Rückert  in  v.  2891  gericht  über- 
setzt, diese  bedeutung  hat  das  wort  sicherlich  im  Muspilli  v.  31. 
63  uud  im  lied  vom  hl.  Georg  (Georio  fuor  ze  malo).  an  letzterer 
stelle  findet  sich  wider  ein  beleg  für  das  Kogelsche  geselz  : 
*mahl  >>  mahal,  *mahlö  (instrum.)  >  mdlu{o).  wenn  Muspilli 
v.  61  ze  demo  mahale  lautet,  so  ist  dies  eben  eine  analog,  neu- 
schöpfung  nach  dem  nomiuativ.  —  in  den  Edden  ist  mal  in  der 
bedeutung   'gericht'    nirgendwo    überliefert;    spräche,   rede,  wort, 

1  auch   mallus   wird    als    Übersetzung   von   concio    gegeben.     MGScr 
rer.  Meroving.  iv  165,  1  ff. 

2  spata  twert.  Gloss.  m  258,  2.  289,  12.  309,  12.  623,  8  u.  ö.  668,  26. 
zu  scogilum  (scheide)  vergl.  alts.  sköh  'schuh'. 


HANDGEMAL  UIND  SCHWURBRUDERSCHAFT         329 

beratung,  spruch  in  gebundener  rede,  Vortrag  sind  die  gewöhn- 
lichen  Übersetzungen,     der  plur.  möl  ist  gedieht,  Lied. 

Denselben  bedeutungsinhalt  zeigt  das  zugehörige  verbum  got. 
mapljan  (Joh.  14,  30  Xalelv,  loqui;  Tatian  167,  7  sprehhan); 
mapleins  (Juli.  8,  43)  ist  lalia  (loquela;  Tat.  131,  18  sprdhha); 
fauramapieis  =  ccq%cov  u.  ä.  (Matth.  9,  34;  Luc.  8,  41  u.  a.). 
neben  altnord.  mwla  'sprechen'  steht  alts.  mahlian,  gimahlien 
Micere,  loqui,  confiteri'  (Heliand  v.  139.  165.  914  u.  ö.  =  Luc.  1, 
18.  20.  Joh.  1,20;  dixit,  gimdlda,  Coli.  v.  3993,  Joh.  10,  16). 
im  Hildebrandsliede  :  Hillibrant  gimahalta;  in  deu  glosseu  paclus 
gimahlida  (n  718,  37;  vgl.  ir  16,  34;  407,  5.  467,  27);  hei 
INotker  mälön  'arguere'  (Ps.  49,  8  im  Cod.  Sangall.;  der  Cod. 
Vindob.  hat  an  dieser  stelle  frdgen). 

Das  übereinstimmende  Zeugnis  des  got.,  anord.,  ahd.  und  alts. 
beweist,  dass  wir  in  dem  german.  *maplam  eine,  etwa  rhythmisch 
gegliederte  und  mit  starkem  accente  vorgetragene  rede  zu  sehen 
haben,  wie  sie  der  thinggenosse  bei  der  volksversammluüg  zu 
halten  pflegte,  in  den  Edden  ist  aus  der  poetischen  seite  dieser 
ursprünglichen  bedeutung  das  mal  'vers,  Strophe'  und  die  möl 
'gedieht,  lied'  erwachsen,  im  ahd.  und  alts.  die  Volksversammlung, 
das  volksgericht ]  überhaupt,  daneben  auch  (wie  im  got.)  wegen 
des  innigen  Zusammenhanges  von  Volksversammlung  und  markt 
der  kaufmarkt,  forum.  —  Leo  Meyer  Die  got.  spräche  §  344, 
s.  402  verglich  zuerst  das  aind.  manlram  'Zauberspruch',  man- 
trayati  'berät,  spricht'  (awest.  mqOra  'wort,  heiliges  worl')^ 
das  sich  mit  dem  german.  *maplam  in  der  gemeinsamen  be- 
deutung 'rhythmisch  gebaute,  pathetische  rede'  zusammenfindet, 
die  lautliche  form  (aind.  mantram  geht  etwa  auf  *montlom,  got. 
mapl  auf  *motlom  zurück)  macht  dagegen  Schwierigkeiten,  die 
man  zt.  aus  dem  wege  schafft,  wenn  man  aind.  mantram  von 
manas  (griech.  (xevog)  trejint  und  statt  dessen  zur  wurzel  me 
'messen'  stellt2.  — 

1  mahal  ist  über  die  ahd.  zeit  hinaus  nicht  mehr  gangbar  in  der  deutschen 
Sprache,  an  seine  stelle  tritt  das  ding  (got.  peihs  =  %qövos,  xaigöq,  urver- 
want  mit  latein.  lempus;  langobard.  Ihinx),  das,  wie  mahal  die  rede  auf 
der  Versammlung,  ursprünglich  nur  den  zeitpunet  des  gerichtes  bezeichnete. — 
mallum  dinc  Ahd.  gloss.  m  124,  41.  209,  50. 

2  lat.  mo-dius,  griech.  fie-roor,  (ti-di/tvos,  got.  mi-tan  ;  latein.  me-liri\ 
griech.  //>,'»',  got.  mena,  lat.  mensis;  got.  mels  zeigen  ebenso  mannigfache 
suflixe  wie  aind.  ma-nlram,  got.  ma-pl. 


330  SCHÖNHOFF 

Um  das  resultat  kurz  zusammenzufassen,  so  ist  germ. 
*-£amapliam,  ahd.  gimahili,  gimdli  der  Inhalt  einer  rede,  eines 
Vertrages,  der  etwa  auf  einer  Volksversammlung  (mahal)  geschlossen 
wurde;  bei  dieser  deulung  bleibt  kein  Zweifel,  dass  der  erste 
component  des  handgemals  (wie  schon  der  glossator  des  Sachsen- 
spiegels will)  hier  nur  die  schwörende  hand  bezeichnen  kann, 
die  als  wichtigstes  glied  des  menschlichen  körpers  symbolisch 
den  vertrag  bekräftigt  und  seine  erfüllung  garantiert,  noch  der 
Windberger  psalter  (1187;  oben  nr  vih)  fasst  das  handgemal  in 
diesem  sinne  (testamentum  =  bundesvertrag;  Notker  ps.  82,  6  : 
ioh  iegelich  kezumft  ioh  einunga  heizzet  testamentum.  Also  iacob 
unde  laban  testamentum  {des  einunga)  taten,  daz  sie  ioh  Jebinde 
uueren  solton);  und  der  codex  Falkenstein.  (1180;  oben  nr  vi) 
spricht  klar  und  deutlich  von  dem  cyrographum  (in  glossen: 
hantfesti,  hantgiscrip),  quod  teutonica  lingua  hantgemahele  voca- 
tur,  also  einem  schriftlich  niedergelegten  bundesvertrag  über  den 
gemeinsamen  besitz  (tiobilis  viri  mansus).  im  einzelnen  vgl.  die 
betr.  abschnitte  im  dritten  capitel. 

3  CAPITEL.  DAS  SACHLICHE. 
Das  handgemal  —  um  die  mannigfachen  gestalten  des  namens 
in  dieser  durch  den  Sachsenspiegel  berühmt  gewordenen  form  zu- 
sammenzufassen —  tritt  vom  9  bis  zum  13  jh.  in  drei  verschiedenen 
landschaflen  auf  :  in  Oberitalien,  Baiern  südlich  der  Donau  und 
Sachsen,  speciell  Ostfalen.  festere  wurzeln  hat  es  nur  in  Ober- 
baiern  und  Salzburg  geschlagen,  denn  das  sächsische  handgemal 
ist  nur  dadurch  in  den  Vordergrund  des  historischen  interesses 
getreten,  dass  Eike  vRepgow  diesem  institut  einen  bevorzugten 
platz  in  seinem  Sachsenspiegel  gönnte,  im  allgemeinen  sind  die 
forscher  bei  der  erklärung  des  handgemals  vom  Sachsenspiegel 
ausgegangen  und  haben  die  übrigen  stellen,  an  denen  es  erwähnt 
wird,  nur  secundär  herangezogen;  erst  Meister  (aao.)  strebt  eine 
individuelle  und  landschaftliche  sonderung  an,  geht  aber  dabei 
noch  immer  zu  wenig  radical  vor.  der  Untersuchung  der  ein- 
zelnen stellen  seien  hier  zum  besseren  vergleiche  die  definilioneu 
des  handgemals  von  Homeyer,  Gengier,  vAmira,  Adler,  Heck  und 
Wittich  vorangestellt. 

Homeyer  (s.  43  f)  definiert  es  als  :  'das  freie,  mit  einem  etwa 
wehrhaften  Wohnsitze  versehene  grundstück  eines  vollfreien, 
welches  als  haupt-  und  stammgut  des  geschlechtes  ungeteilt  auf 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCI1AFT         331 

den  ältesten  der  schwertseite  sich  vererbt.'  —  Gengier  (aao 
i  176;  aus  d.  j.  1889):  kdas  durch  anbringuog  der  geschlechts- 
niarke  gekennzeichnete  Sondergrundstück,  woran  für  eine  lamilie 
das  allen  sippegenosseo ,  auch  den  weiblichen,  jederzeit  zu  gute 
kommende  Zeugnis  ihres  freienslandes  haftete,  und  welches  darum 
unveräufserlich,  unteilbar  und  nur  im  manusstamme  vererblich 
erschien,  so  dass  in  dasselbe  lediglich  eine  individual-erbfolge 
mit  vorzug  des  ältesten  von  der  schwertseite  platz  greifen  konnte.' 
—  vAmira  (Pauls  Grundriss  2  aufl.,  in  s.  172)  :  'Unteilbarkeit  und 
Vererbung  des  stammgutes  auf  den  ältesten  schwertmagen  zeich- 
neten ....  diejenige  erscheinungsform  des  erbgutes  aus,  die  ...  . 
als  haut gern ahele  ....  vollfreier  uud  in  der  regel  ritterbiirtiger 
leute  auftritt.'  —  Adler  (aao.  s.  8;  a.  d.  j.  1902)  :  'handgemal, 
als  das  von  jeder  abhängigkeit  freie,  insbesondere  auch  steuer- 
freie, oft  mit  dem  Wohnsitze  des  herrn  verbundene  dominicalland 
eines  vollfreien,  das  vielleicht  schon  in  dieser  epoche  das  wesen 
eines  stammgutes  annimmt.'  —  Heck  (Der  Sachsenspiegel  s.  504): 
'heimat  im  geschichtlichen  sinne,  ort  der  herkunft.'  —  Wittich 
(aao.  s.  42.  49)  :  'ein  minimales  bauerngutchen  im  besitz  jedes 
geschlechtsgenossen  ....  die  rechtswürkung  bestand  vor  allein 
in  dem  nachweis  der  schöffenbarkeil ,  der  durch  ihren  recht- 
mäfsigen  besitz  geführt  wurde,  und  ferner  darin,  dass  sie  für 
ihren  inhaber  eine  heimat  im  rechlssinn  begründete.'  —  in  ähn- 
lichem sinne  —  meist  nach  Homeyers  definition  —  wird  das 
handgemal  aufgefasst  bei  FWalter  Deutsche  rechtsgesch.  (Bonn 
1853,  §  417,  s.  477  0,  HZöpfl  Deutsche  rechtsgesch.  (3  aufl., 
Slultg.  1858,  s.  320 ff),  AQuitzmann  Die  älteste  reichsverfassuug 
der  Baiwaren  (München  1866,  s.  40),  HSchulze  Das  erb-  und 
familienrecht  der  deutscheu  dyuastieen  des  miltelalters  (Halle  1871, 
s.  24 — 27.  56),  HPetz  (aao.  s.  xxvi),  AHeusler  Institutionen  des 
deutschen  privalrechts  (Leipz.  1885,  i  16611),  HSiegel  Deutsche 
rechtsgesch.  (2  aufl.,  Leipz.  1894,  s.  12.  57.  424  n.  5.  432  n.  38. 
625  n.  9),  ELagenpusch  Das  germanische  recht  im  Heliand 
(Breslau  1894,  s.  29 — 32)  uud  wider  AHeusler  Deutsche  Ver- 
fassungsgeschichte (Lpz.  1905,  s.  165). 

i  Das   handgemal    bei    den  Langobarden. 

In  zwei    extravaganten    zum    texte  C  (Karlisch,  rechtsb.)    der 
Lex  Salica,  die  Amedeo  Peyron  im  codex  33  des  domcapilels  zu 


332  SCHÖNHOFF 

Ivrea,  einem  alteu  langobardischen  herzogssitze,  entdeckte,  wird 
das  haudgemal  unter  dem  nameu  anthmallus  erwähnt  (Merkel 
s.  99 ff;  Behrend2,  s.  165  ff),  der  Schreiber  der  extravaganten, 
die  aus  dem  9  jh.  stammen,  fühlt  sich  als  Italiener  den  Franken 
gegenüber  (exlr.  v  :  ita  tenent  Franci.  nos  tarnen  in  Italia  propter 
Hludouuici  et  Lotharii  capüulare  ....),  w'e  schon  der  fundort 
für  oberitalischen,  dh.  langobardischen  Ursprung  spricht,  die  zweite 
extravagante  ist  klar  :  wenn  jemand  einen  andern  als  seinen 
sclaven  anspricht,  so  hat  der  beklagte,  falls  er  ausländer  ist,  in 
suo  anthmallo  seine  freie  geburt  nachzuweisen.  Si  quis  quemlibet 
mallaverit  ad  servitium  .  .  .  qui  in  alia  regione  fuit  natus  aut 
longe  infra  patria,  et  ille  diät  quod  ipsius  servus  non  sit  et  suam 
libertatem  in  suo  anthmallo  proportare  possit,  tunc  comes  faciat 
illutn  dare  uuadium  ad  suam  libertatem  proportandam.  weun  nun 
der  beklagte  keinen  eideshelfer  stellen  kann,  so  hat  ihn  der  graf 
unter  bewachung  des  klägers  in  anthmallo  suo  zu  führen,  dass 
er  dort  seine  freiheit  nachweise,  dann  folgen  genaue  angaben 
über  die  wähl  der  eideshelfer. 

Der  text  der  ersten  extravagante  ist  verderbt,  es  heifst  dort: 
Si  quis  aliquem  ad  servitium  mallaverit,  et  ille  uuadium  dederit, 
et  fideiussorem  posuerit,  ut l  anthmallo  legitimos  in  patria  de  qua 
est  festes  sue  libertatis  dare  debeat,  faciat  tunc  comes,  in  cujus 
[praesentia  mallatio  facta  est,  duas  epistolas  uno]  tenore,  et  unam 
habeat  ille  qui  mallat,  alteram  similem  ille  qui  mallatur.  es  folgen 
bestimmungen  über  das  erscheinen  des  klägers  ad  constitutum. 
RSohm  (Altdeutsche  reichs-  und  ger.-verf.  i  316,  note  77)  list 
anthmallo  legilimo ,  dh.  also  :  wenn  jemand  einen  anderen  als 
seinen  sclaven  anspricht,  und  der  beklagte  stellt  einen  eideshelfer, 
dass  er  anthmallo  legitimo,  in  seiner  heimat,  zeugen  für  seine 
freiheit  aufweisen  könne,  dann  hat  der  graf  zwei  Urkunden  an- 
fertigen zu  lassen,  gleichen  Wortlautes,  eine  soll  der  kläger,  eine 
gleichlautende  der  beklagte  erhallen. 

Homever  erklärte  den  anthmallus  als  die  durch  das  stamm- 

m 

gut  bestimmte  heimat  (ebenso  Zöpfl  Heidelb.  jbb.  64,  179 — 180); 

1  nach  Peyron  (von  dem  auch  die  in  eck.  kl.  gesetzte  ergänzung 
stammt).  —  Merkel  las  :  aut,  was  Homeyer  (s.  56,  note  93)  wider  in 
ut  verbesserte,    und  interpretierte   :   ut   legitimos  [in]   anthmallo  [i.  e.]   in 

patria  de  qua  est,  testes Zöpfl  will  lesen  (Heidelbgei  jahrb.  64,  179f.): 

ut  in  patria,  de  qua  est,   aut  aJithmallo 


IIANDGEMAL  UND  SCIIWURimUDERSCHAFT         333 

HSulini  (aao.  s.  318 IT)  trennte  den  anthmallus  vom  bandgemal 
und  zog  es  zu  mallus,  also  'echte  dingslälte  =  legitimus  sui  sa- 
cramenti  locus.'  GelTcken  Lex  Salica,  erlaut.  285  fasste  es  eben- 
falls als  gericht  auf  (auch  Meister  aao.  s.  398  und  note  l)1,  da 
anthmallo  in  patria,  wenn  anthmallus  auch  heimat  wäre,  die  un- 
sinnige bedeutung  hätte  :  in  der  heimat  in  der  heimat.  diese 
bemerkuDg  ist  aber  nicht  ganz  unanfechtbar,  da  patria  (wie  Sohm 
aao.  316  ff  nachweist)  hier  wie  an  andern  stellen,  so  im  capitu- 
lare  Ludwigs  des  frommen  (in  aliena  patria),  einfach  land  be- 
deutet, also  longe  infra  patria  'fern  im  lande',  in  patria  de  qua 
est  'im  lande,  aus  dem  er  stammt'. 

Aus  dem  vereinzelten  auftreleu  des  anthmallus  in  dieser  spät- 
langob.  quelle,  wo  überdies  noch  der  name  selbst  eine  fränkische 
form  trägt  (dem  fränk.  mallus  entspricht  ein  langob.  mahal),  kann 
für  die  bedeutung  des  wortes  mit  Sicherheit  nichts  geschlossen  wer- 
den, die  allgemein  angenommene  erklärung  'gerichlsstätte'  basiert 
nur  auf  der  secundären  bedeutung  des  fränk.  mallus  und  der  Zobel- 
Schmellerscheu  Übersetzung  'forum  competens'  (für  Sachsenspiegel 
und  Heliand).  der  anthmallus  isuus  a.,  a.  legitimus),  wo  der  be- 
klagte seine  freie  gehurt  nachweisen  soll,  kann  jedesfalls  nicht 
das  heimatland  sein,  da  er  iu  patria  de  qua  est  ligt,  also  ge- 
ringeren umfanges  ist.  die  freie  geburt  eines  mannes  war  aber 
an  den  freien  landbesitz  des  vaters  geknüpft,  kann  also  in  unserm 
falle  nur  auf  dem  väterlichen  erbgute  nachgewiesen  werden,  wie 
bei  dem  altsächs.  handmahal  und  den  bairischen  handgemalstellen 
gezeigt  werden  wird,  hat  dort  das  handgemal  einen  weitern 
inhalt  als  das  nodal  'erb-  oder  stammgul';  ob  dies  auch  hier 
zutrifft,  ist  unklar,  möglich  ist,  dass  diese  ältere  bedeutung  für 
die  vorliegende  späte  zeit  der  langobardischen  rechtsverhältnisse 
schon  zu  der  eines  eiufachen  stammgutes  abgeblasst  ist.  weiter 
aber  —  bis  zur  gerichtsslätte,  die  für  den  beklagten  zuständig 
ist  —  darf  aus  den  extravagauten  nichts  geschlossen  werden. 

Ein  indirectes  Zeugnis  für  die  existenz  eines  langobardischen 
handgemals  aus  dem  7  jh.  wird  erst  bei  gelegenheit  der  bai- 
rischen stellen  aufgezeigt  werden,  da  sich  zwischen  ihm  und  dem 
anthmallus  des  9  jh.s  keine  brücke  schlagen  lässt. 

1  Meister  schreibt  Sohm  fälschlich  die  Übersetzung  'stammgut'  zu, 
während  dieser  nur  sagt :  wenn  anthmallus  =  hani%ema\  wäre,  könnte  es  nur 
'stammgut'  bedeuten. 


334  SCHÖNHOFF 

ii   Das   ha  od  genial    bei    den  Sachsen  (Thüringern). 
Hier   kommen    vor  allem  die  beiden    stellen  Heliand    v.  346 
und  360  (Mon.)  in  betracht,  aus  denen  mit  Sicherheit  auf  eiuen 
grundbesitz   geschlossen    werden  kann,    wenn  auch  in  der  land- 
läufigen Interpretation  der  umfang  desselben  falsch  bestimmt  wird1. 
Hei.  v.  345  IT: 
Hiet  man  that  alla  thea  elilendiun  man       iro  ödil  söhtin, 
helidos  iro  handmahal       angegen  iro  he'rron  bodon, 
qudmi  te  them  ciiösla  gihue,      thanan  he  cunneas  icas, 
giboran  fon  them  burgiun. 

Hei.  v.  358  ff: 

[Joseph]         söhta  im  thiu  wdnamon  he'm, 
thea  bürg  an  Bethleem,       thar  iro  beidero  was 
thes  helides  handmahal       endi  öc  thera  helagun  thiornun, 
Marinn  thera  gödun. 

Joseph  und  Maria  gehören  nun  nach  altdeutschem  begriffe 
nicht  nur  zu  den  freien  (gemeinfreien),  sondern  auch  zu  den 
edelen  (nobiles),  wie  aus  der  mittelalterlichen  lilteratur  genugsam 
bezeugt  ist;  zb.  Otfrid  i  11,  19 ff,  an  der  stelle,  die  unserer  nach 
dem  inhalte  entspricht  : 

Ein  bürg  ist  thar  in  laute,       thar  wdrun  io  genante 
hüs  inti  wenti       zi  edilingo  henti: 


want  ira  anon  wdrun  thanana       gotes  drütthegana,  .... 
vdHagen  Gesamlabenteuer  n  331  (niederd.) : 

und  de  edelen  vrien 
de  milden  möder  Marien. 
ebda  in  428  :  Diu  edele  und  diu  frie  Maria. 

Der  lateinische  text,  der  dem  Helianddichter  an  dieser  stelle 
vorlag  (Lucas  2,  4)  lautet : ...  in  civitatem  .  .  .  Bethlehem,  eo  quod 
esset  de  domo  et  familia  David,  was  Tatian  (5,  12)  übersetzt: 
in  Dauidesburg  .  .  .  bithiu  uuanta  her  uuas  fon  huse  inti  fon 
hiuuiske  Dauides  (hiwisc  'familia!,  Glossen  m  68,57.  177,42). 
das  haus  David  (domus  David)  ist  ebenso  wie  nach  dem  heutigen 
Sprachgebrauch  die  dynastie,  die  sippe  Davids,  familia  =  hiwisc  die 

1  meist  wird  nach  Schindler  'forum  competens'  übersetzt  (auch  bei 
Meister  aao.  s.  398).  Martin  im  comm.  zu  Parzival  6,  19  (s.  17)  erklärt  schon 
richtiger  'heimat'. 


HANDGEMAL  UND  SCHWUKBHUDERSCHAFT         335 

hausgenossenschaft'(got.  AcJica-'liaus'),  die  schar  der  nächsten  bluts- 
verwanten  —  ähnlich,  nur  in  umgekehrter  reihenfolge,  Hei.  v.  347: 

qudmi  te  them  cnösla  gihue,  thanan  he  cunneas  was. 
denn  cunni1  ist  die  sippe,  der  weitere  stamm,  kndsal  die  engere 
familie  (Lagenpusch  Das  german.  recht  im  Heliand  [Breslau  1894] 
s.  22  f).  dem  entsprechend  stehn  sich  auch  die  parallelen  öilil 
(v.  345)  und  handmahal  (346),  wie  ciiösal  und  cunni,  als  engerer 
und  weiterer  erbbesilz  einauder  gegenüber,  ödil,  altengl.  edel, 
afries.  e'thel,  ahd.  uodal,  ist  das  erb-  oder  stammgut,  über  dessen 
besitz  der  eigentümer  nur  beschränkt  verfügen  konnte,  auf  das  dem 
mannesstamme  der  familie  die  Vorhand  eingeräumt  war.  wenn 
also  das  handmahal  einen  weitern  verwantschaftskreis  angeht,  so 
kann  es  nur  der  stamm-  und  erbbesitz  mehrerer  familien  (bzw. 
einer  sippe)  sein,  die  zum  stände  der  edeln  zählten.  Joseph  und 
Maria,  deren  gemeinsames  handmahal  (iro  beidero  was  .  .  .  hand- 
mahal) in  Bethlehem  gelegen  war,  gehörten  in  der  tat  wol  zu 
6iner  sippe,  aber  sie  waren  doch  nicht  aus  einer  hausgemeiu- 
schaft,  familie,   entsprossen. 

Die  dritte  Heliandstelle  (v.  4127),  deren  text  in  den  beiden 
handschriften  verschieden  überliefert  ist,  weist  wenigstens  in  einer 
hinsieht  einen  klaren  sinn  auf;  dort  wird  das  handgemal  des 
gesamten  Judenvolkes  in  Jerusalem  localisiert,  was  zu  der  aus 
v.  346  und  360  erschlossenen  bedeutung  eines  sippengutes  (bezw. 
mehreren  familien  eigeuen  besitzes)  aufs  trefflichste  stimmt, 
v.  4125  ff:  söhtun  im  liudi  ödra 

an  Hierusalem,       thar  Judeono  was, 
heri  endi  handmahal'2       endi  hööidstedi, 
gröt  gumskepi       grimmaro  thioda. 
Weder    die    bedeutung    noch    die    quantität   noch   der  casus 
des  heri  stehn  unumsloTslich  sicher  fest.    Grein  zog  es  als  »enitiv 
sing,  appositionell  zu  Judeono  (Germ.  11,  214),  er  list  heri  hand- 
mahal;  Piper  folgt   ihm  in  der  construclion ,    list  aber  heri  und 
nimmt  dies  als  geniliv  der  mehrzahl.    da  aber  in  diesem  falle  der 
artikel    nicht   fehlen   dürfte    (Sievers),    so  muss  heri  als  nominal, 
sing,   angesehen    werden,     ob    das  e  in    heri  lang  oder  kurz  ist, 

1  gmiis  chunni;  Glossen  in  68,  48.  177,  39. 

2  conj.  von  Heyne;  Mon.  hereo  endi  handmahal,  Coü.  hevi  huand 
mahal.  Heyne  folgen  Rückert  und  Sievers  (vgl.  auch  Zs.  19,  68).  Piper 
list  :  heri  handmahal,  Behaghel  :  heri  handmahal. 


336  SCHÖNHOFF 

ist  ebenfalls  nicht  sicher,  metrisch  ist  beides  zulässig  (FKauff- 
manu  Zur  rhythmik  des  Heliand  ßeitr.  12,283 — 355;  besonders 
s.  349).  heri  m.  würde  menge,  umstand  bedeuten  (Lagenpusch 
aao.  s.  49ff.  53  ff),  heri  f.  maiestas,  magnitudo,  magistratus  * 
(Ahd.  glossen  n  388,41.  439,17.  491,26.  507,28.  541,70. 
5SS,  51.  611,  54),  und  dies  ist  Heliand  v.  1898  Mon.  for  thea  heri 
(=  Lucas  12,  11  :  ad  magistratus),  3526  te  theru  heri  (—  Marc. 
10,  33   :  principibns  sacerdolum) ,   5413    Cott.   thiu   heri    (Matth. 

27,  20   :  princeps  .  .  sacerdohim),    und    5876   thero   heri    (Matth. 

28.  11  :  principibus  sacerdotum)  mit  Sicherheit  einzusetzen,  höbid- 
stedi'2  bezeichnet  nach  Sievers  die  residenzstadt  (in  glossen 
toparchas  houbitsteti),  eher  wol,  wenn  man  heri  als  Volksmenge 
auffasst,  die  hauptstätte,  dh.  die  statte,  wo  die  hauptmasse  der 
Juden  safs,  denn  in  Jerusalem  konnte  doch  nicht  die  residenz- 
stadt sein  (thar .  .  .  was  .  .  .  heri  endi  handmahal  endi  hötidstedi). 
aus  diesen  erwägungen  heraus  ist  zu  übersetzen  :  'in  Jerusalem, 
wo  der  Juden  Volksmenge,  Stammesbesitz  und  hauptstätte  war, 
und  eine  grofse  schar  böswilligen  volkes',  eine  Übersetzung,  die 
weder  grammatisch  noch  inhaltlich  anstöfsig  ist. 

Für  das  Ostfalen  des  9  jh.s,  wo  höchstwahrscheinlich  der 
Heliand  entstand,  kann  also  das  handmahal  definiert  werden  als 
gemeinsames  erbeigen  mehrerer  edlen  familien,  die  vielleicht  im 
sippenverband  standen  und  ihre  edel-freie  herkunft  aus  diesem 
ihrem  besitze  beweisen  konnten  —  wenn  damals  wie  bei  den 
Langobarden  und  vielleicht  auch  im  Sachsenspiegel  diese  gewohn- 
heit  juristisch  festlag. 

Die  auffassung  des  Sachsenspiegels,  der  nicht  weit  von  der 
wahrscheinlichen  heimat  des  Heliand  zu  hause  ist,  wird  sich  von 
der  eben  entwickelten  bedeutung  schwerlich  stark  entfernt  haben, 
charakteristisch  ist  nur,  dass  an  stelle  der  edlen,  dh.  der  freien 
(ritterbürtigen)  herren,  die  vielleicht  im  Heliand  nur  zufällig  ein- 
geführt waren  (beim  langob.  handgemal  kommen  ja  nur  freie 
überhaupt  in   belracht),  hier  der  gemeinfreie,  der  schepenbar  vri 

1  zu  der  letzten  bedeutung  kann  man  eine  ganz  ähnliche  stelle  Hei. 
v.  4214 ff  vergleichen: 

innan  Hierusalem,     thar  Judeono  uuas 

hetelic  hardburi  (=  magistratus;  Glossen  I  207,  12). 

2  Wittich  list  hier  hobistedi  'hofesstätte';  ist  das  absichtlich,  also  con- 
jectur?  oder  nur  ein  lesefehler?  —  das  letztere  ist  wahrscheinlicher. 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT         337 

man  als  hesitzer  oder  anteilhaber  des  handgemals  erscheint,    dann 
auch   tritt  hier   die   bezieht! Dg  des  handgemals   zum  zuständigen 
gerichte  —  ähnlich  wie  in  der   langohardischen    extravagante  — 
stark  hervor,  wie  sie  im  Heliand  noch  völlig  latent  ist.    oh  nun  im 
einzelnen  die  auffassung  Hecks  oder  Witlichs  die  zutreffende  ist, 
kann    dahingestellt    bleiben,     sicher  ist,   dass  das  handgemal    des 
Sachsenspiegels  —  weil   später   als  der  Heliand  —  eine   weitere 
entwickhing  desselben  darstellt;  wie  weit  diese  im   13  jh.  bereits 
gegangen  ist,  ob  noch  geschlechtsgut  nach  Homeyer  (legitimations- 
deutun»),  oder  bereits  einzelgut  nach  Wittich  (viudicationsdeutung) 
oder  einfach  heimat  nach  Heck  (hist.  deutung),  kann  nur  durch  die 
eingehnde    erforschung   der  damaligen  rechtsverhältnisse   und  die 
fruchtbare   discussion    der  fachjjelehrten  entschieden  werden,     da 
jede  der  drei  genannten  auffassungen  nur  verschiedene  stufen  einer 
gradlinigen  entwicklung  darstellt,    und   alle  aus  der  von  mir  für 
den  Heliand  ermittelten  bedeutung  abgeleitet  werden  können,  so 
ist  hier  eine   weitere   Untersuchung    überflüssig.  —  dem    nieder- 
deutschen   glossator,   der,  durch   den  gleichklang  der  worte  mdl 
'zeichen'  und  mdl  'gerichl'  geteuscht,  eine  dementsprechende  etymo- 
logie  (vom  Schöffenabzeichen)    gibt,    war  das  handgemal   offenbar 
nicht  mehr  etwas  lebendiges,  sondern  schon  im  absterben  begriffen. 
Die  rechtsbücher,  die  in  den  fufsstapfen  des  spieglers  wandeln 
und   das  wort  hantgemdl  von  ihm  übernommen  haben,    scheinen 
den  begriff  meist  nicht  mehr  zu  kennen  (Rechtsbuch  nach  distinc- 
tionen  iv  23    dist.  16,    ed.  FOrtloff  s.  231  ff;    Magdeburg,  weich- 
bild    ed.    ChrZobel  art.  33).      charakteristisch    ist   hier   das    ver- 
schiedene verhalten  des  Deutschen-  und  Schwabenspiegels,  während 
dieser  für  das  niederdeutsche  hantgemdl  das  entsprechende  hoch- 
deutsche   hantgemahel    einsetzt,    behält    jener   die    nordd.   form1 
bei,  ein  zeichen,  dass  sein  bearbeiter,  der  etwa  um  die  mitte  des 
13  jh.s  in  Augsburg  (Schwaben)  schrieb,  den  begriff  nicht  kannte, 
dem  Verfasser  des  Schwabenspiegels,  der  vielleicht  aus  der  diöcese 
Bamberg  stammte  und  in  Baiern  oder  Schwaben  schrieb  (s.  unten 
in  Das  handgemal  bei  den  Baiern),   war  dagegen  das  rechtsinstitut 
wenigstens  dem  namen  nach  aus  hochdeutschen  landeu  bekannt. 


■e* 


1  dass  es  nicht  die  fortsetzung  des  ahd.  hanlgimdli  sein  kann,  beweist 
das  Wolframsche  hanlgemwlde ,  Kaiserchron.  hantgemcele ,  mit  ihrem  um- 
laut,  die  umlauttose  form  -gemahel  verdankt  die  erhaltung  des  a  eben 
dem  folgenden  k  (s.  oben  2  cap.). 

Z.  F.  D.  Ä.  XLIX.     N.  F.  XXXVII.  22 


338  SCHÖNHOFF 

Zum  schluss  ist  noch  die  Überschrift  zu  rechtfertigen  :  'das 
handgemal  bei  den  Sachsen  (Thüringern).'  es  ist  nicht  uner- 
heblich für  die  geschichte  des  handgenials,  dass  es  beide  male, 
da  es  auf  sächsischem  boden  vorkommt,  dort  erscheint,  wo  die 
Sachsen  erst  nach  der  Vernichtung  des  thüringischen  reiches  im 
jähre  531  sich  angesiedelt  haben  (pagus  Nortthuringowe  Saxoniais). 
selbst  die  —  freilich  sehr  unsichern  —  stellen  aus  Urkunden, 
die  Heck  (aao.  s.  509.  510)  und  Wittich  (aao.  s.  42.  45)  aus  dem 
Hildesheimschen  urk.-b.  beigebracht  haben,  beschränken  sich  fast 
ausschliefslich  auf  Ostfalen.  diese  bevorzugung  eines  neueroberten 
landesteiles  in  der  erhaltung  alter  rechtsverhältnisse  gegenüber 
den  erbsilzen  der  Sachsen  im  westen  und  norden  weist  darauf 
hin,  dass  die  Institution  des  handgemals  nicht  sowol  den  Sachsen, 
als  den  von  ihnen  unterworfenen  Thüringern,  den  enkeln  der 
Ermunduren,  eigen  war.  dann  erklärt  sich  —  wie  bei  den  viel- 
gewanderten Langobarden,  deren  reich  im  9  jh.  auch  schon  längst 
vernichtet  war  —  sehr  leicht  die  schwache  erhaltung  des  hand- 
gemals entgegen  dem  viel  zahlreicheren  vorkommen  desselben  auf 
altbairischem  gebiete,  aber  auch  seine  schnelle  bedeutungsent- 
wicklung.  bezeichnet  doch  anthmallus  sowol  wie  handmahal  und 
hantgemdl  ausschliefslich  einen  grundbesitz,  während,  wie  in  in 
gezeigt  werden  soll,  das  bairische  hantgemahele  in  der  mehrzahl 
der  belege  noch  die  alte  bedeutung  des  Vertrages  durchblicken 
lässt,  ja  zt.  noch  (wie  im  Windbeiger  psalter)  mit  bundesvertrag 
übersetzt  wird. 

in   Das  handgemal  bei  den  Baiern. 

Wie  sehr  auch  Heliaud  und  Sachsenspiegel  das  handgemal 
in  weiten  kreisen  bekannt  gemacht  haben,  so  ist  es  doch  bei 
einem  anderen  stamme  zu  hause,  nämlich  bei  den  Baiern.  hier 
wird  es  vom  10  bis  zum  14  (17  ?)  Jahrhundert  oftmals  urkundlich 
und  litterarisch  erwähnt,  und  zwar  in  einer  bedeutuugsentwicklung, 
die  man  gleich  von  anfang  an  deutlich  verfolgen  kann,  testa- 
mentum,  lex,  mundiburdium,  cyrografum  wird  es  genannt  —  gleich- 
zeitig aber  auch  im  letzten  falle  nobilis  viri  mansus  und  weiterhin 
curtilis  locus,  particula  proprietatis  und  pars  una  pro  libertate 
tuenda.  erst  später  tritt  es  als  feodum,  noch  später  als  haus 
und  gärtel  auf,  und  in  einem  auf  römische  Verhältnisse  über- 
tragenen sinne  wird  ein  amphitheater  in  Rom  (spilhtis)  zum 
hantgemale  gerechnet. 


HANDGEMAL  UND  SC11WURBRUDERSCHAFT         339 

A.    'Testamentum,   lex,    mundiburdium,    cyrografum.' 

An  der  spitze  dieses  abschnittes  steht  billich  die  versiou 
des  wortes  testamentum  mit  hantgemahele,  die  der  Windberger  * 
psalter  von  1187  (psalm  24,  17  ed.  GralT)  bietet,  ps.  24,  14: 
Firmamentuni  est  dominus  timentibus  eum,  et  testamentum  ipsius 
ut  manifestelur  Ulis  =  Wiudb.  ps.  :  Ein  ueste  ist  der  herro  den 
furhtenten  inen,  unde  daz  hantgemaltele  sin  selbes,  daz  iz  eroff'e- 
net  werde  in. 

Die  in  betracbt  kommende  stelle  übersetzt  INotker  :  unde  er 
tuöt  daz  in  geöffenot  uuerde  sin  ea  die  er  in  beneimda.  Du  Hamel 
merkt  zur  erklärung  des  psalmverses  an  (i  648  fufsn.)  :  'Deus 
quasi  pactum  init  cum  timentibus  se  .  .  .'  testamentum  ist  ein 
vertrag,  nicht  nur  wie  der  erblasser  ihn  zu  gunsteu  seiner  erben 
aufsetzt,  sondern  auch,  wie  zwei  lebende  ihn  mit  einander 
schliefsen,  wie  Augustinus  zu  ps.  82,  6  bemerkt  :  testamentum 
sane  in  scripturis  non  illud  solum  dicitur  quod  non  vatet,  nisi  testa- 
toribus  mortuis  :  sed  omne  pactum  et  placitum  testamentum  vocabant. 
nam  Laban  et  Jacob  testamentum  fecerunt,  quod  utique  etiam  inter 
vivos  valeret.  diese  erklärung  übernimmt  auch  Notker  (ed.  Piper 
ii  343)  :  testamentum  .  .  .  einunge.  Testamentum  heizzet  peidiu  ioh 
daz.  daz  dir  netoüg.  dne  töten  peneimedarin.  ioh  iegelich  kezumft 
ioh  einunga  (placitum)  heizzet  testamentum.  Also  iacob  unde  laban 
des  e'inwiga  täten,  daz  sie  ioh  lebinde  uueren  solton.  und  zu 
ps.  77,  10  schreibt  Notker  :  Si  nehuötun  Gotes  eo.  Testamentum 
(pineimeda)  ist  lex.  also  ouch  därföre  testimonium  (sin  ürchunde)2. 
man  sieht,  dass  die  Übersetzung  von  hantgemahele  im  Windberger 
psalter  durch  ;bund,  vertrag,  vertragsurkuude'  genau  mit  der  oben 
etymologisch  entwickelten  bedeutung  'schwurvertrag,  pactum'  über- 
einstimmt. 

Die  gleichsetzung  Notkers  (aao.)  :  Testamentum  ist  lex  wirft 
ein  klares  licht  auf  die  stelle  in  der  Juvavia  s.  145,  wo  es  heifst: 
excepta   lege  sua,   quod  vulgus  hantgimali6  vocat.     es  ist  dies  in 

1  das  prämonstratenserkloster  Windberg,  gestiftet  1141  vom  grafen 
Adalbert  i  vBogen  und  seiner  gattin  Hedwig,  ligt  am  Bogenbach,  nördl. 
des  Schlosses  Bogen,  noch  im  bairischen  Donaugau.  —  Mon.  Boica  xiv  1  —  110; 
Mon.  Windbergensia,  i  teil  :  Verh.  des  bist.  Vereins  für  Niederbaiern  bd  23 
(1884),  s.  137—179. 

a  testamentum  und  ürchunde  setzt  Notker  auch   zu  ps.  24,  10  gleich. 

3  Mon.  Boica  xiv  361  lesen   hier  :  hantigimali. 

22* 


340  SCHÖNHOFF 

einer  tauschurkunde  zwischen  erzbischof  Uodalbert  n  von  Salz- 
burg (923-935)  und  der  edlen  frau  Rihni,  datiert  Rohrdorf  (im 
Chiemgau)  vom  jähre  924,  und  Salzburg  vom  1  april  927.  Rihni 
übergab  in  diesem  tauschvertrage  dem  erzbischof  durch  ihren 
bevollmächtigten  Deotrich  ihre  besitzungeninSeeon,  ferner Zeidlarn, 
Kirnbach,  Pietelbacb,  Schönberg,  Hörlsheim  und  Holzhausen1  — 
aufser  ihrer  'lex',  die  auf  deutsch  hantgimali  hiefs.  reichlich 
siud  die  bislang  versuchten  erklärungen  —  Homeyer  (aao.  s.  18): 
'die  unter  dem  namen  hantgemal  bekannte  parlicula  und  das 
daran  hängende  recht';  AQuitzmann  (Oberbayr.  archiv  32,  1 1 8 f ) : 
'das  vom  geselze  sauctionierte  zeichen  der  vollen  Standesfreiheit'; 
Gengier  Ein  blick  auf  das  rechtsleben  Rayerus  unter  herzog  Otto  i 
vWittelsbach  (Erlangen  1880,  s.  8)  :  'sein  stammrecht';  EMayer 
(Verf.-gesch.  i  417)  :  'berechtigung  =  markgenossenschaftsrecht'; 
SAdler  (aao.  s.  6,  note  6)  :  'standesrecht  i.  e.  dingliche  gruudlage 
für  dasselbe'.  — 

Zum  rechten  Verständnis  dieser  clausel,  die  offenbar  den 
vorbehält  eines  (vertragsmäfsigen  oder  urkundlich  festgelegten) 
rechts  2  darstellt,  muss  vorerst  auf  stand  und  geschlecht  der  Rihni 
eingegangen  werden,  worauf  bislang  keine  Untersuchung  rücksicht 
genommen  hat3.  Homeyer  uud  seine  nachfolger  erklärten  es 
trotz  des  prädicats  'nobilissima  femina\  das  ihr  in  der  Urkunde 
beigelegt  wird,  für  fraglich,  ob  sie  zu  einer  edlen  familie  gehörte 
(s.  32,  note  36);  zu  der  auffallenden  erscheinung,  dass  eine  frau 
besitzerin  des  handgemals  war,  vermutete  Homeyer  (s.  43  note  66), 
es  sei  entweder  nach  schwertmagen  an  sie  gefalleu,  oder  was 
wahrscheinlicher,  dass  sie  aus  ihrem  früheren  besitzt  um  ein  stück 
aushob,  das  ihren  stand  und  ihr  heimatsrecht  in  dem  bezirke  für 
sie  und  ihre  nachkommen  festhalten  sollte.  —  die  sache  ligt  völlig 
anders.  Rihni  (auch  Rihina  genannt)  war  die  gattin  des  grafen 
im  Chiemgau  Uodalbert  (residenz  :  Rohrdorf?),  der  von  seiner 
grafschaft  aus  923  auf  den  erzbischöflicheu  stuhl  von  Salzburg 
berufen    wurde    und    nach  12  jähriger  regierung,    in    der  er  sich 

1  wol  Grofs-Holzhausen  im  bezirksamt  Rosenheim. 

2  der  anthmallus  legitimus  geht  sicherlich  aus  demselben  grund- 
gedanken  hervor. 

3  über  Rihnis  bezw.  Uodalberts  familie  handeln  Seb.  Dachauer  Ober- 
bayr. archiv  für  vaterl.  gesch.  bd  2  (München  1840),  s.  367—369;  AQuitz- 
mann, ebda  bd  32  (1872—1873),  s.  104. 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT         341 

besonders  eifrig  um  die  mehrung  des  kirchlichen  grundhesitzes 
und  seine  arrondierung  bemühte,  am  14  novemher  935  starb, 
er  hatte  mit  seiner  gattin  zwei  söhne  :  Diotmar  (930  'D.  filius 
Odalberti',  Juv.  153.  161;  4D.  et  filius  eius  Paldrih',  ebda  170; 
927  4D.  o  filio  Rihni',  ebda  147)  und  Beruhard  (931  'consauguineus 
archiepiscopi',  ebda  164  f;  931  'Diotmar  et  Peru  hart  frater  eius', 
ebda  165  uö.)  —  der  letztere  war  schirmvogt  der  salzburgischen 
stiftsgüter  im  Chiemgau  —  und  drei  töchter  :  Heilrat  (verm.  mit 
dem  früh  verstorbenen  grafen  Dietrich  zu  Tüssling),  Alte  (verm.  mit 
dem  gaugralen  Olachar  zu  Hohenaschau;  nobilis  vir  0.,  verm.  mit 
Alte,  Juv.  162;  tochter  Rihni,  ebda  164)  und  Susanne  (verm.  mit 
dem  grafen  Rafolt).  aus  welchem  geschlechte  Rihni  selbst  stammte, 
ist  nicht  bekannt,  jedesfalls  hatte  sie  aber  eine  gleichnamige 
Schwester  :  Rihni  monialis  (Juv.  160  f,  von  938).  vor  938  ist 
sie  gestorben.  * 

Hieraus  folgt,  dass  Rihni  nur  dadurch  in  den  besitz  der 
familiengüter  sowie  des  handgemals  gekommen  war,  dass  ihr  gatte 
durch  den  nachträglich  gewühlten  geistlichen  stand,  durch  den  er 
zu  lebzeiten  von  seiner  familie  getrennt  war,  seinen  stammbesilz 
nicht  verwalten  konnte,  diese  aufsergewöhnliche  rechtslage  legt 
freilich  einen  anderen  sinn  des  wortes  lex  nahe,  nämlich  = 'gesetz- 
licher anteil',  wie  er  aus  den  Leges  Grimoaldi  reg.  Langobard. 
cap.   5    (MGLeges    iv    401 a)    erhellt   :   simililer  et   si  filiae    legi- 

timae et   si  filii  naturales  ....  fuerint,    habeant    legem 

suam  usw.  indessen  ist  doch  die  oben  gegebene  deutung  'lex  =» 
testamentum'  wahrscheinlicher,  da  sie  der  Übersetzung  hantgimali 
eher  entspricht,  dazu  vergleiche  man  noch  die  erklärung  Augustins 
zu  ps.  77,  5  (et  suscitauit  testimonium  in  lacob  et  legem  posuit  in 
Israhel)  :  ila  lex  et  testimonium  duo  sunt  nomina  rei  unius,  was 
Notker  übernimmt  :  selbiu  diu  ea  (lex)  uuas  daz  ürchünde  (testi- 
monium). — 

Eine  schwierige  glosse  in  einem  codex  des  ehemal.  bene- 
dictinerklosters  SEmmeram  zu  Regensburg  aus  dem  12  jh. 
(München,  cod.  latin.  14  628)  bringt  zu  einer  stelle  im  Correclor 
des   Burchard   vWorms    (cap.  46  =  Burchards   Decrete   xix  39) 

1  MGNecrol.  n  14  (nr  35,  z.  11),  40  (nr  100,  z.  5.  8)  und  41  (nr  101, 
z.  2)  werden  im  ältesten  verbrüderungsbuch  von  SPeter,  9—10  jh.,  vier 
frauen  des  namens  Rihni   verzeichnet. 


342  SCHÖNHOFF 

ebenfalls  unser  wort,  der  betreffende  Canon  Poeniteut. 1  lautet: 
'Rapuisti  uxorem  tuam  et  vi  sine  vohmtate  mulieris  vel  parentum, 
in  quorum  mundiburdio  tenebatur,  illam  adduxisti?'  mundiburdio 
ist  glossiert  mit  hantgemehele  (Ahd.  Glossen  iv  342,  1 — 2);  am 
rande  steht  dann  noch  :  hantgemehele  (-hele  übergeschrieben)  mun- 
dicia  libertatis.  vel  liber  a  Servitute,  da  rmmdiburdmm,  eigent- 
lich =  tuitio,  schütz,  vogtei  überhaupt,  an  unserer  stelle  in  der 
präcisen  bedeutung  'Vormundschaft  der  eitern'  gebraucht  ist,  kann 
der  glossator  das  wort  nicht  im  Zusammenhang  des  satzes  als 
hantgemehele  aufgefasst  haben  ;  dagegen  spricht  auch  die  weit- 
läufige anmerkung  am  rande,  die  die  undeutliche  glosse  offenbar 
erklären  soll,  mundicia  libertatis  ist  die  ungetrübte,  unanfecht- 
bare freiheit  (eig.  'reinheit  der  freiheit'),  wie  in  der  Lex  Salica, 
2  Variante  (ed.  Behrend2  s.  166)  mundus  vom  freien  in  gleicher 
bedeutung  angewant  wird2,  der  glossator  muss  aiso  mundi- 
burdium,  das  er  aufser  dem  Satzzusammenhang  nahm,  als  schütz 
bezw.  Schutzurkunde 3  i.  e.  der  freiheit  genommen  haben,  in 
diesem  sinne  freilich  scheint  mundiburdium  in  der  mittellateinischen 
litteratur  nicht  vorzukommen;  wol  aber  kennt  die  mittelalterliche 
geschichte  das  mundiburdium  als  vogtei,  gerichtsbarkeit,  wie  zb.  den 
Stiftern  Salzburg  und  Passau  das  mundiburdium,  dh.  die  weltliche 
gerichtsbarkeit  über  ihre  Untertanen  in  Österreich  und  Steiermark 
von  Karl  dem  Dicken  und  Aruulf  (9  jh.)  verliehen  worden  war. 
wäre  hantgemehele  gleich  diesem  mundiburdium,  wofür  aber  kein 
beweis  gegeben  werden  kann,  umsoweniger,  als  die  anderen  stellen 
nicht  zu  dieser  bedeutung  stimmen,  so  könnte  hierher  vielleicht  das 
hantgemahele  der  edlen  in  der  Vorauer  Genesis  gehören,  die 
natürlich  —  im  gegensatz  zu  den  gemeinfreien,  die  nur  freien 
landbesilz  haben  —  die  gerichtsbarkeit  ausüben.  dass  diese 
gerichtsbarkeit  hier  —  wie  beim  anthmallus  und  mndd.  hantgemdl  — 
hereinspielt,  ist  wol  möglich. 

1  FWHWasserschleben  Die  bufsordnuDgen  der  abendländ.  kirche  nebst 
einer  rechtsgeschichtl.  einleitung  (Halle  1851)  s.  64t. 

2  ....  si  ex  paterna  genealogia  mallatur,    adhibeat   ex  materna 

progenie  [septem]   testes  .  ...  et  ex  paterna  quattuor  (und  umgekehrt) 

[ita  ex  q]ua  parte  mundior  est,  ex  ipsa  parte  plus  dabit  testes. 

3  auch  Homeyer  (s.  8)  stellt  mundiburdium  mit  'handfeste'  gleich, 
freilich  ohne  den  Zusammenhang  der  stelle  zu  kennen,  als  beleg  führt  er 
aus  iMabillon  einen  autor  des  11 — 12  jh.s  an  :  praecepla  vel  mundiburdia 
magnatum  et  saecularium  potestalum. 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT         343 

Während  die  bislang  besprochenen  stellen  auf  bairischem 
boden  ausschliefslich  den  vertrag  bezw.  die  vertragsurkunde  beim 
handgemal  betonen,  weist  der  Falkensteiner  codex  von  1193  bereits 
den  Übergang  zum  inhalte  des  Vertrages,  dem  gemeinsamen  stamm- 
besitze, auf.  die  darslellung  dieses  wertvollen  traditionsbuches 
lässt  uns  einen  tieferen  blick  in  das  wesen  und  die  bedeutung 
des  handgemals  tun,  als  es  bei  den  erwähuungen  in  glossen, 
Urkunden  und  litterarischen  Schriftwerken  möglich  ist;  hier  setzt 
eben  der  Schreiber  beim  publicum  eine  genauere  kenntnis  voraus, 
während  graf  Siboto  vFalkeustein  und  INeuburg  lür  die  folgezeit 
schrieb,  also  dies  rechtsinstitut  genauer  bezeichnen  musste.  der 
Wortlaut  ist  folgender  (fol.  2a1;  Mon.  Boica  vn  434  ;  Drei  bair. 
traditionsbücher  aus  dem  12  jh. ,  festschr. ,  edd.  Hans  Petz, 
dr  Hermann  Grauert  uud  JohMayerhofer,  München  1880,  s.  3): 

De  predio  libertatis  sue  notutn  sit  omnibus,  qualiter  actum 
sit,  quomodo  illud  testimonio  optimal  coram  Ottone  palatino  situm 
apud  Giselbach  possidendum  iure  perenni,  eo  quod  senior  in 
generatione  illa  videatur.  Hnius  rei  testes  sunt  :  Ruodpreht  Wolf 
de  Pochsberch,  Chuono  de  Megelingin,  Pabo  de  Eringen,  Alber  de 
Brucgeberc1,  Sigiboto  de  Antwrte,  Gebehardus  comes  Hallensis, 
Dielricus  de  Slibingen,  Otto  de  Mösen,  Ortolf  de  Kekingen  et  alii 
nobiles  viri  shefen  scilicet  et  dinclüte.     Acta  sunt   hec  Möringin3. 

De  cyrografo. 

Ne  igitur  posteros  lateat  suos  cyrographum,  quod  teutonica 
lingua  hantgemalehe  vocatur,  suum  videlicet  et  nepotum  suorum 
filiorum  scilicet  sui  fratris,  ubi  situm  sit,  ut  hoc  omnibus  palam 
sit,  hie  fecit  subscribere  :  cyrographum  illud  est  nobilis  viri  mansus, 
sittus  est  apud  Giselbach  in  cometia  Morsfuorte;  et  hoc  idem 
cyrographum  obtinent  cum  eis  Hunespergere  et  Prucchepergere. 

Für  die  Interpretation  unseres  documentes  kommen  vor 
allem  vier  stellen  in  betracht:  1)  De  cyrografo.  Ne  igitur  pos- 
teros  lateat  suos  cyrographum  ...  —  2)  De  predio  libertatis  sue 

1  am  rande  des  blatles  ist  eine  offene,  flache  hand  (mit  ärmel) 
gezeichnet,  die  nach  dem  texte  hinweist. 

2  im  codex  :  Brungeber.  —  die  Verbesserung  stammt  von  FChrHöger 
Kleine  beitrage  zur  bestimmung  und  erklärung  der  im  cod.  Falkenst.  etc. 
vorkommenden  personen-  und  Ortsnamen  (progr.  Freising,  1882)  s.  1 
(Brucceberc), 

3  etwa  um  1180. 


344  SCHÖNHOFF 

.  .  .  nobilis  viri  mansus.  —  3)  sittus  est  apud  Giselbach  in  cometia 
Morsfuorte.  —  4)  et  hoc  idem  cyrographum  oblinent  cum  eis 
[der  familie  der  Falkeosteiner]  Hunespergere  et  Prucchepergere. 
die  gemeine  deutuüg  vou  1  und  4,  die  von  Homeyer  herstammt 
und  nach  ihm  trotz  vereinzelten  hedenken  einiger  forscher  immer 
festgehalten  ist,  wird  sich  im  verlaufe  der  Untersuchung  als  ver- 
fehlt herausstellen. 

Was  ist  cyrografum?  seiner  theorie  zu  liehe,  die  das  hand- 
gemal  von  der  hausmarke  ableitete,  erklärte  es  Homeyer  für  das 
handzeichen  des  grafen  vFalkenstein,  das  an  dem  nobilis  viri 
mansus  angebracht  war  und  sein  eigentumsrecht  an  diesem  kenn- 
zeichnete, auch  Gengier  (Ein  hlick  auf  das  rechtsleben  Bayerns 
usw.  s.  8)  schreibt  :  'marke,  am  gute  angebracht,  ist  cyrografum', 
—  obgleich  er  anderswo  (ebda  s.  27,  note  47)  richtig  bemerkt  : 
'der  ausdruck  cyrographum  begegnet  übrigens  in  anderen  stellen 
des  salbuchs  in  der  gewöhnlichen  bedeutung  von  Urkunde',  um- 
gekehrt stellt  AQuitzmann  (Oberbayr.  arch.  32,  119)  diese  anderen 
erwähnungen  des  cyrografum  der  an  unserer  stelle  in  der  be- 
deutung 'hantgemahele'  gleich,  während  Meister  (aao.  s.  399) 
cyrografum  (=  hantmal)1  für  eine  falsche  Übersetzung  von 
hatitgemahele  hält,  die  durch  die  ähnlichkeit  der  beiden  deutschen 
worte  hervorgerufen  sei. 

Chirographum  (ciro-,  cyrografum)  wird  in  allhochdeutschen 
glossen  widergegeben  mit  hantkiscrip  —  edho  hantmal2  — (Glossen i 
170,  17 — 18;  ii  302,  29  :  hantgiscrip)  und  hantfesti  (ebda  i  773, 
7.  in  163,  34.  414,  79.  iv  307,  1);  auch  die  Murbacher  Hymnen 
(9  jb.)  bringen  die  gleiche  Übersetzung  :  a  chirographo,  fona 
luzzilemu  kascribe  (x  3,  4  ed.  Sievers  41) 3.  eine  glosse  um  1300 
setzt  die  bedeutung  des  chirographum  weitläufiger  auseinander: 
cirographum  cautio  manu  debitoris  scripta  uel  cirographum  est 
scriptum  quo  confirmatio  pacti  certa  manet.  uulgariter  hantfesti. 
exemplar  huius  scripti  dicitur  antigraphum  (A  Holder  Zs.  f.  d. 
wortf.  v  6).  im  hochstift  Würzburg  wurden  die  hochstiftischen 
zinsbauern  (SKiliausleute)  in  besondere  Verzeichnisse,  cyrographa, 

1  über  kantmal  vergl.  den  excurs  am  ende  des  capitels. 

2  edho  hantmal  nur  im  Sangaller  codex  9 LI  (8  Jh.).  der  Pariser  und 
Reichenauer  codex  haben  nur  hantcascrip  (hentikdcrip). 

3  Dieffenbach  123 a;  Nov.  gloss.  92  b.  93 a  aufserdem  noch  Schuldbrief. — 
vergi.  Du  Cange  n  308 b  ff. 


HANDGEMAL  ILND  SCiHYURDRUDERSCHAFT         315 

eingetragen  (Geogler  Die  verfassungszustäude  im  bayeriscfaeo 
Franken  bis  zum  beginn  des  13  jh.s  [Erlangen  und  Lpz.  1894] 
s.  78).  eine  Urkunde  biscboi'  Embricbos  von  1141  bringt  folgende 
stelle  :  servicio  beati  Kyliani  marliris  mancipati  sunt  in  vetu- 
stissimo  cyrographo  suo  .  .  .  (Mon.  Roica  xxxvn  59.  60).  der  Falken- 
steiner codex  endlich  kennt  das  wort  in  gleicher  bedeutuog 
'urkunde,  handfeste'  auf  fol.  21 a  (Mon.  Roica  vn  469.  Traditions- 
bücher s.  24)  :  Sciant  ttniversi  scire  cupientes,  ubi  reposita  sint 
noslra  cyrographa  de  advocatiis  nostris  conscripta  :  quod  unum 
videlicet  est  apud  senatum  Pelrum  Maderane  de  advocalia  Chimis- 
sensis  monaslerii  conscriptum ;  illud  autem  cyrographum,  quod  est 
de  aduocatia  monasterii  saneli  Petri  Maderane  conscriptum,  in 
monasterio  Chimissensis  ad  clerkos  querendnm  est.  am  reebten 
rande  findet  sich  hier,  mit  der  feder  gezeichnet,  die  abbildung 
eines  länglichen  zetteis,  mit  eingeschriebenem  cyrographa  und 
aufgelegter  band.  Aventinus  gibt  als  deutsche  fassung  :  Hantuesti 
ubir  des  grauin  Siboti  vogitaigi  :  der  ist  ainu  uf  santi  Petersbergi 
von  der  vogitaigi  zi  Kiemisse;  diu  hantveste  von  der  vogitaigi 
santi  Petirsbergi  diu  ist  zi  Kiemisse. 

Wenn  also  auf  fol.  21a  cyrografum  wie  überall  im  mittel- 
alterlichen lateiu  'urkunde'  bedeutet,  so  muss  es  auch  an  unserer 
stelle  fol.  2a  in  diesem  sinne  gefasst  werden  und  steht  nun  der 
bedeutung  nach  dem  testamentum,  lex  und  mundiburdium  gleich, 
es  ist  eine  Vertragsurkunde  über  den  besitz  des  freien  gutes  und 
den  rang  eines  freien  bezw.  edlen  herrn.  wenn  es  dann  weiter 
lautet  :  cyrographum  illud  est  nobilis  viri  mansus,  so  kann  dies 
nichts  anderes  heifsen,  als  dass  der  in  der  Vertragsurkunde 
(hantgemahele)  charakterisierte  besitz  eben  der  edelhof  in  Geisel- 
bach ist  —  hier  zeigt  sieh  deutlich  der  bedeutungsübergang  vom 
schwurvertrag  {testamentum)  und  der  darüber  aufgesetzten  Urkunde 
{lex,  mundiburdium,  cyrographum)  zum  freien  gruudbesitz,  stamm- 
bezw.  sippengut  (nobilis  viri  mansus),  den  die  Urkunde  verzeichnet, 
und  der  seinerseits  wider  die  freiheit  des  besitzers  sicherstellt 
(predium  Über  tat  is  swe). 

Graf  Sibotos  handgemal  —  um  auch  den  grundbesitz  so 
zu  nennen  —  befand  sich  zu  Geiselbach  in  der  grafschaft  Mors- 
fuorte  (-fuorte  bair.  form  für  -fürte),  diese  fast  unbekannte 
grafschaft  —  Otto  v  vWittelsbach  safs  in  der  grafschaft  Morsfuorte 
zu  gericht    (Heigel    und    Riezler   Das    herzogtum  Rayern    zur  zei1 


346  SCHÖNHOFF 

Heinrichs  lies  Löwen  und  Ottos  i  vWittelsbach  [München  1867] 
s.  296 f)  —  verlegt  man  meist  in  das  gebiet  der  beiden  orte 
Moosen  a.  Vils  uud  Furten  a.  Isen,  östl.  von  Erding  (im  Wester- 
gau),  und  identificiert  Giselbach  mit  einem  der  beiden  dörfer 
Ober-  und  Unter-Geiselbach  (zwischen  Erding  und  Dorfen  a.  Isen)  K 
Die  wertvollste  aussage  des  Falkensteiner  salbuches,  die  den 
angelpunct  dieser  Untersuchung  darstellt,  bedeuten  die  schluss- 
worte  des  capitels  'De  cyrografd :  hoc  idem  cyrographum  obtinent 
cum  eis  Hunespergere  et  Prucchepergere.  die  forscher  giengen  von 
der  Voraussetzung  aus,  dass  das  handgemal  im  besitz  6iner 
familie  sei,  uud  schlössen  aus  dieser  —  völlig  unbewiesenen  — 
prämisse,  dass  die  beiden  genannten  familien  nebenlinien  der 
Falkensteiner  sein  müsten  :  so  Homeyer  (s.  19)  und  Wittich  (aao. 
s.  38).  auch  Zöpfl  (Heidelberger  jahrb.  64,  173)  gibt,  wenn  auch 
zweifelnd,  zu  :  'gemeinsames  stammgut  mehrerer  adeliger  familien, 
die  sonach  alle  demselben  stamme  entsprossen  zu  sein  scheinen'. 
—  die  beiden  in  betracht  kommenden  familien  sind  die  edlen 
herren  vllaunsperg2  (bei  Laufen,  Salzburg)  und  vBruckberg3  (a.  d. 
Isar,  grafsch.  Moosburg),  der  erste  urkundlich  erwähnte  Hauns- 
perger  ist  Fridericus  dellounsperch,  1093  unter  den  nobiles 
zeuge  einer  tradition  des  erzbischofs  Thiemo  vSalzburg  an  das 
kloster  Admont   (Juvavia   113);    zur   zeit   des    codex   Falkenstein. 

1  Freudensprung  Die  im  i  tomus  der  Meichelbeck.  hist.  Frisiog.  auf- 
geführten ....  örtlichkeiten,  (Freising  1856)  s.  20;  Gengier  Ein  blick  auf 
das  rechtsleben   Bayerns  s.  24  note  11;   Höger  aao.  s.  1. 

2  litteratur  :  Bucelinus  Germania  topo-chrono-stemmatographica  sacra 
et  profana  n  (1662)  pars  3,  p.  153;  Zedlers  Univ.-lexikon  xii  815;  Gauhe  Adels- 
lexikon i  793.  794;  Kneschkes  Adelslexikon  iv  246;  vStramberg  in  Ersch  und 
Grubers  Encyklop.,  n  sect.,  3  teil,  s.  151;  wappen  im  neuen  Siebmacher 
vi  1,  s.  15  (tafel  12,  13).  —  alt.  quellen  :  Juvavia  s.  113;  Tradit.-bücher  3. 
18.  28  (Minist.),  39  (dass.),  49  (im  cod.  tradd.  Garz.);  Necroll.  Germ,  n  103. 
130.  150.  183;  Deutsche  Chroniken  in  720,  12.  —  über  die  herschaft  Hauns- 
perg  :  Juvavia  s.  427  anm.  i. 

3  litteratur.  a)  Bruckberg  :  Mon.  Boica  i  365.  399  ;  Trad.-bücher  3; 
Necroll.  Germ,  m  203.  209.  212  (Weihenstephan).  303  (SEmmeram).  362  f. 
363.  365.  367  (Säldental);  Quellen  und  erörterungen  zur  bair.  geschichte 
i  216 f.  217  f.  (Trad.  d.  Stiftes  Obermünster  in  Begensburg).  270  (Berchtesgad. 
tradd.);  Oberbayr.  archiv,  bd  n  tradd.  Moosb.  20.  23.  24.  25.  28.  34.  53.  56. 
99.  135.  138.  148.  214  (Minist.);  vLang  Baierns  alte  Grafschaften  s.  39.  149.— 
b)  Wolf  von  Bocksberg  :  Trad.-bücher  3.  34.  35.  37  f.  38  (sämtl.  Falkenst. 
cod.);  Quellen  und  erörter.  i  90  (SEmmeram.  tradd.).  270.  340  (Berchtesgad. 
tradd.)  ;  Oberbayr.  archiv  aao.  14.  20.  24.  25.  34.  56.  148. 


HANDGEMAL  UND  SCI1WURBRUDERSCHAFT         347 

blühte  Gotescalch  de  Hunsperch,  der  unter  den  nobiles  als  zeuge 
einer  tradition  des  graten  Siboto  vor  1174  auftritt  (fol.  17  a, 
Trad.-büclier  s.  18).  der  letzte  des  freiherrlichen  geschlechtes 
ist  Gotascalcus  .  .  .  liber  homo,  1211  in  einer  Urkunde  erzbischof 
Eberhards  n  vSalzburg  (Juvavia  s.  427  anm.  i).  der  1266  er- 
scheinende Heinrich  vllaunsperg,  mit  dem  die  ununterbrochene 
stammreihe  beginnt,  gehört  dem  ministerialengeschlechte  an,  das 
mit  Witigo  de  Hunsperch  um  1182  zuerst  urkundlich  bezeugt 
ist  (codex  Falkenstein,  fol.  23 r,  33 a  =  Trad.-bücher  28.  39) l. 
1654  wurde  die  familie  in  den  grafenstand  erhoben,  erlosch  aber 
bereits  am  9  jan.  1724  in  weiblicher  linie  mit  Maria  Katharina 
gräfin  vKönigsfeld,  geb.  gräfin  vllaunsperg,  auf  deren  grabstein 
das  familienwappen  gestürzt  eiugemeifselt  ist.  —  die  Bruck- 
berger  sollen  mit  den  Wolf  vBocksberg  eines  Stammes  sein 2. 
Friedrich  vBruckberg  (1140 — 1150)  und  sein  bruder  Albero  (um 
1180;  verm.  mit  Ephemia),  wie  Adelbero  Wolf  vBocksberg  (1133 — 
1140;  verm.  mit  Mechlildis)  und  sein  bruder  Ruprecht  scheinen 
die  ältesten  beider  familien  zu  sein,  deren  namen  uns  in  Urkunden 
überliefert  sind,  bis  in  das  14  und  15  jh.  hinein  treten  uns 
mitglieder  der  familie  vBruckberg  in  nekrologen  bairischer  klöster 
entgegen.  —  aus  diesen  kurzen  bemerkungen  geht  klar  und 
deutlich  hervor,  dass  die  grafen  vFalkenstein  und  Neuburg3,  die 
zuerst  im  11  jh.  mit  namen  genannt  werden,  unmöglich  eines 
Stammes  mit  den  freiherru  vllaunsperg  und  vBruckberg  sein 
können  :  ihre  Stammsitze  in  drei  verschiedenen  gauen,  verschiedene 
wappen  und  verschiedene  personennamen  sprechen  gegen  eine 
solche  annähme.  —  wenn  nun  aber  die  drei  geschlechter,  die 
an  dem  handgemal  zu  Geiselbach  teil  hatten,  in  keinerlei  verwaut- 
schaft  zu  einander  stehn,  so  muss  daraus  die  notwendige  folgerung 
gezogen  werden,  dass  das  handgemal,  wie  schon  oben  aus  der 
anwendung  des  wortes  im  Heliand  geschlossen  wurde,  nicht  im 
besitz  einer  familie  ist,  sondern  das  gemeinsame,  urkundlich  be- 

1  vStramberg  aao.   machte  zuerst  auf  diese  tatsache  aufmerksam. 

2  vgl.  Quellen  und  erörterungen  i  216 ,  note  2  (1856)  und  Höger  aao. 
s.  1  (1882). 

3  Genealogia  Comitum  de  Neuburg  et  Falkenstein  (Tegernsee  18U2). 
widerholt  bei  Petz.  —  manche  gelehrte  setzen  unser  grafengeschlecht  mit 
den  grafen  vAndechs  und  Diessen  in  verwantschaft,  was  nicht  wahrschein- 
lich ist. 


348  SCHÖNHOFF 

siegelte  Vorrecht  mehrerer  edler  lamilien  darstellt,  die  verschiedenen 
sippeu  angehören,  sich  aber  in  einem  schwurvertrage  zu  be- 
stimmten zwecken  —  wobei  der  gemeinsame  besitz  eine  wichtige 
rolle  spielte  —  vereinigt  haben,  die  definition  entspricht  ebenso 
wie  die  Übersetzung  'teslamentum  —  lex'  vollkommen  der  etymo- 
logischen bedeulung  des  wortes  hantgemahele. 

Die  aus  dem  codex  Falkenstein,  ermittelte  ursprüngliche  form 
des  handgemals  führt  uns  durch  den  langobardischen  anthmallus 
des  9jh.s  und  eine  stelle  im  Langobardischen  gesetzbuch  des  7  jh.s 
auf  eine  ausschliefslich  germanische  sitte,  die  neben  dem  natür- 
lichen sippenverbande  noch  einen  eidlichen  treuverband  von 
männern  verschiedener  sippen  kannte,  die  bundes-  oder  schwur- 
bruderschaft.  auf  nordischem  boden  reich  entwickelt  (föstbrüpralag) 
und  bei  den  Angelsachsen  wenigstens  bekannt,  war  sie  bislang 
bei  den  übrigen  germanischen  stammen  nur  für  die  Langobarden 
dem  namen  nach  bezeugt,  also  für  das  volk,  das  nach  dem 
zeugnis  der  extravaganten  von  Ivrea  noch  im  9  jh.  die  letzten 
reste  des  handgemals  kannte,  die  leges  Rothari  regis  cap.  362 
(MGLeges  iv  389 b)  haben  uns  die  benennung  der  durch 
Schwurbruderschaft  verbundenen  männer  erhalten  :  Si  aliquis 
de  .  .  .  sacramentalibus  mortnus  fuerit,  potestatem  habeat  ille  qni 
pulsat,  in  loco  mortui  similem  twminare  de  proximis  legitimus, 
aut  de  naturalibus,  aut  de  gamalis  i.  e.  confabulatis.  fabula  ist 
pactum,  cotwentio;  confabulati  sind  zb.  die,  qui  ex  fabula  seu 
foedere  nuptiali  orti  sunt  (Du  Cange  n  493c  und  m  387 a).  der 
name  gamahalos l  für  'schwurbrüder'  entspricht  dem  namen  für 
den  zwischen  ihnen  eidlich  geschlossenen  treu-  und  schutzvertrag, 
hantgimahili,  der  den  gemeinsamen  besitz  der  vertragsgenossen 
sicherte,     über  die   Schwurbruderschaft  im  einzelnen  vgl.  cap.  4. 

Durch  diese  Verknüpfung  der  germanischen  schwurbruder- 
schaft  mit  den  laugobardischen  gamahalos  und  den  bislang  be- 
sprochenen bairischen  stellen  ist  die  definition  des  Falkensteinschen 

1  zu  gamahalos  vgl.  Brückner  Sprache  d.  Langobarden  §  10,  QF.  75,4t 
und  Wörterb.  s.  v.  ga?nahal.  die  hs.lichen  formen  gamaalos  und  gamalos 
mögen  zt.  aus  der  Vulgärlatein.  Orthographie  stammen,  die  ein  h  regellos 
setzte,  zt.  auch  spätere  langobard.  Sprachentwicklung  sein.  Brückner  aao. 
§  82,  s.  160 ff;  Diez  Roman,  gr.  i  275  f. 


IIANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT  349 

handgemals  gegeben  als  :  'das  zwei  oder  mehr  durch  schwur- 
bruderscbaft  vereinigten  edlen  gescblechlern  gemeinsame  eigen 
von  der  mindestgröfse  einer  hufe1,  dessen  Verwaltung  dem  jeweilig 
ältesten  jedes  geschlechtes,  bezw.  eines  bevorzugten  geschlechles 
unter  den  vertragsgenossen,  auf  lebenszeit  obligt,  und  dessen 
urkundlich  fixiertes  eigentumsrecht  den  beteiligten  familien  die 
volle  herrenmäfsige  Freiheit  sichert'.  — 

Das  gleiche  schwanken  zwischen  Urkunde  und  urkundlich 
garantiertem  besitz  bezw.  freiheit  wie  der  codex  Falkenstein, 
zeigt  auch  die  stelle  in  der  Vorauer  Genesis2  (JDiemer  Deutsche 
gedichte  des  11  und  12  jh.s  [Wien  1849]  s.  15,3),  wo  von  den 
söhnen  Noes  als  den  ahnherrn  der  drei  stände  (edle,  freie  und 
ministerialen)  gesprochen  wird  : 

daz  sin  deu  dreu  geslahte, 

den  gestellt  mit  durnahte: 

einez  daz  ist  edele, 

di  hont  daz  hantgemahele; 

di  andere  frige  lüte 

di  tragent  sich  mit  gute; 

di  driten  daz  sint  dinestman, 

also  ich  uirnomen  han, 

darunder  tourden  chnehte. 
Die  Verwendung  des  bestimmten  arlikels  (di  haut  daz  hant- 
gemahele) beweist,  dass  der  Verfasser  nicht  an  das  einzelne  gut 
dachte,  sondern  an  das  gesamte  institut,  an  das  —  für  einen 
teil  Baierns  wenigstens  —  der  stand  der  edlen  gebunden  war. 
die  Genesis  mag  in  Kärnten  entstanden  sein  (JGrimm  Kl.  sehr,  v 
280;  Scherer  QF  i  60);  woher  aber  der  dichter  stammte,  ist 
fraglich,  der  erste  prälat  von  Vorau,  Luitpold  (f  1185),  war  früher 
domherr  in  Salzburg  gewesen,  und  vor  seiner  berufung  in  das 
neugegrilndete  stift  dechant  in  Seckau.  sicherlich  stammt  die 
kenntnis  des  handgemals  in  unserer  Genesis  aus  bairischen  oder 
salzburgischen  landen. 

1  viansus  huoba;  Ahd.  glossen  in  117,  43.  212,  46. 

2  erhalten  in  einer  Vorauer  hs.,  die  unter  dem  ersten  prälaten  Luitpold 
(1164—1185)  geschrieben  wurde.  —  über  Vorau  vgl.  Augustin  Rathofer  Das 
chorherrenstift  Vorau  in  Steiermark,  in  SebBrunners  Chorherrenbuch  (Würz- 
burg und  Wien  1883)  s.  638—680. 


350  SCHÖNHOFF 

B.    'Nobilis     viri     mansus,     curtilis    locus,     particula 

proprietatis'. 
Falkensteiner  und  Vorauer  handgemal  schillern  noch  zwischen 
der  bedeutung  des  Schwurvertrages  und  des  durch  ihn  gewähr- 
leisteten gemeinbesitzes.  dagegen  scheinen  drei  salzburgische 
Urkunden  aus  dem  10  jh.  (Juvavia  155.  175.  194),  tauschverträge 
aus  der  zeit  erzbischof  Uodalberts  n  (923 — 935)  und  eb.  Friedrichs 
(963 — 976),  nur  das  sippen-  bezw.  stammgut  zu  meinen,  wenn 
auch  wegen  der  knappen  Schilderung  kein  sicheres  urteil  gegeben 
werden  kann,  am  27  märz  925  tradiert  der  edle  Gaganhard  dem 
erzbischöflichen  stuhle  seinen  besitz  im  Isengau  bei  Beriesheim, 
ldger.  Mühldorf :  proprietatem  suam  quam  in  hnagouue  ad  Pal- 
drichesheim  totam  quam  habere  Visus  est;  nur  einen  teil  seines 
gutes  nimmt  er  aus,  der  auf  deutsch  'handgemal'  heifst  :  verum 
etiam  quod  pre?nisit  sibi  particulam  proprietatis  quod  hanikimahili i 
vulgo  dicitur.  zum  ersatz  überträgt  der  erzbischof  ihm  eine  ver- 
lassene hufe  in  aquiloni  plaga  montis  Hegilonis  (zwischen  dem 
Staufen  und  Salzburg).  —  zur  selben  zeit  ungefähr  überträgt  der 
edle  Uodalhard  dem  erzbischof  in  einer  undatierten  Urkunde 
sieben  hufen  in  Ergoldsbach  :  ad  Ergeltespach  hobas  vn,  in  recompen- 
sationem,  et  omne  videlicet  territorium  quod  ibidem  visus  est  habere, 
aufser  einer  hofstalt  im  westen,  die  auf  deutsch  'handgemal* 
heifst,  exceptis  in  unaquaque  parte  quam  celga  vocamus  jugeribus 
tribus  et  uno  curtili2  loco  ad  occidentalem  partem  quod  vulgo 
hanikimahili  vocamus.  als  ersatz  tradiert  der  erzbischof  seine 
besilzungen  in  Weidenbach  a.  Isen.  —  endlich  erscheint  das 
handgemal  —  wenn  auch  nicht  ausdrücklich  mit  namen  genannt 
—  in  einer  tauschurkunde  aus  der  zeit  erzbischof  Friedrichs 
vSalzburg  (963 — 976),  wo  der  edle  Luidolf  dem  erzbischöflichen 
stuhle  sein  gut  in  Hüttich  (am  Wallersee,  Salzburg)3  überträgt, 
sich  aber  einen  teil  zum  schütze  seiner  freiheit  vorbehält  (tale 
praedium  quäle  habuit  in  loco,  qui  dicitur  Uticha  .  .  .  et  dempsit 
partem  unam  pro  libertate  tuenda).  die  auffassung  des  hand- 
gemals  als  schütz  der  freiheit  und  die  wähl  des  wortes  tueri 
decken  sich  mit  der  glosse    mundiburdium-hantgemehele  (mundib. 

1  hs.  hantkirnahili. 

2  curtile  houestat;  Ahd.  glossen  in  124,  67.  209,  60.  229,  61.  —  vgl. 
Kleimayrn  Juvavia  s.  294;  Homeyer  s.  34 f;   Zöpfl  Heidelberger  jbb.  64,  174, 

3  Luschin  vEbengreuth  aao.  s.  79,  note  30. 


HANDGEMAL  UND  SCHWURBRUDERSCHAFT         351 

=  tuitio),    sodass  die  bei    der  besprechung  der  glosse  versuchte 
erkläriiDg  noch  durch   unsere  Urkunde  bekräftigt  wird. 

Es  ist  wol  wahrscheinlich,  dass  auch  andere  bairische  edel- 
geschlechter,  zb.  der  weitverzweigte  stamm  der  Scheyern,  siel» 
eines  handgemals  rühmen  konnten;  die  bürg  Scheyern  aber 
(mons  et  castrum  Scltyren  non  ab  uno  vel  duobus  prineipibus,  seil 
a  pluribus  communis  habilabatur  MGScriptores  xvn  620,  29 IT), 
die  Heusler  (aao.)  als  handgemal  des  geschlechtes  in  anspruch 
nehmen  will,  scheint  nicht  diesen  Charakter  gehabt  zu  haben, 
zur  zeit  der  Stiftung  von  kloster  Scheyern  (11 19) 1  war  das 
handgemal  in  Baiern  noch  lebendig,  und  die  edelherren  jener 
tage  behalten  sich  vorsichtig  die  garantie  ihres  herrenstandes  vor, 
wenn  sie  auch  aus  ökonomischen  gründen  andere  guter  um  das 
handgemal  herum  veräufsern.  Stammburg  ist  eben  nicht  = 
'handgemal',  sondern  bei  der  freude  des  mittelalters  an  Symbolen 
genügte  das  mindestmafs  von  landbesitz,  das  ein  freier  sein  eigen 
nennen  muste,  nämlich  eine  hofstatt  und  eine  hufe  landes  — 
wie  die  lex  Baiwar.  xvn  2 2  bestimmt,  und  auf  niederdeutschem 
gebiet  Ssp.  i  34,  §  1  3. 

Diesem  Sprachgebrauch  der  salzburgischen  Urkunden  mag 
nahekommen  die  erwähnung  des  handgemals  in  Wolfram  vEschen- 
bachs  Parzival  6,  19  (ed.  Lachmann): 

sie  gerten,  als  ir  triwe  riet, 

rieh  und  arme,  gar  diu  diet, 

einer  kranken  ernstlicher  bete, 

daz  der  künec  an  Gahmurete 
15.  bruoderliche  triwe  vierte 

und  sich  selben  erte, 

daz  er  in  niht  gar  verstieze, 

unde  im  sines  landes  lieze 

hantgemcelde,  daz  man  möhte  sehen 
20.  da  von  der  herre  müese  jehen 

sins  namen  und  siner  vriheit. 

1  F.  H.  graf  Hundt  Kloster  Scheyern,  seine  ältesten  aufzeichnungeu 
und  seine  besitzungen  (München  1862);  Gengier  Beiträge  z.  rechtsgeschichte 
Bayerns  i  135—139. 

2  Der  eideshelfer  debet  habere  6  solidorum  peeunia  et  similem  agrum 
(MGLeges  m  426,  40  f). 

3  [Der  freie  mann]  behalde  ene  halve  hove  unde  ene  word,  dar  man  enen 
■wagen  uppe  wenden  möge;  dar  af  sal  he  deine  richtere  sines  rechten  pleg